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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-02-0-1
Erste Section > Zweiter Theil > Einleitung > Universitäten
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⇧ S. III    
Forts. S. III Seit dem zwölften Jahrhundert erst begannen in Europa höhere Lehranstalten; vor jener Zeit gab es blos Stifts- und Klosterschulen. Geistliche, damals allein im Besitze der Wissenschaften, waren Lehrer in beiden, und leicht begreift sich daher, daß der ganze Unterricht sich auf Kentnisse beschränkte, die man dem Geistlichen für hauptsächlich wichtig achtete. Nach Teutschland, und zwar nach Fulda, brachte zuerst Rhabanus Maurus (813) aus dem vorangeschrittenen Frankreich den Umfang der damaligen Gelehrsamkeit, und unter ihm erblühte Fulda zu einer der vorzüglichsten Lehranstalten Europa's. Jener ganze Umfang erstreckte sich auf die sieben freien Künste, Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik, wobei also von unsern schönen Künsten nur Eine befindlich ist. Bald wurde zwischen jenen freien Künsten ein Unterschied gemacht, indem man die drei ersteren, als ein Leichteres und Geringeres, unter dem Namen des Trivium (wovon unser Wort Trivial stammt) vorangehen, die vier letzteren, unter dem Namen des Quadrivium, für schon Geübtere folgen ließ. Aus dieser anfänglichen Klassenabtheilung entsprang eine Absonderung der Lehranstalten in niedere und höhere Schulen. Jene nannte man Trivialschulen, diese erhielten die tropische Benennung der Gymnasien. Über fünf Jahrhunderte lang waren Cassiodorus (de artibus ac disciplinis liberalium artium), Isidorus (Origines) und Marcianus Capella (de nuptiis Philologiae et Mercurii et de septem artibus liberalibus) die einzigen Quellen aller Weisheit und gelehrten Bildung.  
  Im zwölften Jahrhundert traten nun Männer auf voll Strebens in eigenthümlicher Geisteskraft, welche zu Paris eine neue Theologie und Philosophie, zu Bologna das Römische und Kanonische Recht, zu Montpellier und Salerno die Arzneikunde lehrten. Weder selbst Geistliche, noch von geistlichen Ge-
S. IV walten berufen, lehrten und lebten sie mit all der Freiheit und Unabhängigkeit, bei welcher allein die Wissenschaften gedeihen konnten, zu deren Ausbildung sie von Natur sich berufen fühlten. Schnell verbreitete sich ihr Ruf über alle Lande Europa's, und aus allen zogen lernbegierig, nicht blos Jünglinge, sondern Männer, zum Theil schon in ansehnlichen Würden stehend, zu ihnen hin, denn überall hatte sich das Bedürfniß höherer wissenschaftlicher Ausbildung fühlbar gemacht. Durch diese Anstalten bildete sich zuerst ein freier Lehr- und Lernverein, keiner klösterlichen Zucht unterworfen. Man nannte solchen Verein erst eine Schule, dann eine hohe Schule, und wahrscheinlich wegen der Lehr- und Lernfreiheit ein Studium. Als bald darauf die Staaten nützlich fanden, diese Anstalten zu privilegiren, wodurch sie aus freien Vereinen zu einer Art von Innungen wurden, beginnt für sie der Name Universitas, womit man nichts bezeichnen wollte als eine Gesamtheit von Lehrenden oder Lernenden oder beider zugleich, wie man denn gewöhnlich auch dies hinzufügte (Universitas magistrorum, Un. scholarium, Un. magistrorum et scholarium). Schon im dreizehnten Jahrhundert aber fing man an, auch von einer Universitas ohne weitere Nebenbezeichnung zu sprechen, und dieser unbedeutend und geringfügig scheinende Umstand war von den wichtigsten Folgen. Wie öfters, so fing auch hier der Name an auf die Sache zurück zu wirken, und es gehörte zu den Kennzeichen, wodurch sich diese Lehranstalten von den übrigen, früheren und gleichzeitigen, unterschieden, daß in ihnen alle erlaubten Wissenschaften gelehrt werden durften und sollten; unerlaubt aber war nur eine, die schwarze Kunst. Hiedurch entwickelte sich zuerst, wenn auch anfangs nur dunkel, die Idee einer universitas literarum als eines Vereinigungspunktes aller Wissenschaften. War gleich der Kreis derselben noch sehr enge und ihre Abtheilung wenig systematisch: das alles mußte sich ändern, so wie die Fesseln des alten Zwanges und der Schulsysteme zerbrochen waren. Ist nur das Denken dem Denker frei gegeben, so ist an den Fortschritten nicht zu zweifeln. Bald erlangten sie den, fortwährend behaupteten, Ruhm, die vornehmsten Vereinigungspunkte aller wissenschaftlichen Erkentniß und gelehrten Sprachkentniß zu seyn: und wer darf sich wundern, daß von ihnen aus eine der bedeutendsten Umwandlungen im Reiche der Geister ausging! Wenn nachher der Kreis der Wissenschaften sich immer erweiterte, kann man leugnen, daß dies größtenteils ihr Werk war? Nicht als ob alle Erfindungen von ihnen ausgegangen wären; allein was irgend im Reich der Geister Neues erfunden oder entdeckt ward, das zogen sie in ihren Kreis, setzten die Forschung des Alten fort, prüften das Neue, benutzten das Gute, so daß nichts für sie verloren blieb, und alles von ihnen mehr ausgebildet, weiter verbreitet wurde. Sie selbst wuchsen von Zeit zu Zeit mehr an; die Lehrstellen vermehrten sich, wie die Wissenschaften sich erweiterten.  
  Was der Zufall geschaffen, konnte freilich nicht ohne Gebrechen seyn: allein der Zufall leistete diesmal so viel, als nur immer planvolle Weisheit hätte ersinnen können. Aus streitenden Elementen war das Ganze zusammengesetzt, mehr ein Haufen als ein Ganzes: der Streit selbst aber mußte dies bewirken.
  Es wäre gleich thöricht, die Fakultäten das Gebrechen der Universität zu nennen, als von jeder einzelnen Wissenschaft zu verlangen, sie solle der Inbegriff aller Wissenschaft seyn: wo aber ist der
S. V Fakultätsgeist und das Studiren in diesem Geiste das Gebrechen, ja der wahre Tod der Universität. Wozu denn eine Universität, wenn alle Wissenschaften nur neben einander bestehen? Wodurch unterscheiden sie sich dann von den écoles speciales, die der größte Despot unsrer Zeit eben so liebte, als er die Universitäten haßte? Er hatte Recht, jene zu wollen und nicht diese, denn schon das Nebeneinanderbestehen aller Wissenschaften hat etwas höchst Bedenkliches für den Despoten, der in dem Humanismus ewig den gefährlichsten Feind fürchten muß: denn wie, wenn das geistige Band sich nun fände, das alle Wissenschaften zu Einem innern Leben vereint? Dann ists gethan um Einschläfern und Abrichten der Geister.  
  In der That aber fand sich jenes geistige Band, und blos dadurch, daß alle Wissenschaften nur erst neben einander waren, denn — um so sicherer geriethen sie in Streit. Jene Fakultäten, das Werk des Zufalls, bildeten gleichsam ein Ober- und Unterhaus. Neben die drei, welche man mit dem Namen der höheren beehrte, hatte man noch eine hingestellt, die man — vorbedeutend genug und doch ahnungslos — die philosophische nannte, blos in der Absicht, daß sie als treue Magd die Herrinnen im Hause wohl bedienen möchte mit allerlei historischem, philologischem, mathematischem, physikalischem, und hin und wieder auch einmal philosophischem Bedarf, etwa mit Logik und Dialektik, denn die sollte zu allen Dingen gut seyn, einige wenige ausgenommen. Nur zu bald fühlte sich aber diese, so seltsam zusammengesetzte, philosophische Facultät, zum Dienen — nicht geschaffen, und bildete eben so bald entschieden eine Oppositionspartei. Lebhaft wurde der Streit, der bald um nichts Geringeres als den Vorrang geführt ward. Haupt- und Grundwissenschaften hatten sich immer die drei höheren Fakultäten gepriesen, Hilfs- und Neben-Wissenschaften nur der philosophischen zuerkannt. Ei, sagte diese, wie kämt ihr doch zu Haupt und Grund, da ihr samt und sonders nur abgeleitete von mir seyd? Wenigstens kann niemand zweifeln, daß ich die Grundwissenschaften habe, und trotz Scheiterhaufen und Kerker wird die Wahrheit über Meinung, Vernunft über Satzung, Natur über Systeme siegen. Wahrheitsforschung, Vernunftergründung, Naturbeobachtung habe ich. Wäret ihr nun doch das Haupt, so mögt ihr wenigstens dem Stamme danken, der euch trägt, und Keiner möge vergessen, daß auch die schönste Krone eines Baumes absterben muß, wenn er von seinen Wurzeln getrennt ward.
  Wer sollte entscheiden in diesem Streite? Nur ein Mann, der, selbst in dem Streite nicht unmittelbar befangen, mit dem praktischen Takt eines Sokrates den Scharfsinn und Überblick eines Aristoteles verband, konnte es. Ein solcher aber trat auf in Baco von Verulam (1561 — 1626), der wenigstens die endliche Entscheidung vorbereitete, als er in seinem, wenn auch in der Hauptsache nicht fehlerfreien, doch an neuen Ideen so reichen, Werke de augmentis scientiarum den ersten encyclopädischen Stammbaum der Wissenschaften aufstellte. Was darin auch fehlerhaft seyn mochte, viel war schon damit gewonnen, daß die Wissenschaften nicht mehr blos registerartig, dem Herkommen nach, aufgezählt, sondern in einen innern Zusammenhang gebracht und aus ihrer gemeinschaftlichen Quelle, dem menschlichen Gemüthe selbst, abgeleitet wurden. Baco nämlich theilte sie ein nach den drei Gemüths-
S. VI vermögen: Gedächtniß, Phantasie und Vernunft, woraus sich ihm die drei Hauptclassen ergaben: Geschichte, Poesie und Philosophie. ⇧ Inhalt 
  Offenbar erscheinen hier die Wissenschaften der philosophischen Fakultät als die Grundwissenschaften, und das mußten sie in dem Grade immer mehr, als, nach immer größerer Verbreitung der klassischen Literatur des Alterthums, die philosophische Fakultät nicht blos die Kentnisse, sondern auch allmählig den Geist desselben sich anzueignen anfing. Hatte man dort gleich positive, d. i. auf Satzungen ruhende, Kentnisse gehabt, von positiven Wissenschaften hatte man nichts gewußt, sondern alle Wissenschaften und Künste waren des, nach Befriedigung der höheren Bedürfnisse strebenden, Geistes freies Erzeugniß. Losgerissen von dem alten Zwange orientalischer Priester-Institute, war hier zum ersten Male für alle Geister das Denken und Forschen frei gegeben, und sie versuchten nach allen Richtungen hin das Heiligthum der Wahrheit und Sittlichkeit zu entdecken. Wenn auch vielfach irrend, ja verirrend sogar, gedieh doch alles durch den Wetteifer des Strebens zu einer vorher nie geahneten Vollkommenheit.
  Die philosophische Fakultät, in dieses Streben selbst immer tiefer hineingezogen, erklärte bald ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit, betrat die Bahn der Griechen, und mußte, diese verfolgend, nothwendig auch zu denselben Resultaten gelangen. Eins der wichtigsten war die immer mehr sich bestätigende Überzeugung, daß innerhalb ihres Kreises alle eigenthümlichen Humanitätsstudien vollständig enthalten waren. Seit langer Zeit hatten die philologischen Wissenschaften allein dafür gegolten, und hatten auch eine Art Vorrecht dazu, da sie eine Literatur verbreiteten, die sich vor allen andern durch humanes Streben auszeichnete. Man nannte die Philologen Humanisten, die philologischen Wissenschaften Humaniora: und kann man freilich nicht behaupten, daß alle Humanisten durch Humanität sich ausgezeichnet hatten, so muß man doch dankbar bekennen, daß ohne ihr Streben die gänzliche Reform vielleicht nie bewirkt worden wäre. Selbst hier wirkte wieder der Name mit, der gar zu sehr an menschliche Ausbildung erinnerte, weshalb denn der Begrif mit der Zeit in weiterem Umfang genommen wurde. Joh. Aug. Ernesti, in vielen Stücken ein Reformator, war es auch hier, denn er bestimmte zuerst in einer eignen Abhandlung vom Jahre 1754 den Umfang der Humanitatsstudien durch Philosophie, Poesie, Beredsamkeit und Geschichte. Dieser Eine Schritt vorwärts zog die andern von selbst nach sich; denn wer hätte sich nun nicht an Cicero‘s berühmtes Wort erinnert, daß alle Wissenschaften, die zu den wahrhaft menschlichen gehören, durch ein gemeinschaftliches Band zusammen hängen und durch Verwandtschaft gleichsam unter sich vereinigt sind? Dies ward jetzt zur Losung für das Streben, den zerrissenen Bund wieder herzustellen. Er ward hergestellt, und in allem, was man zu den Humanitätsstudien rechnen kann, entstand eine höchst bedeutende Veränderung, welche in der Literatur und Kultur aller europäischen Nationen, die entweder früher auf demselben Wege dassele Ziel erreicht hatten, oder an dem jetzigen Streben Antheil nahmen, eine neue Epoche herbeiführte. Dreierlei fing man an immer allgemeiner zu begreifen, daß immer eine Wissenschaft für die andre ein wohlthätiges Licht anzünden und zur Erweiterung und Verbesserung ihres Gebietes kräftig wirken könne, daß die Wissen-
S. VII schaften nicht geschätzt werden dürften nach äußerem Vortheil, sondern nach ihrem Einfluß auf menschliche Bildung, und daß endlich diese Bildung das ganze Wesen des Menschen umfassen, die intellektuellen, moralischen und ästhetischen Vermögen harmonisch vereinigen müsse zum Charakter veredelter Menschheit. Nur diese allseitige Bildung erkannte man für wahre Bildung an. ⇧ Inhalt 
  Was nun von den Universitäten ausgegangen war, das mußte, bei solcher Veränderung der Dinge, unausbleiblich auf sie zurückwirken. Man konnte der philosophischen Fakultät den Besitz der Grundwissenschaften nicht länger bestreiten, und es zeigte sich sogar, daß eben diese Grundwissenschaften auch dieselben Humanitäts-Wissenschaften waren, die sich zum großen Theile nun bereits den Eingang in die ganze Masse der Nation gebahnt und den Geist der Zeit bestimmt hatten. Der Sieg der philosophischen Fakultät war der vollkommenste: wie hätten sich nun die übrigen Fakultäten in ihrer Absonderung behaupten können? Nicht Einfluß nur mußten sie jener auf sich gestatten, sondern einen förmlichen Bund mit ihr schließen, wobei sie so abhängig von jener wurden, als sie dereinst dieselbe von sich gemacht hatten. Keine der positiven Wissenschaften konnte fortan bleiben, was sie gewesen war. Aber auch der ganze Geist der Universität änderte sich, und diese blieb nicht blos eine Lehranstalt für die Gesamtheit der Wissenschaften, wo ein jeder durch einen systematischen Unterricht in einer einzelnen Wissenschaft auf sein nachfolgendes Berufsleben in dem gelehrten Stande sich vorbereiten konnte, sondern ward eine Anstalt zur Belebung des wissenschaftlichen Geistes überhaupt in jedem Einzelnen, welchen Beruf er auch für die Folge sich gewählt haben möge, eine Anstalt zum universellen Studiren. Wer diesem nicht nachstrebt, der hat den Geist der Universität nie geahnet, und ihr Zweck ist für ihn verloren.
  So wurde durch den endlichen Friedensschluß der streitenden Fakultäten das Höchste erreicht, was einer Universität erreichbar ist: das Werk des Zufalls hatte im Lauf der Zeit der Idee sich genähert, welche den Entwurf der Weisheit geleitet haben würde. Mit dem Geiste der wirklichen Wissenschaftlichkeit hatte sich das Streben derselben für den Zweck der Humanität vereinigt.
  Sehr unrecht aber würde man das universelle Studiren verstehen, wenn man glauben wollte, es muthe jedem Einzelnen den ungeheuern Riesenplan zu, das ganze menschliche Gebiet des Wissens zu beherrschen, denn dies hieße das Erreichen eines Ideals an die Unmöglichkeit binden, und statt der Meister in einzelnen Fächern nur Pfuscher in allen verlangen. Einen Pansophen hat es so wenig noch gegeben, als ein wirkliches Universalgenie, was selbst die Riesengeister eines Platon, Aristoteles, Bacon, Leibnitz, Haller u. A. nicht waren: und so wie sich, um d'Alemberts und Diderots Encyclopädie zu verfertigen, viele Geister vereinigen mußten, so besteht die universitas literarum auch aus einem Verein mehrerer Einzelner, die zusammen ein Ganzes ausmachen. So wenig jeder Einzelne das Ganze ausmacht, eben so wenig soll jeder Einzelne das Ganze in sich aufnehmen, wol aber das, was er zu seiner Hauptwissenschaft macht, ganz, d. h. von der Grundwissenschaft ausgehend, und wiederum ganz die Humanitätswissenschaften, über die wir uns bald weiter verständigen wollen.
S. VIII Wer es unternimmt, in diesem Geiste der Universität zu studiren, ― in dem Geiste echter Wissenschaftlichkeit und Humanität ― der kann schon darum an keine einzelne Fakultät sich halten, sondern muß seinen Kreis darüber hinaus ziehn. Aber wie weit? Was soll er umfassen? Diese Bedenklichkeit nöthigt zu einer Übersicht des Ganzen, theils weil man sonst unfähig seyn würde, sich seine besondre Sphäre auszuwählen, theils weil man, ohne Einsicht in den näheren oder entfernteren Zusammenhang dieser Sphäre mit den übrigen, sich nicht in die nöthigen und zweckmäßigen Verbindungen damit setzen, theils weil man, ohne dieses, seinen besondern Standpunkt gar nicht zu würdigen, noch auf ihm mit dem erfoderlichen Nachdruck, und seiner Bestimmung gemäß, zu wirken wissen würde. Muß man daher gleich jedem Einzelnen eine gewisse Beschränkung zugestehen, so muß man doch auch von ihm fodern, daß es im Gebiete des menschlichen Wissens kein unbekanntes Land für ihn gebe, daß er den Zusammenhang des Ganzen und jedes Einzelnen Zweck und Bestimmung kenne. Nur aus dieser Unwissenheit, selbst von Gelehrten, ist es erklärbar, daß es noch so viele einseitige Pedanten gibt, die über dem Besondern das Allgemeine ganz aus den Augen verlieren, die mit dummer Verachtung auf alles blicken, wovon sie nichts verstehen, die jeder Verbesserung entgegen kämpfen, und die Wissenschaften abschließen möchten, wie einst ihre Hefte, aber, von ihrem Standpunkte verrückt, weder für sich noch Andre Rath und Hilfe wissen. ⇧ Inhalt 
  Seit man dies alles deutlicher einsah, warf man immer aufmerksamere Blicke auf den Stammbaum der Wissenschaften, und machte es sich zum angelegentlichen Geschäft, die Verzweigungen der Wissenschaften zu verfolgen, und ihren Zusammenhang unter sich und mit dem Ganzen zu zeigen. Man fing an Encyclopädien zu entwerfen, (Encyclopaediae nomen hodie frequentius auditur, quam alias, sagte Gesner in der Vorrede zum Göttinger Lections-Katalog v. J. 1756), die zuerst nicht viel von dem unterschieden waren, was man früher Polymathie (Wower), Polyhistorie (Morhof) genannt hatte, Abrisse mehrerer oder aller damals bekannten Wissenschaften und Künste, ohne weitere Rücksicht auf deren Zusammenhang unter einander. Dieses encyklopädische Studium aber leitete von selbst zu einer Kyclopädie, von welcher Gesner den Begrif richtig aufstellte, wenn er auch die Ausführung andern überließ *). Der erste, der zu einer solchen Ausführung die Bahn brach, war Sulzer in seinem kurzen Begrif aller Wissenschaften (Berl. 1756), auf welcher Buhle (1790) und Eschenburg (Lehrbuch der Wissenschaftskunde, Grundriß encyclopädischer Vorlesungen Berl. 1792) fortschritten. Krug ist beider vorzüglichster Nachfolger. Dieser Letztere lieferte vor seinem größeren Werk eine Abhandlung über den Zusammenhang der Wissenschaften unter sich und mit den höchsten Zwecken der Vernunft, eine Vorlesung, gehalten beim Anfang eines encyclopädischen Kollegiums (Jena 1795). Sowol diese kleine Schrift, als eine Menge anderer aus jener Zeit, die bald den
 
  • *) Kyklos, sagt er in seiner Isagoge in eruditionem universalem T. I. p. 40 — est Circulus, quae figura est simplicissima et perfectissima simul: nam incipi potest ubique in illa, et ubique cohaeret. Cyclopaedia itaque significat, omnem doctrinarum scientiam inter se cohaerere. Encyclopaedia est institutio in illo circulo.
 
S. IX Zusammenhang aller Wissenschaften, bald neue Studienplane für Universitäten zum Gegenstand haben, beweisen das Bedürfniß der Zeit nach einem encyclopädischen Studium, welches seit Erscheinung der großen französischen Encyclopädie immer allgemeiner wurde. D'Alembert's discours preliminaire vor jener Encyclopädie trug auch gewiß nicht wenig zu allen erscheinenden Versuchen einer Wissenschaftskunde bei, denn dieser Vorbericht enthielt selbst einen Stammbaum der Wissenschaften, der, obgleich er, bei nur einigen Umänderungen, ziemlich ganz der Baconische ist, doch damals nicht geringes Aufsehen erregte, ohne Zweifel wol darum mit, weil der Mensch immer nur das begierig ergreift, wonach das Bedürfniß ihm fühlbar geworden ist. ⇧ Inhalt 
  So kam es denn, daß in des verflossenen Jahrhunderts letztem Viertel Universitäten und Encyclopädien sich einander berührten; ja man hätte Grund, zu behaupten, daß die Universität, die nicht hinter ihrer Zeit zurückblieb, zu einer lebendigen Encyclopädie wurde. Lehren und Lernen selbst ward encyclopädisch. Leider! seufzten manche, die, worauf es hiebei ankommt, nicht ahneten. Sie beschuldigten es der Oberflächlichkeit, und es ist das einzig gründliche; sie ziehen es der Zwecklosigkeit, und es ist das einzig zweckmäßige: denn nur dies Lehren und Lernen weiset unaufhörlich auf die Grundwissenschaften zurück und dient dem Zwecke der Humanität; was wenigstens der nicht läugnen sollte, der es weiß, daß die Griechen unter enkyklios paideia universelle Bildung verstanden, und die Wissenschaften, welche dazu verhalfen, mathemata enkyklia nannten.
  Universität und allgemeine Encyclopädie arbeiten demnach auf Einen Zweck hin; der Tadel, womit man die eine herabzusetzen gedenkt, fällt auf die andre zurück. Genau genommen aber läßt sich die Universität kaum mit einer systematischen Encyclopädie vergleichen, sondern höchstens mit einer in alphabetischer Ordnung *). Bei einer solchen bleibt jedem überlassen, das nebeneinander Bestehende zweckmäßig zu verbinden; aus der Menge zu wählen, was ihm unentbehrlich, nöthig und nützlich ist; nach einem durchdachten Plane die Folge seiner Lectüre zu bestimmen: — ist's wol anders auf einer Universität? Und ist nicht hier und dort alles Lehren und Lernen vereinzelt? Schlägt die Stunde, so bricht der Lehrer ab, und seine Materie ist vielleicht bei weitem noch nicht so durchgeführt, wie von dem Bearbeiter eines einzelnen Artikels; der Student muß nun aus einer Vorlesung in die andre, die sich nicht selten zu jener verhält wie zwei Artikel, die das Alphabet nach einander zu ordnen gebietet. Vielleicht werden dort und hier auch verschiedene Gesichtspunkte gefaßt, wol gar entgegengesetzte Meinungen behauptet; wer kann dafür? In beiden Fällen hilft nur um so strengere Aufmerksamkeit, und bei dem gar nichts, in welchem der Reiz des Selbstdenkens nicht erregt wird, der Trieb des Ergründens nicht lebendig ist. Nur der Empfängliche, nur der Beharrliche ist's, der hier wie dort den ganzen vollen Gewinn davon trägt. Wen so viel und so vielerlei verwirrt, der hätte freilich den Kopf am sichersten leer gelassen, denn in dem Leeren ist nie Verwirrung.
 
  • *) Bei der man — beiläufig gesagt — an Fülle und Detail der Untersuchung gewinnt, was man an geregeltem Gange verliert.
S. X Selbst bei den besten Köpfen aber sind sehr gefährliche Verirrungen möglich, und um diesen vorzubeugen, hat man für heilsam erachtet, das Universitäts-Studium mit der allgemeinen Wissenschaftskunde zu beginnen, und die Methode anzugeben, die jeder, der sich einer besondern Wissenschaft widmet, am sichersten befolgt: denn sogar ohne leitenden Stern in das unbekannte unermeßliche Meer sich hinaus zu wagen, bleibt immer bedenklich. Was aber so heilsam erachtet wurde bei dem Universitätsstudium, das könnte wol auch beim Beginnen einer allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften in alphabetischer Ordnung zweckdienlich scheinen, und so stehe denn auch hier ein Versuch, die Gesamtheit menschlicher Wissenschaften aus dem encyclopädischen Gesichtspunkte darzustellen, statt specieller Methodenlehren aber die Beantwortung der allgemein interessanten Frage: Was heißt es, encyclopädisch zu studiren, und zu welchem Zwecke studirt man so? Die Beantwortung dieser unabweislichen Frage wird einem jeden von selbst den Maasstab zur Beurtheilung des gegenwärtigen Zustandes der Wissenschaften geben  *). ⇧ Inhalt
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  • *) Bei der nachfolgenden allgemeinen Übersicht der Wissenschaften in das Detail jeder einzelnen einzugehen, wäre, da dieses im Werke selbst unter den einzelnen Artikeln geschehen muß, unnöthig, aber auch zweckwidrig gewesen, wie jedem einleuchten wird, der sich überhaupt die Mühe geben will, den Zweck dieser Darstellung zu erwägen.
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Stand: 7. Oktober 2017 © Hans-Walter Pries