HIS-Data
Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-03-258-1
Erste Section > Dritter Theil
Werk Bearb. ⇧ 3. Theil
Artikel: Alterthumswissenschaft
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
Siehe auch: HIS-Data Alter
Hinweise: Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Bearbeitung
⇦ Alterthumskunde
Alteserra ⇨

⇧ S. 258 Sp. 1  
  Alterthumswissenschaft ist, im weitesten Sinne die nach haltbaren, sicher leitenden Grundsätzen ausgeführte Anordnung der Alterthümer der ältesten Völker des ganzen Erdbodens, in einer solchen Art, daß der allerfrüheste vorgeschichtliche Zustand des Menschengeschlechts, dessen erste Wohnplätze, Ausbreitung und Gründung verschiedener Völker- oder Staatenvereine und deren erste Einrichtungen, so viel möglich, erkannt, die allmähligen Abweichungen von dem vormaligen Zustande, nebst den Ursachen dazu, nachgewiesen, ferner die Verwandtschaft und Abstammung der verschiedenen Völker aus ihrem Bau, ihrer Sprache, ihren Religionsbegriffen, Sitten, Einrichtungen dargethan werden, wodurch eine objective Kentniß der Urwelt und des Zusammenhanges der frühesten Urgeschlechter vermittelt werden soll.♦
  Sie ist eine combinirende Wissenschaft, die, weil der unbestreitbaren Punkte in so frühen Zeiten wenige sind, nur das Wahrscheinlichste für das Wahre ansieht und nur durch sorgfältige Zusammenstellung der ältesten Überlieferungen und Sagen, der Volksähnlichkeiten und der aus geographischen und physikalischen Forschungen sich ergebenden Resultate zu einer allgemeinen Übersicht und Einsicht der ältesten Menschenwelt gelangt. Sie könnte füglich die Alterthümer der Urwelt oder der Urvölker heißen, wenn Alterthümer (s. dies. Art.) in der, im zweiten Abschnitt, entwickelten Bedeutung genommen werden. Sie hat nur in so fern Gewißheit, als die angenommenen, leitenden Ideen und Voraussetzungen wahr, die Combinirung kunstlos und natürlich, die bedingenden Gründe nothwendig, die Schlüsse daraus folgerecht und besonnen abgeleitet sind.♦
  Diese Wissenschaft erfodert zu ihrer Vollendung genaue physische, geographische, historische, linguistische Kentnisse, ein tiefes Eindringen in die Mythen der alten Völker, kalte, von Vorurtheilen und Hypothesen sich freihaltende, Beurtheilung, scharfe Forschungskraft, um die aus dem Zusammenfließen vielfacher Verhältnisse oft nur erkennbaren Grundursachen zu bestimmen und ein lebhaftes mit der nöthigen Phantasie begleitetes Gedächtniß, um die mannigfaltigen Erscheinungen lichtvoll zu verknüpfen und zur Anschauung zu bringen. Einzelne dahin gehörige Schriften, die man als Beiträge zu einer solchen Alterthumswisseuschaft ansehen kann, s. in Beck's Welt- und Völkergeschichte. Leipz. 1813. 1, Th. S. 79 ff. Meine Alterthumswissenschaft (Halle, 1815) ist ein Versuch, die Idee der angegebenen Wissenschaft anzuregen. Vergl. Rec. von Grotefend in der Jen. Lit. Zeit. März-Heft 1817.
  Alterthumswissenschaft im engern Sinne beschränkt sich auf das classische Alterthum der Griechen und Römer, und besteht in der Durchdringung der Alterthümer (s. d. Art.) und der innern und äußern Geschichte beider Völker, oder in einer durch gründliches Studium der einzelnen, zum Alterthum der Griechen und Römer gehörigen, Theile nach und nach erworbenen Total-Kent-
S. 258 Sp. 2 ALTERTHUMSWISSENSCH.
  niß aller, diesen beiden Völkern zugehörigen, gottesdienstlichen, bürgerlichen, häuslichen Einrichtungen, aller dadurch entwickelten Tugenden, Handlungen, Thaten, aller wissenschaftlichen und künstlerischen Fertigkeiten, Hervorbringungen und ihrer Formen, dergestalt, daß die ihnen unterliegenden Ideen und der durch das Ganze herrschende, individuelle Geist, wodurch der Charakter, die Gesinnungen und die eigenthümliche Art des Handelns, Leidens und ganzen Seyns jener Völker besonders ausgeprägt sind, treu und richtig begriffen werden.♦
  Sie ist Wissenschaft, weil sie eine in sich zusammenhängende und geschlossene Masse historischer Gegenstände (s. Art. Alterthum) nach logischen Regeln in einzelne Theile scheidet, deren jeder ein gleichartiges Ganzes bildet und jeden dieser Theile nach den ihm unterliegenden Grundideen in seiner Natur und Eigenthümlichkeit entfaltet und kennen lehrt, und nachdem sie den Kreis aller Theile, die als Bestandtheile der ganzen Griechen- und Römerwelt betrachtet werden, vollständig erklärt hat, ein organisches, in sich geschlossenes, in erkennbarem Zusammenhange aller Theile stehendes, System eines vollständig gründlichen, d.i. nach innerer Nothwendigkeit begriffenen, Wissens darstellt.♦
  Die Methode des Lehrenden ist analytisch, die des Lernenden synthetisch. Die Wissenschaft erschöpft alle aus den hinterlassenen schriftlichen und künstlerischen Werken der Griechen und Römer, als den enthaltenden Quellen, erkennbaren Begriffe, Ideen, Vorstellungen beider Völker und aller durch sie hervorgebrachten Leistungen, Werke, Fertigkeiten, Thaten, in folgerechter Ordnung und Verbindung, und ist, in so fern sie sich genau an den Sinn und Inhalt ihrer Quellen anschließen muß, positiv dogmatisch zu nennen.
  Ihr vornehmstes Ziel ist nach F. A. Wolf: „die Kentniß der alterthümlichen Menschheit selbst, welche Kentniß aus der durch das Studium der alten Überreste bedingten Beobachtung einer organisch entwickelten bedeutungsvollen National-Bildung hervorgeht,” welche Worte, wenn ich sie meiner Erklärung anpassen darf, den Sinn haben: daß durch das Eindringen in die hinterlassenen griechischen und römischen Werke die alterthümliche Menschheit, in so fern man diese auf Griechen und Römer beschränkt, oder in diesen als in ihrer höchsten Vollendung denkt, so vollständig erkannt wird, daß aus den vom Anfang an einwirkenden Zuständen, Verhältnissen, Einrichtungen einmal die Ursachen einleuchten, welche die allmählige hohe Entwickelung dieser Völker beförderten und zum andern in der Zeitfolge die Fortschritte, die sie in politischer, sittlicher, wissenschaftlicher und künstlerischer Hinsicht nach und nach gemacht hat, bis zu ihrem Untergang begriffen werden, wodurch allerdings, die genaueste Kentniß der Nationalität der Griechen und Römer und der in ihnen sich darstellenden Menschheit vermittelt wird.
  Eine geistreiche Übersicht der Alterthumswissenschaft in diesem Sinne hat Fr. August Wolf (im Museum der Alterthums-Wissenschaft, herausg. von Fr. Aug. Wolf und Philipp Buttmann. Berlin 1807. 1r Bd. 1s Stck.) geliefert, in der die ganze Wissenschaften in 24 Theile zerfällt ist. Die drei ersten Theile begreifen das grammatische Studium, 1) philosophische, 2) griechische, 3) lateinische Sprachlehre; die drei folgenden kritische Rheto-,
S. 259 Sp. 1 ALTERTHUM
  rik, nämlich: Grundsätze 1) der Auslegungskunst, 2.) der philologischen Kritik und Verbesserungskunst, 3) der prosaischen und metrischen Composition.♦
  Die folgenden 11 Theile umfassen die Geschichte der Griechen und Römer in ihrem äußern und innern Zusammenhang und allen Hilfsgebieten, als: 1) Geographie und Uranographie der Griechen und Römer, 2) alte Universalgeschichte, 3) Chronologie und historische Kritik, 4) griechische, 5) römische Alterthümer, 6) Mythologie beider Völker, 7) griechische und 8) römische Literaturgeschichte, 9) Geschichte der redenden Künste und Wissenschaften bei den Griechen und 10) bei den Römern, 11) historische Notiz von den mimetischen Künsten beider Völker.♦
  Die folgenden 6 Theile beziehen sich auf die eigentliche Archäologie, oder das Studium der Antike und enthalten 1) Notiz von den noch übrigen Denkmälern und Kunstwerken der Alten, 2) archäologische Kunstlehre, oder Grundsätze der zeichnenden und bildenden Künste, 3) Geschichte dieser Künste im Alterthum, 4) Einleitung zur Kentniß und Geschichte der alterthümlichen Architectur, 5) Numismatik und 6) Epigraphik beider Völker.♦
  Der letzte Theil enthält eine Literargeschichte der griechischen und lateinischen Philologie und der übrigen Alterthumsstudien nebst der Bibliographik. (Nützlich, besonders wegen der literarischen Nachweisungen zu den nöthigsten Hilfsmitteln, ist zu vergleichen: E. J. Koch's Encyklopädie aller philologischen Wissenschaften (Berl. 1793) und dessen Hodegetik für das Universitäts-Studium. Berl. 1792).
  Diese Wissenschaft stellt in natürlicher und methodisch geordneter Verbindung alle Zweige derjenigen Kentnisse dar, welche nöthig sind, um die noch vorhandenen schriftlichen Werke der Griechen und Römer in ihrem Geiste und in ihrer wahren Bedeutung zu verstehen. Es ist daher das genaueste Studium derselben denen unentbehrlich, die sich vorzugsweise mit der Erklärung, Kritik und Bearbeitung alter griechischer und lateinischer Schriftsteller befassen und vorzugsweise Philologen und Humanisten heißen. Letzterer Name rührt daher, daß man früherhin das Studium der griechischen und lateinischen Autoren für das fast einzige und beste Mittel hielt, eine höhere menschliche Bildung zu erlangen, und deshalb dasselbe, obgleich noch ohne wissenschaftliche Form, zur Grundlage der Geistesentwickelung und des ganzen Unterrichts machte. Wie wohlthätig, fruchtbar und zweckmäßig diese Grundlage sey, ergibt sich aus den bewunderungswürdigen Fortschritten aller Wissenschaften und Künste, die durch das Studium des Alterthums angeregt, genährt, gefördert worden sind. Die Alterthumswissenschaft ist daher überhaupt allen unentbehrlich, die sich der Gelehrsamkeit widmen, oder eine höhere, rein menschliche, vielseitige Geistescultur erreichen wollen.
  Denn jede andere Wissenschaft verfolgt eine einzelne Richtung und gibt dem Geiste eine einseitige Gestalt, weil sie blos einen Gegenstand behandelt und diejenige Geisteskraft blos ausbildet, welche zur Bemächtigung jenes Gegenstandes vorzugsweise angestrengt wird. Viele entfremden sogar den Menschen dem Leben, den bürgerlichen Tugenden, der wissenschaftlichen Geselligkeit, den redenden und bildenden Künsten, überhaupt jener harmonischen Thätigkeit des Geistes, des Gemüthes und der Sinnlich-
S. 259 Sp. 2 ALTES WEIB
  keit, durch deren gemeinsame Verfeinerung erst die brauchbare und edlere Menschwerdung erscheint und jene reinere, in sich übereinstimmende, nach allen Seiten hin aufgeschlossene, Natur entfaltet wird, die, welchen einzelnen Stoff der Wissenschaft oder Kunst sie ergreifen mag, aus ihm das Wahre, Gute und Schöne herauszugreifen und durch ihren verschmelzenden Hauch zu einer reizenden Schöpfung zu vereinigen fähig ist.
  Die Alterthumswissenschaft, aus einem wirklichen, ehemaligen großen Leben treu abgeschöpft, stellt nicht einen einzelnen Zweig des Wissens, sondern eine ganze, ehrwürdige, in Umfang, Bau und Form eben so kolossale, als lehrreiche Welt dar, sie zeigt den Menschen des Alterthumes in seiner, nach Zeit und Umständen, möglichst höchsten und freien Entwickelung aller seiner Tugenden, Kräfte, Fähigkeiten, Einsichten und deren Anwendung zu rühmlichen Thaten, nützlichen Einrichtungen, aufklärenden oder vergnügenden Meisterwerken von origineller Erfindung in Wissenschaften und Künsten, als ein in der Realität aufgefundenes und nachahmbares Ideal, von dem der Strom der Zeit, in welchen das Schlechte versinkt, selbst die Flecken abgewaschen hat.♦
  Sie flößt daher mehr als jede andere Wissenschaft, dem Menschen ein vielseitiges praktisches Interesse ein, und faßt ihn nicht halb, nicht theilweise, sondern in seiner ganzen Ausdehnung, vollständig und durchdringend, sie beschäftigt, entwickelt, veredelt, stärkt und übt Gedächtniß und Phantasie, Verstand und Urtheilskraft, Scharfsinn und Witz, erweckt und fördert die Reflexion, die Kritik, die speculative Forschung, und sichert sie durch ihr reales Gebiet vor Ausschweifung; sie durchdringt und entzündet das Gefühl des Sittlichen, Schönen, Erhabenen und macht es fruchtbar, entflammt eben so mächtig die edlen Leidenschaften und Neigungen für große, des Menschen würdige Ideen und Unternehmungen, als sie die unedlen schwächt und bezähmt; kurz sie öffnet und erfüllt alle Werkstätte der obern und untern Seelenkräfte, die Tiefen des Gemüths und der Empfindung, die Organe der Sinnlichkeit, alle Kräfte der geistigen Natur, wie die Sonne, welche erwärmt und erleuchtet, und zur gemeinsamen Thätigkeit aufregt.♦
  Sie ist das große Pantheon aller Wissenschaften und Künste des Alterthums, aus dem der Strom der Ideen in die neue Zeit übergeflossen ist, und in Millionen Bäche zertheilt, die Fruchtwälder der modernen wissenschaftlichen und künstlerischen Welt erzeugt hat: diese, obgleich zu einer scheinbaren Selbstständigkeit gelangt, und durch unzählige Abarten von Wissenschaften und Künsten, die aus fortgehender Entwickelung sich bildeten, bereichert, hängt dennoch mit ihren Wurzeln noch immer an dem nahrungsreichen Fruchtboden des Alterthums fest, so daß, wer dieses nicht genau kennen gelernt hat, die neuere Zeit und ihre Hervorbringungen nie genau begreifen wird.
   
HIS-Data 5139-1-03-258-1: Allgemeine Encyclopädie 1. Sect. 3. Th.: Alterthumswissenschaft HIS-Data Home
Stand: 21. November 2017 © Hans-Walter Pries