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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-04-060-5
Erste Section > Vierter Theil
Werk Bearb. ⇧ 4. Theil
Artikel: ANFANG
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
Siehe auch: HIS-Data An
Hinweise: Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Bearbeitung
Inhalt:
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Forts. S. 60 Sp. 1 ANFANG:♦
1) chronologisch 1) In chronologischer Hinsicht. Der Anfang der Dinge ist als Erstes eines Ganzen entweder von der Natur selbst gegeben, oder er hängt von der Willkür der Vorstellung ab. Das Letztere ist der Fall bei den Gegenständen des Raumes, in welchen kein Rang Statt findet, z. B. bei einem Walde, dessen Anfang rings um, also von unendlich vielen Seiten, sich denken läßt, so daß jeder Anfang im entgegengesetzten Gesichtspunkte ebenso gut als Ende, wie jedes Ende als Anfang betrachtet werden kann.♦
  Eben dieses ist anwendbar auf den Kreislauf der Zeit, sofern man sie als eine Kreislinie betrachtet, nur daß hier das Ende der Reihe mit dem Anfang in einen Punkt zurückfällt, was die Ägyptier sinnreich durch die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, bezeichneten.♦
  So wie sich hieraus die Verschiedenheit der Anfänge in den chronologischen Cykeln erklärt; so rühren die verschiedenen Anfänge der Ären davon her, weil nicht nur die Zeit überhaupt als ein Abschnitt der Ewigkeit zu betrachten ist, sondern auch die Zeit selbst wieder durch willkürliche Einschnitte in kleinere Abschnitte getheilt werden kann, da es dann in der Willkür
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  des Menschen steht, den Anfangspunkt eines solchen Zeitraumes festzusetzen, wie er will. Der Unterschied der willkürlichen Anfänge in einer räumlichen Fläche, in der geraden Linie der Zeit, und der im Raume wie in derzeit gegebenen Kreislinie besteht nun darin, daß bei der räumlichen Fläche der Anfang auch als Ende betrachtet werden kann, wenn man den Gesichtspunkt verändert, bei einer Kreislinie das Ende mit dem Anfange jedes Mal zusammenfällt, bei der geraden Linie der Zeit aber der Anfang durch die Vergangenheit gegeben und also nie als das Ende derselben, obwol einer andern, Reihe betrachtet werden kann.♦
  Betrachtet man die Anfangspunkte einer Fläche als das erste Glied einer Reihe; so vereinigen sich die Reihen, wenn sie, vom äußern Rande ausgehend, die Fläche in der Mitte durchschneiden, sämmtlich in dem Mittelpunkte der Fläche. Siehet man also diesen Mittelpunkt als das Wichtigste an, wie z. B. bei den Gebirgsketten, welche Strahlen gleich von einem höchsten Punkte ausgehen; so hat man eben so viele Endpunkte, als bei der entgegengesetzten Betrachtung Anfangspunkte waren.♦
  Ganz anders verhält es sich mit den Anfangspunkten der Begebenheiten in der Zeit, welche man sich wie eine gerade Linie denkt: denn hier mag man als Anfangspunkt annehmen, was man will; so liegt er immer in der Vergangenheit, selbst wenn ich mit den Anfangspunkt mit prophetischem Geiste in der Zukunft denke, und die übrigen Glieder der Reihe bis zum Endpunkte können, sobald ich geschichtlich die Wirkungen aus der Ursache entwickele, nur als dem Anfangspunkte folgend, nie als ihm vorausgehend gedacht werden. Doch zeigt sich auch hier ein Unterschied zwischen dem historischen und dem chronologischen Anfangspunkte, indem die Chronologie, von allem Verhältnisse zwischen Ursache und Wirkung abstrahirt, und die Reihe der Begebenheiten nur wie eine Linie im Raume betrachtet, welche sie daher eben sowol rückwärts als vorwärts aufzählen kann, wie es bei der Zeitrechnung vor und nach Christi Geburt geschieht. In diesem Falle gehen zwei verschiedene Reihen von einerlei Anfangspunkte aus, gleich den Strahlen eines Mittelpunktes, statt daß in dem Kreislaufe der Zeit, wie bei einer Kreislinie im Raume, der Endpunkt einer und derselben Reihe wieder in den Anfangspunkt eingreift.♦
  Wiederum muß man das analytische Verfahren des Philosophen von der synthetischen Methode des Historikers unterscheiden: denn während dieser von den Ursachen zu den Wirkungen übergeht, soll der Philosoph aus den Folgen auf die Gründe schließen, und geht also einem dem Historiker entgegengesetzten Weg, obgleich der Historiker auch als raisonnirender Philosoph die Ursachen später als die Wirkungen, der Philosoph als mathematischer Erläuterer die Folgerungen später als die Gründe darlegen darf.
  Alles dieses mußte vorausgeschickt werden, um danach die verschiedenen Anfänge der Cykeln und Ären zu erklären. Ehe ich jedoch hievon wenigstens einen kurzen Überblick gebe, muß ich noch bemerken, daß bei aller Willkür der Anfangspunkte es doch nicht gleichgültig ist, welchen man wähle, weil einerseits nicht jeder Gesichtspunkt, aus welchem ich einen Gegenstand betrachte, der beste Standpunkt ist, andrerseits die Wichtigkeit eines
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  Punktes ihm einen Vorrang vor allen übrigen minder wichtigen verleiht, ergebe sich nun diese Wichtigkeit aus einer bloßen Rangordnung, oder aus dem Causalitäts-Verhältnisse zwischen Grund und Folge oder zwischen Ursache und Wirkung. Denn so wie es unstatthaft seyn würde, den Niedern einer Classe eher zu beschreiben, als den Höhern im Range, oder einen niedern Punkt im Raume als einen Mittelpunkt von Strahlen zu betrachten, wofern man nicht z. B. lieber die Flußgebiete als Niederungen der Erde, dann die Gebirgszweige als Höhenpunkte derselben ins Auge fassen will; so kann es auch nicht gleichgültig seyn, ob ich einen unwichtigen oder einen wichtigen Anfangspunkt der Geschichte und Zeitrechnung wähle, oder das Höhere dem Niedern unterordne.♦
  So wie ferner der Mathematiker erst die Gründe entwickelt und erweiset, ehe er die Folgerungen daraus zieht, und von den ersten Grundsätzen zu den daraus fließenden Lehrsätzen, wie von der Quelle des Ganzen, übergeht; so muß der Geschichtschreiber die Begebenheiten, welche die Quelle vieler folgenden wurden, mit ihren Ursachen früher darlegen, als diejenigen Begebenheiten, welche blos eine Wirkung und Folge von jenen waren. Hienach bestimmen sich die Epochen, worunter man solche Begebenheiten zu verstehen hat, welche durch ihre Wichtigkeit in Hinsicht auf ihre Folgen vorzüglich geeignet sind, zu Anfangspunkten einzelner Theile der Geschichte oder besonderer Zeiträume, die man Perioden nennt, zu dienen, mithin auch zu Ruhepunkten im Vortrage der Begebenheiten, wenn die Folge derselben zu groß ist, als daß man sie mit Einem Blicke zu überschauen vermag.♦
  Auch hier muß man zwischen Epoche der Geschichte und der Chronologie wohl unterscheiden, da diese durch die bürgerlichen Ären, jene aber lediglich durch die Wichtigkeit folgereicher Begebenheiten bestimmt werden. Die historischen Epochen sind theils wegen des verschiedenen Zweckes der Geschichtschreiber, theils wegen der Willkür, womit sie von den Gelehrten bestimmt zu werden pflegen, allzuverschieden, als daß ich mich hier dabei verweilen könnte; die bürgerlichen Epochen der Zeitrechnung aber sind unter dem Artikel Ära, so kurz als möglich, obwol wegen Mangel des Raumes nicht ganz so vollständig angegeben, wie sie ein besondres Werk über Chronologie zu geben vermag.♦
  Auch hier muß ich mich begnügen, die Gründe anzuführen, warum die Zeitrechnung vor und nach Christi Geburt in der Weltgeschichte den Vorzug vor der sonst üblichen Rechnung nach Jahren der Welt behauptet. So wünschenswerth es scheint, alle Jahre der Zeitrechnung nicht blos nach einerlei Anfangspunkte zu bestimmen, sondern auch als Glieder einer und derselben Reihe aufzuzählen; so kann doch weder der Anfang der Welt, noch die Gegenwart einen Anfangspunkt abgeben, weil jener nicht bekannt ist, und diese mit jedem Augenblicke sich ändert.
  Wenn man auch unter dem Anfange der Welt nur den Beginn des Menschengeschlechtes versteht, so ist doch der Zeitpunkt desselben so ungewiß, daß auch die muthmaßlichen Bestimmungen desselben leicht um Jahrtausende von einander abweichen, und selbst die Schriftsteller Einer Gattung ihn so verschieden bestimmen, daß z. B. die byzantinischen Chronologen den Anfang der Welt theils zu 5493, theils zu 5501, theils zu 5509 J. v. C. G. be-
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  rechnet haben. Zudem hat die Berechnung nach Jahren der Welt das Unbequeme, daß die Zahlen derselben die Grenze der Überschaulichkeit überschreiten, und noch dazu die kleinern Zahlen in die Jahrtaus. fallen, von welchen man fast nichts als nur Vermuthungen hat, und bei dem Anfange der gewissern und genauer bekannten Geschichte schon unüberschaulich sind.♦
  Sieht man aber die Geburt Christi als den gemeinschaftlichen Anfangspunkt für die frühere und spätere Reihe der Weltbegebenheiten an, so wird zugleich die große Epoche bestimmt, welche die wesentlich verschiedene alte Welt von der neuen scheidet, und in der eigentlichen Geschichte auch ungefähr den Mittelpunkt ausmacht; und außer dem Vortheile, durch bloße Addition der Jahre vor C. G. zu der heutigen Jahreszahl, welche viel leichter als die bei den Jahren der Welt nothwendige Subtraction ist, den Abstand der Begebenheiten von der Gegenwart zu erkennen, hat man noch den großen Gewinn, daß die genau zu bestimmenden Ereignisse der alten Welt die Hunderte nicht übersteigen und leicht behaltbare Zahlen geben, während sich die frühern Begebenheiten in runden Zahlen andeuten lassen, welche schon an sich ihre Ungewißheit aussagen. Mag demnach auch die Geburt Christi um einige Jahre falsch bestimmt seyn; es kommt hiebei nicht sowol darauf an, wann Christus geboren ward, als auf das Jahr der Ära, welche nun einmal bei allen civilisirten Staten allgemein eingeführt ist.♦
  Ungereimt aber scheint es zu seyn, wenn sich die Beschreibcr des römischen Alterthums ein Ansehen von Gelehrsamkeit dadurch zu geben vermeinen, daß sie die Jahre Roms bestimmen, ohne sie auf Jahre vor C. G. zurück zu führen, oder gar in der griechischen Geschichte die minderfaßliche Olympiadenrechnung der Jahresrechnung vorziehen. Die Zeitrechnung darf nicht den willkürlichen Anordnungen einzelner Völker folgen, sondern muß die Zeit so eintheilen, wie es die Einrichtung der Natur mit sich bringt. Darum ist eine Olympiadenrechnung eben so verwerflich, als eine Aufzählung der Wochen, welche nur dem ägyptischen Aberglauben ihre Entstehung verdanken, in der Berechnung der Lebensalter.♦
  Mag es gleich den Beschreibern der türkischen Geschichte vergönnt bleiben, in der Bestimmung der Jahre der Hedschra dem muhammedanischen Kalender getreu zu bleiben, so wird es doch immer zur Vermeidung der Irrthümer anzurathen seyn, den Jahren der Hedschra die Jahre n. C. G. beizufügen; die Rechnung nach den meisten andern Ären aber zeugt mehr von einfältigem Gelehrsamkeitsprunke, als von vernünftiger Überlegung der Sache.♦
  Bei dieser Gelegenheit wird es auch nicht am unrechten Orte seyn, den lächerlichen Streit über den Anfang eines neuen Jahrhunderts zu berühren. Sobald man weiß, daß jeder Mittelpunkt in der Zeitlinie oder der Anfangspunkt einer Zeitrechnung = 0 ist, so wird es keine große Überlegung kosten, daß, so wie mit dem Anfange des 18ten Jahres n. C. G. erst das 17te Jahr Christi verflossen war, so auch das 17te Jahrhundert erst mit dem Anfange des Jahres 1801 verfloß.♦
  Ein ähnlicher Fehler entsteht, wenn man bei der Addition der J. v. C. G. zu den J. n. C. G. das, was im ersten Jahre v. C. G. geschah, als in einem Abstande voller 1819 Jahre vom J. 1818 betrachtet; denn Jedermann sieht bei dem
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  geringsten Nachdenken leicht, daß die Begebenheiten des ersten Jahres v. C. G. von den Begebenheiten des ersten Jahres nach Christi Geburt nur um ein einziges volles Jahr abstehen. Es verhält sich nämlich mit den Zahlen der Jahre anders, wie mit den Zahlen der Stunden, da jene nur das laufende Jahr, diese aber die verflossene Zeit angeben.♦
  Es würde mich zu weit führen, wenn ich nun alle die Vorsichtsmaßregeln angeben wollte, welche die Verschiedenheit der Art, die Jahre zu zählen, von der Zählweise der Stunden bei Reductionen der Jahre einer gewissen Ära, deren Anfangspunkt vor Christi Geburt fällt, nothwendig macht. Diese ergeben sich jedem, der Vernunft hat, nach dem Ebenbemerkten leicht von selbst; darum will ich den übrigen Raum lieber andern Betrachtungen widmen, welche die Verschiedenheit der Anfänge bei den Bestimmungen eines Kreislaufes betreffen.
  Jeder Kreislauf wird am schicklichsten in vier Haupttheile getheilt, welche die rechtwinklichten Durchschnitte eines Kreises bestimmen. So erhält der Tag vier Tages- und das Jahr vier Jahreszeiten, wie der Umkreis des Horizontes vier Weltgegenden, wonach die vier Hauptwinde benannt werden. Bei dieser Haupteintheilung steht es dann immer noch frei, eine Zwei- oder Dreitheilung derselben vorzunehmen, und auf diese Weise 8 oder 12 Theile zu gewinnen, die dann durch noch kleinere Unterabtheilungen eine Zählung nach 16, 24, 32 und mehr Theilen zulassen. Ohne mich hiebei aufzuhalten, will ich blos noch bemerken, daß alle übrige Eintheilungen auf der Vielfältigung der einfachsten Zahlen beruhen, wie 2=1 . 2; 6=1 . 2 . 3; 24=1 . 2 . 3. 4.; oder 12=3 . 4; 60=3 . 4 . 5; 360=3 . 4 . 5 . 6.♦
  Durch Vervielfältigung größerer Zahlen erhält man die Cykeln der Ägyptier, Indier und anderer Völker, welche mehr auf arithmetischen als astronomischen Betrachtungen beruhen. Unter diese Cykeln ist auch das sogenannte große platonische Jahr zu zählen, welches hier nur berührt zu haben genügen mag, damit man nicht, wie oft geschiehet, blos-arithmetische Bestimmungen, unter welche sich freilich auch astronomische Beobachtungen mischen können, für rein-astronomische Berechnungen halte, deren Cykeln keine solche Auflösungen in kleine Zahlen gestatten.♦
  Wieder verschieden davon sind die sogenannten heiligen Zahlen, deren Bestimmung blos auf Aberglauben oder gewissen bürgerlichen Einrichtungen beruht, und deren Verschiedenheit mehr geschichtlich zu erlernen, als nach bestimmten Principien zu ermessen ist, obgleich Hr. Prof. Hüllmann neuerlich erst gezeigt hat, daß sich auch die meisten bürgerlichen Einrichtungen der alten Völker auf den Kalender gründen. Hier ist nicht der Ort, auch dieses zu verfolgen; ich habe hier vielmehr von den verschiedenen Anfängen in den Bestimmungen der oben bemerkten Kreisläufe zu reden.♦
  Machen wir mit dem Kreislaufe der Jahre den Anfang, so gibt es fast keine Jahreszeit, mit welcher nicht irgend ein Volk seine Rechnung begonnen hätte. Nicht zu gedenken, daß manche Völker nur zwischen zwei, andere zwischen drei Jahreszeiten unterscheiden; so zählen auch einige Völker, wie die Malabaren und alle germanischen Völker der ältern Zeit, die Jahre nach Wintern, andere nach Sommern, wie Virgil,
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  der zwar A. I, 266. der militärischen Winterlager gedenkt, aber sonst, A. I, 755. III, 8 V, 626. G. III, 190. IV, 207. nach ländlicher Weise den Sommer statt des Jahres nennt, wobei freilich auch ein Wortspiel zwischen aestas und aetas, wie zwischen dem französischen été und dem griechischen étos, gedenkbar ist.♦
  Die Winzer zählen nach Herbsten, wie diejenigen, welche dem Frühlinge den Namen Printemps gaben, nach Lenzen. Denn statt daß der Name des Frühlings auf die Sitte der Alten hinweiset, den Anfang des Jahres in diejenige Zeit zu setzen, in welcher die Sonne in das Zeichen des Widders im Thierkreise tritt, pflegten die Astronomen das Jahr, der mythischen Darstellung der Dichter und Künstler ganz entgegen, mit der Zeit des greisigen Winters zu eröffnen, unbekümmert um die Gewohnheit der Seemänner, die, obgleich der Compaß ihnen zuerst den Norden weiset, dennoch auf ihrer Windrose die Reihe der Weltgegenden mit dem Osten als dem Ausgangspunkte der Sonne beginnen.♦
  Während Viele glaubten, der nackte Adam habe nur im Sommer die Welt zuerst begrüßen können, deren Anfang Andere in die Zeit der sich verjüngenden Natur versetzten, ließen die byzantinischen Schriftsteller, um den ersten Menschen alle Gaben der Erde in vollem Maße zu verleihen, das irdische Leben mit dem Herbste seinen Anfang nehmen, und zählten daher auch die Indictionen vom ersten September oder Herbstmond an.
  Eben so verschieden wird der Anfang des Jahres in den Kalendern angesetzt; denn es hat nicht nur das jüdische Jahr einen doppelten Anfang, für das kirchliche Jahr im Nisan des Lenzes, für das bürgerliche im Tisri des Herbstes; sondern es läßt sich auch aus der persischen Zahlbenennung der Monate, nach welcher Tisri 3 bedeutet, vermuthen, daß das chaldäische Jahr, welches die Juden zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft annahmen, ursprünglich mit dem Ab im Sommer Begann, so wie bei den Griechen die olympischen Spiele mit dem ersten Neumonde nach der Sommerwende anfingen, während das attische Jahr mit der Winterwende seinen Anfang nahm.♦
  Es ist bekannt, daß auch das julianische Jahr ungefähr um die Winterwende (Bruma) anfing; gleichwol machten die Syrer, als sie das julianische Sonnenjahr annahmen, mit dem October den Anfang. Für die Ägyptier war das Wiedererscheinen des Sirius (Choth) am Horizonte, oder sein Aufgang in den letzten Tagen des Julius das natürliche Merkmal eines neuen Jahrsbeginnes. Weil die Ägyptier aber kein Schaltjahr hatten, so kam ihr erster Choth oder Neujahrstag alle 4 Jahre um 1, oder alle 4 Jahrhunderte um 100 Tage früher als der Sirius aufging. Auf diese Weise war der erste Choth zu der Zeit, als der Kaiser Augustus in Alexandria das julianische Jahr in so fern einführte, daß auf drei gemeine Jahre ein Schaltjahr folgte, auf den 29sten August oder auf 11 Monate vorgerückt, welche eine Zeit von etwa 1320 Jahren nach Einführung des Kalenders voraussetzen. Seit der sogenannten attischen Äre fing daher das ägyptische Jahr immer mit dem 29sten August an. Die vollkommenste aller Jahrformen, welche bei den Persern üblich war, und das dschelaloddinische Jahr genannt wird, hatte
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  mit dem ägyptischen Kalender der attischen Äre die größte Ähnlichkeit, war aber so genau berechnet, daß der Neuruz oder Neujahrstag immer auf den Tag der Frühlingsgleiche fiel, worauf auch schon Genes. VIII, 22. hinweiset.♦
  Die Franken begannen anfangs das Jahr mit dem ersten März, ob man gleich ihr Märzfeld in ein Maifeld umgeschaffen hat; so wie auch die Consuln Roms, nachdem sie ihr Amt zuerst bald im October, bald im September, bald im Sextil, bald im Quintil, bald im Mai oder März, bald im December, angetreten hatten, vom J. R. 532 an mit den Iden des Märzes ihr Regirungsjahr eröffneten, bis mit dem Anfange des siebenten Jahrhunderts der Stadt der Anfang des Regirungsjahres mit dem Anfange des Kalenderjahres am ersten Januar gleich gestellt wurde. Seit dem achten Jahrhunderte unsrer Zeitrechnung, als man nach Christi Geburt zu zählen anfing, begannen die Franken das Jahr mit dem Christtage, so wie auch die Italiener, Engländer, Isländer und Teutschen, überhaupt die Christen des Mittelalters, das Jahr mit Weihnachten eröffneten.♦
  Zuletzt aber haben die Franzosen, mit Ausnahme der Neufranken, die in der neuesten, kurzdauernden Ära wahrend ihrer Staatsumwälzung den Neujahrstag auf den 22sten September oder in den Anfang des Herbstes verlegten, den Neujahrstag des julianischen Kalenders angenommen, welchen auch der gregorianische und neuverbesserte Kalender beibehalten hat, ob man gleich auch zuweilen, die Incarnation mit dem Leiden Christi vertauschend, von Ostern zu Ostern, oder vom 25sten März anstatt des frühern 25ten Decembers zählte, und obgleich die Astronomen noch das Jahr mit der Winterwende beginnen.♦
  Lange Zeit merkten sich die Christen der lateinischen Kirche den Wechsel der Jahreszeiten nach den Festtagen der Heiligen; daher Lindwod's Vers:
  Dat Clemens Hiemem, dat Petrus Ver cathedratus,
Aestuat
Urbanus, auctumnat Bartholomaeus.
  Alle diese Heiligentage fallen um einen Monat früher, als der Christtag, Mariä Verkündigung, Johannis Enthauptung und das Michaelisfest, deren Feier theils aus einer falschen Berechnung von Christi Geburt, theils aus altteutschen heidnischen Festtagen entsprang, und weichen von den Quatembern wieder um einige Wochen früher oder später ab.
  Wie die Jahresanfänge sich mannigfaltig unterscheiden, so verschieden sind auch die Berechnungen der Monate, wobei dann doch der Unterschied eines Sonnen- und Mondjahres, eines gemeinen und Schaltjahres, in Betrachtung kommt. Anstatt mich in alle diese Verschiedenheiten hier einzulassen, will ich dagegen den verschiedenen {1} Anfang der Wochen bemerken, da es bekannt ist, daß die Christen den Sonntag, die Juden den Sonnabend, die Muhammedaner den Freitag, als denselben, betrachten. Es ist eben so bekannt, daß die Christen den Sonntag, um der Auferstehung Christi willen, die Muhammedaner den Freitag, wegen der Flucht Muhammeds, die Juden endlich den Sonnabend oder Sabbatstag zum Andenken des Ausruhens Gottes von der Weltschöpfung {1} korrigiert aus: verschiededenen
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  feiern. Minder bekannt möchte es aber seyn, daß die Ägyptier, wo nicht Erfinder der Mondesviertel, — worauf der Mondeswechsel auch die Araber und andere Völker Asiens führte, da dann der Neumond als Anfangspunkt betrachtet wurde, obgleich die christlichen Ostern, wie das jüdische Passahfest, nach dem ersten Vollmonde des Frühlings berechnet werden,— doch Erfinder der siebentägigen Wochen mit 24stündigen Tagen waren, in deren Kreislauf von 168 Stunden ihrer Meinung nach die sieben Planeten nach der Ordnung ihres Abstandes von der Erde mit stündlichem Wechsel regirten. Von den sieben Planeten, Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Mercur und Mond, hatte demnach Saturn die 1ste, die Sonne die 25ste, der Mond die 49ste, Mars die 73ste, Mercur die 97ste, Jupiter die 121ste und Venus die 145ste Stunde der Weltschöpfung regirt, bis Saturn in der 169sten Stunde diesen siebentägigen Kreislauf von Neuem eröffnete.♦
  Der Gott, welcher die erste Stunde eines Tages beherrschte, hatte die Ehre, dem Tage selbst den Namen zu geben; und weil die 365 Tage des Jahres gerade einen Kreislauf von 52 Wochen und einem Tage ausmachen, so ward eben so jedem Planeten die Oberherrschaft des ganzen Jahres zugetheilt, welcher gerade die erste Stunde des ersten Tages im Jahre die Regirung hatte. Daraus entsprang der immerwährende Kalender mit seiner alle sieben Jahre wiederkehrenden Witterung, welchen man gewöhnlich den hundertjährigen Kalender nennt; daraus entstand ferner die Idee eines Jubeljahres oder der Jahreswoche, indem man die meteorologische und astrologische Beschaffenheit der Jahre nach dem wechselnden Einflusse der Planeten bestimmte, wie die neuern Astronomen die chronologische Verschiedenheit nach dem Sonntagsbuchstaben. Wenn nun aber Saturn in der ersten Stunde des ersten Tages regirte, so folgt daraus, daß nach dem Glauben der Ägyptier die erste Woche mit dem Saturnustage ihren Anfang nahm, und eben so Saturn im ersten Jahre einer Jahreswoche die Oberherrschaft führte.♦
  Es folgt hieraus ferner, daß Moses, als er die Woche unter den Kindern Israels als eine Erinnerung an die Weltschöpfung einführte, und den siebenten Tag als Ruhetag Gottes feiern hieß, gewissermaßen der Venustag oder Freitag zum Sabbate umgeschaffen ward, mithin jede neue Woche mit dem Tage nach dem Sabbate begann, so wie wir noch heutiges Tages den Sabbatstag der Juden als den Sonnabend betrachten, nach welchem der Sonntag eine neue Woche anfängt, obgleich der Sabbatstag bei den Engländern und andern Völkern den Namen des Saturday führt, womit bei den Ägyptiern die Woche ihren Anfang nahm.♦
  Man sieht hieraus, wie sich die Sachen im Verlaufe der Zeiten ändern, und man darf daher daraus, weil im J. 1818 Saturn regirt, nicht schließen, daß ein Multiplum von 7 Jahren seit der ägyptischen Weltschöpfung verflossen sey. Auch folget daraus, weil Moses schon die Jubeljahre kennt, noch nicht, daß man zu seiner Zeit schon die Länge eines Jahres auf 365 Tage berechnete, weil auch im Mondenjahre, kurz in jedem Jahre, dessen Tagezahl nicht durch 7 theilbar ist, ein ähnlicher Kreislauf von 7 Jahren, obwol in einer verschiedenen Ordnung der Planeten, Statt findet, wie denn
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  in einem Numaischen Jahre von 355 Tagen die Planeten nach ihrer natürlichen Ordnung, in einem Sonnenjahre von 365 Tagen nach der Ordnung der Wochentage die Regirung führen. Man hat zwar aus der Beschreibung der Sündflut das mosaische Jahr auf 365 Tage nach heutiger Weise berechnen wollen; allein da ein fünfmonatlicher Zeitraum vom 17ten des 2ten Monates Genes. VII, 11. bis zum 17ten des siebenten Monats Genes. VIII, 4. zu 150 Tagen berechnet wird, so sieht man offenbar, daß jeder Monat im Leben Noahs, welches nach Genes. XI, 29. auf 950 Jahre stieg, 30 Tage, mithin ein jedes Jahr zu 12 Monaten 360 Tage zählte, wozu die Ägyptier und Babylonier, wie die Neufranken, am Ende des letzten Monats 5 Ergänzungstage fügten. Dieses zur Antwort für die, welche, um die Glaubwürdigkeit der biblischen Sagen zu retten, der Patriarchen Lebensjahre auf ein Viertheil herabsetzen, ohne an das Mißverhältniß zwischen der Zeugungsfähigkeit und Lebensdauer oder daran zu denken, daß dann Henoch den Methusalah schon in einem Alter von 16 Jahren, Sems Nachkommen aber schon in einem Alter von 7 — 8 Jahren ihre Söhne erzeugt hatten; nun noch Etwas über den verschiedenen Anfang des Tages.
  Die Rangordnung der Tageszeiten ist von jeher eben so verschieden gewesen, als die Rangordnung der Theile des Jahres. Wenn die römischen Dichter, welche auch den Sommer oder die Sonnenzeit für das Jahr nahmen, die Tage schlechthin durch soles oder luces bezeichneten; so galt dagegen bei allen gallischen und germanischen Völkern, die auch die Jahre nach den traurigen Wintern zählten, die Nacht mit dem Monde als dem Manne für den Haupttheil des Tages, welchen die Edda als einen Sohn der Nacht darstellt; und die noch üblichen heiligen Abende mit dem wöchentlich wiederkehrenden Sonnabend zeigen, daß unsere Vorfahren den Tag mit dem Abende anfingen, wie die Araber und Juden, bei denen alle Schöpfungstage aus Abend und Morgen zusammen gesetzt sind, statt daß bei den Griechen und Römern der Tag, von der Eos oder Aurora geführt, mit dem Morgen anbrach.♦
  Wenn man versichert, daß die Römer den bürgerlichen Tag (denn vom natürlichen Tage kann hier keine Rede seyn) mit der Mitternacht anfingen, statt daß die Umbrier den Mittag zum Tagesanfange wählten; so ist dieses nur von den Astronomen zu verstehen, welche, wie die heutigen Italiener, 24 Stunden des bürgerlichen Tages zählten, aber nicht, wie diese, vom Abende an zählten, sondern wie wir, von der Mitternacht. Bei den römischen Astronomen bestimmt die Mittagslinie, welche man nach Plin. VII, 60 zu Rom daraus erkannte, wenn der Rathsdiener die Sonne zwischen der Rednerbühne und dem griechischen Gesandtenhause stehn sah, den Mittelpunkt des Tages, wogegen unsere Astronomen mit der Mittagsstunde zu zählen anfangen.♦
  Seit der Erfindung der Schlaguhren hat man den 24stündigen Tag in zwei gleiche Hälften getheilt, um sich die Mühe des langen Zählens zu ersparen, und dadurch dem Tage einen doppelten Anfang, zu Mittage und Mitternacht, gegeben. Nur die Italiener behielten bis auf unsere Zeiten die volle Reihe von 24 Stunden bei, welche sie von einem Sonnenunter-
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  gange bis zum andern fortlaufen lassen.♦
  Zwölfstündige natürliche Tage kannten die Römer schon, ob diese gleich die Nacht nur in Viertheile oder Nachtwachen theilten; man darf aber diese schon darum nicht mit den zwölf Stunden des bürgerlichen Tages verwechseln, weil der natürliche Tag immer mit dem wahren Sonnenaufgange beginnt und mit dem Sonnenuntergange endet, die Zwölftheile desselben also Winters und Sommers verschiedene Länge haben, wogegen die 24 Stunden des bürgerlichen Tages durchaus gleiche Länge behalten, aber nur am Mittage stets auf einen gleichen Punkt des natürlichen Tages fallen. So wie die erste Stunde des natürlichen Tages mit Sonnenaufgange begann, so die erste Nachtwache mit Sonnenuntergange.♦
  Die Griechen hatten schon zu Herodot's Zeiten (II, 109) dieselbe Stundentheilung von den Babyloniern gelernt: denn daß die Babylonier nicht den natürlichen, sondern den bürgerlichen Tag in zwölf Stunden getheilt hätten, so daß eine babylonische Stunde zwei heutigen europäischen gleich gewesen, sagt Herodot auf keine Weise. Es ist vielmehr ganz der zoroastrischen Lehre gemäß, daß die Babylonier blos die Lichtzeit als den Tag betrachten, und dieselbe mit dem Morgen anfingen, so wie es von den Persern die Geschichte von des Darius Hystaspis Erwählung zum Könige bestätigt.♦
  Hienach ist denn auch wol die Meinung zu berichtigen, als hätten die Athener, mit dem Sonnenuntergange anfangend, den bürgerlichen Tag in zwölf gleiche Stunden getheilt, die man bei Tage nach Sonnen-, in der Nacht nach Wasseruhren bemerkt hätte. Eben daraus aber, weil die zoroastrische Religion den Sonnenaufgang als den Anfangspunkt des Tages bestimmte, floß auch die vom Orient in den Occident verpflanzte, und bis auf den heutigen Tag beibehaltene Gewohnheit, die Ordnung der Weltgegenden mit dem Osten zu beginnen, wie schon der Ausdruck des Orientirens andeutet.
  Die Verschiedenheit des Orientirens ist, um mich nicht allzu sehr in Kleinigkeiten zu verlieren, die letzte Betrachtung, welche ich nun noch anzustellen habe. Obgleich die Magnetnadel des Compasses, die mancherlei Abweichungen derselben ungerechnet, immer nach Norden zeigt, so betrachten wir doch, indem wir uns orientiren, den Ostpunkt als den ersten, wonach wir alle übrigen Weltgegenden bestimmen.♦
  Offenbar ist dieses ein Überbleibsel aus der Zeit des alten Aberglaubens, in welcher die Morgengegend als die vornehmste galt. Denn wenn auch die Alten die merkwürdige Eigenschaft des Magnetes noch nicht kannten, so hätten sie doch aus der Beschaffenheit der Bäume, deren Nordseite aus ganz natürlichen Ursachen flacher zu seyn pflegt, auf die erste Bestimmung des Nordens verfallen können, wann nicht Licht und Leben, Ost und Segen, für gleichbedeutend gegolten hätten, weßhalb man auch das Paradies in den Osten versetzte, dorthin sein Gesicht beim Gebete wandte, und nach dieser Weltgegend hingekehrt die Tempel und Kirchen, wenigstens die Hochaltäre, baute. Hienach bestimmen sich die Benennungen vorn und hinten, rechts und links, in den Bezeichnungen der Weltgegenden und Länder des Alterthums. Die Hebräer nannten den Morgen die vordere, den Abend die hintere Ge-
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  gend, und in der Bibel ist der Mittag zur rechten, die Mitternacht zur linken Hand. Dasselbe war bei den asiatischen Griechen der Fall, daher Homer 1) sagt:
  Jene sowol, die da wohnen zum Tagslicht und zu der Sonne,
Als auch jene dahinten, zum nächtlichen Dunkel gewendet.
  Denn daß bei Homer überall, wie schon Damm richtig bemerkt, und auch Strabo 2) und Achill. Tat. 3) es verstehen, ζόφος, im Gegensatze von ἠὼς ἠέλιός τε, den Westen bedeute, wo die Sonne untergeht 4), nicht, wie Voß aus Homers falscher Bestimmung der Lage Ithaka's 5) schloß, den Norden, geht nicht blos aus dem homerischen Hymnus in Apoll. Pyth. 258 hervor, sondern aus Homers Ilias 6) selbst, wo der Dichter das levantische Gebiet der Trojer unter die Länder zählt, die ὑπ ἠῶ τ' ἠέλιόν τε liegen. Dieselbe Bestimmung findet sich noch bei Pindar, welcher Nem. p. 112. Gades πρὸς ζόφον liegen läßt, und bei Herodot, bei dem 7) die Indier am äußersten πρὸς ἠῶ καὶ ἡλίον ἀνατολὰς wohnen.♦
  Mehr hierüber anzuführen, verbietet der enge Raum dieses Aufsatzes: dagegen muß bemerkt werden, daß die oben angeführte Bestimmung der vordern und hintern Gegend bei Homer nur für das gemeine Leben galt, da man dem Morgen darum den Vorzug gab, weil die Sonne im Osten ihren Lauf beginnt. In religiöser Beziehung, wenn man den Vogelflug als wahrsagend beobachtete, wandten die Griechen ihr Gesicht gegen Norden, um die licht- und heilbringende Gegend des Morgens zur Rechten zu haben. Darum sagt Homer 8) von den vorbedeutenden Vögeln:
  Ob sie rechtshin fliegen, zum Tageslicht und zu der Sonne,
Oder auch links dorthin, zum nächtlichen Dunkel gewendet.
  So orientiren sich auch Platon und Aristoteles 9), weil der Osten das Princip aller lokalen Bewegung, mithin die rechte Seite sey 10). Wieder anders verfuhren die spätern Astronomen 11), welche, sich nach dem Laufe der Sonne richtend, den Norden für die rechte, den Süden für die linke Seite erklärten, nach der Analogie des Flüsselaufes, wobei man das Gesicht den Fluß abwärts kehrt, und dann das Ufer zur rechten Hand das rechte, das zur linken Hand das linke nennt.♦
  Die ägyptischen und phönikischen Astronomen beurtheilten das Rechts und Links am Himmel auf dieselbe Weise, Plut. de Is. et Osir. 32. Daher sich nach Herodot 12) die Phönikier bei ihrer Beschiffung Afrika's wunderten, die Sonne rechts, d.h. nördlich zu sehen. Umgekehrt verfuhren die tuskischen und römischen Augurn, welche nach Liv. 13), Dion. Hal. 14), Hygin 15) den Norden für die linke, den Sü-
 
  • 1) Od. XIII, 240 f.
  • 2) I. p. 59.
  • 3) p. 161.
  • 4) z. B. Od. III, 335.
  • 5) Od. IX, 26.
  • 6) V, 267.
  • 7) III, 98. 106. IV, 44.
  • 8) Il. XII, 239 f.
  • 9) Plut. Plac. philos. II, 10. Stob. p. 34. Euseb. XV, 41. Galen. XI. p. 35.
  • 10) Arist. de coel. II, 2. de anim. inc. 4. phys. IV, 8. 14.
  • 11) Cleom. Cycl. theor. I, 1. Achill. Tat. in Arat. phaen. p. 154 und 169. Manil. I, 387. Stob. Ecl. I, 16. p. 360 und I, 52. p. 990. cf. Lucan. III, 248.
  • 12) IV, 42.
  • 13) I, 18.
  • 14) II, 5.
  • 15) de limit. const.
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  den für die rechte Seite erklärten, oder auch dem Varro 16) zufolge ihr Gesicht nach Süden wandten, um das, was aus der rechten Hand der Himmlischen kam, mit der linken zu empfangen, weshalb Jupiter bei Ovid 17) den Süden zur Linken hat. Man kann hieraus die Falschheit der Verse beurtheilen:
  Ad boream terrae, sed coeli mensor ad austrum:
Praeco dei exortum videt occasumque poeta;
  worin blos der Anfang in sofern richtig ist, als wir auf unsern Landkarten, nach Anleitung des Compasses, gemeiniglich das Gesicht gegen Norden wenden. Mehre andere Betrachtungen ähnlicher Art, namentlich über die Windrose der Alten, muß ich der Kürze wegen andern Gelegenheiten überlassen.
 
2) artistisch Anfang. 2) In artistischer Hinsicht. Der Anfang ist dem Ende entgegen gesetzt, mithin das Erste eines Ganzen, welchem nichts vorher geht, was aber selbst allem Andern vorher gehen muß, wenn das Ganze vollständig seyn, und weder zu viel, noch zu wenig Theile enthalten soll.♦ ⇧ Inhalt 
  So leicht dieser Begriff eines Anfanges scheint, so selten wird er begriffen, oder vielmehr so oft wird dagegen gefehlt, so daß man das Sprichwort: Aller Anfang ist schwer, auch wol auf den Begriff des Anfanges anwenden kann. So wie man nicht immer daran denkt, daß jedes Ding zu seiner Vollkommenheit nicht blos einen Anfang und ein Ende, sondern auch ein Mittel haben muß, ohne welches es gar nicht seyn, geschweige denn ein Ganzes ausmachen würde; so glaubt man nur gar zu oft, daß jeder Beginn schon ein Anfang sey, oder wenn man auch ahnet, daß nur der rechte Beginn den Namen eines Anfanges verdiene, so weiß man doch nicht recht, worin der wahre Anfang zu suchen sey.♦
  Der Beginn ist auch das Erste in der Reihe der in einander greifenden Handlungen, womit die Ordnung der darauffolgenden anhebt, und ohne welches diese nicht zur Wirklichkeit gelangen würden. Aber so wie nicht jeder Anfang ein Beginn ist, da ein Anfang überall sich denken läßt, wo eine Reihe oder Folge gedacht wird, mithin auch Gegenstände des Raumes einen Anfang haben; so verdienet nicht alles, womit man beginnt, den Namen eines Anfanges, sondern nur das, womit man beginnen muß, um dem Ganzen seine Vollendung zu geben, so daß weder Übermaß, noch Mangel bemerkbar sey. Denn so wie kein Ganzes eines Anfanges entbehren kann, so ist es fehlerhaft, dem Anfange noch Etwas vorauszuschicken, welches nicht zum Ganzen gehört.♦
  Man sieht hieraus, daß man zuvor begriffen haben muß, was zur Vollkommenheit eines Dinges gehöre, ehe man den wahren Anfang desselben zu beurtheilen vermag. Daher, die häufigen Verstoße der Dichter, welche den Anfang der dargestellten Haupthandlung nur nach einem dunkeln Gefühle zu bestimmen pflegen; daher die noch häufigern Verirrungen der Kanzelredner, die, weder vom Gefühle noch von Begriffen geleitet, ihren Predigten nur ein Mittel, aber weder Anfang noch Ende zu geben verstehen. Man muß wissen, daß der Beginn nur dann ein Anfang sey, wenn er zum Ganzen nicht blos nothwendig, sondern gerade derjenige Theil ist, ohne welchen alle übrige keine Wirklichkeit haben.
 
  • 16) L. VI. 2. cf. Cic. de divin. I, 17.
  • 17) Met. II, 839.
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  Stellt man sich das Ganze, eine Reihe von Handlungen wie eine Kette von Begebenheiten vor, so macht dann der Anfang das erste Glied aus, welches zur Vollständigkeit nicht fehlen darf, und dessen Vorhergehendes als Überfluß erscheint.♦
  Man muß ferner wissen, daß, wenn ein Ganzes nicht blos Einheit, sondern auch Überschaulichkeit, folglich auch die Haupthandlung eines Gedichtes keinen zu großen Umfang haben soll, der Anfangspunkt derselben von ihrem Endpunkte keinen zu weiten Abstand, mithin das Mittel keine zu weite Ausdehnung haben muß. Dieses ist es, was Horaz ein Rapere in medias res nennt, welches die Einfältigen so auslegen, als ob der Dichter sein Kunstwerk nicht mit dem Anfange, sondern mit dem Mittel der Handlung anheben müsse. Will man den Horaz nicht mißverstehen, so muß man bedenken, daß nach dessen Urtheile ein Homer nicht mit dem Ei der Leda anhebe, um einen Helden vor Troja zu besingen, sondern aus der ganzen Reihe von Handlungen nur den Zorn des Achilles heraushebe, und diesen vollständig nach Anfang, Mittel und Ende schildere, während alles Übrige von der Geschichte des trojanischen Krieges außer dem Gesichtskreise des Dichters liege, und höchstens nur gelegentlich als Episode eingeschaltet werde.♦
  Wer eine Reihe von Begebenheiten so darstellt, daß man erst das Mittel derselben erfährt, dann den Anfang oder etwas Vorhergehendes, welches nothwendig zum Ganzen gehöret, und zuletzt wieder das Ende oder etwas Nachfolgendes vornimmt, der hat die Sachen verwirrt vorgetragen, und kann weder auf Ordnung, noch auf Klarheit und Deutlichkeit Ansprüche machen.
  Wie in der Redekunst das exordium den Zuhörer von dem Gegenstand unterrichtet, über welchen die Rede sich verbreiten soll, von welchem der Redner seine Zuhörer zu unterhalten gedenkt, eben so muß auch der
Anfang eines Tonstückes Anfang eines Tonstückes dem Zuhörer das Gefühl der Tonart einprägen, welche die Haupttonart des Stückes werden soll. Es ist darum der Natur der Sache am gemäßesten, jedes Stück nicht nur in der Tonart anzufangen, welche darin als Haupttonart gelten soll, und das Gehör sich die Haupttonart erst einprägen, darin sich erst festsetzen zu lassen, bevor man ihm Nebentonarten beut. Wenigstens ist dieses, wenn auch nicht unbedingt nothwendig, doch das einfachste und natürliche, und eben darum auch das gewöhnlichste. Aus gleichem Grunde ist es auch natürlich, schicklich und gewöhnlich, mit dem tonischen Akkord selber anzufangen, und zwar ohne Umstaltung desselben. ⇧ Inhalt 
  Dies alles ist das natürlichste und gewöhnlichste: doch nicht gerade immer nothwendig. Vielmehr können Abweichungen vom Gewöhnlichen oft nicht nur fehlerlos, sondern zuweilen von guter Wirkung seyn.
  1) Ich sagte: es ist gewöhnlich, den tonischen Dreiklang, mit welchem das Tonstück anhebt, ohne Umstaltung erscheinen zu lassen. Man findet indessen doch auch Tonstücke, wo die tonische Harmonie am Anfang in irgend einer Umgestaltung erscheint.
  a) So findet man nicht selten am Anfang eines Tonstückes den tonischen Akkord in verwechselter
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  Lage; namentlich oft in Recitativen, z. B. in Haydns Schöpfung:
  {Noten}.
  auch in blos zweistimmigen Sätzen, z. B. für zwei Waldhörner, wie in folgenden Stellen aus Winters Opferfest, und einer Haydn'schen Sinfonie:
  {Noten}.
  Seltener noch als Anfänge in erster Verwechslung sind die in zweiter. In der Ouverture zu Voglers Castor und Pollux beginnt der Trauermarsch aus d-moll mit der Harmonie d in zweiter Verwechslung:
  {Noten}.
  Ehemals war man so ängstlich in Ansehung des Anfangs mit dem Quartsextenakkord, daß man in allen Lehrbüchern noch die Regel findet, man dürfe — nicht nur kein Tonstück, sondern auch nicht einmal einen neuen Abschnitt desselben also anfangen; allein wie einnehmend schön ein neuer Periode auch mit der tonischen Harmonie in zweiter Verwechslung anheben könne, beweist unter andern auch die im Artikel Ausweichung unter Ziff. 17 angeführte Stelle des Mozartschen Klavierquartetts, wo nach dem Fermate ein neuer Hauptperiode mit dem neuen tonischen Akkord As in zweiter Verwechslung anfängt.
  b) Daß der tonische Dreiklang beim Anfang eines Stückes auch wol mit Auslassung eines Intervalls erscheint, kann man schon an den oben angeführten Beispielen sehen.
  Solche Anfänge haben das Eigene, daß das Gehör, indem es Anfangs blos zwei Töne vernimmt, eine Zeitlang zweifelhaft bleibt, welche Harmonie es höre. So kann z. B. in dem obigen Satz Ziff. 2 das Gehör die Töne gis und h eben so gut für die Harmonie des weichen Dreiklanges Gis mit ausgelassener Quinte nehmen, als für E in erster Verwechslung mit ausgelassenem Grundton, und folglich, zumal beim erstmaligen Anhören nicht wissen, ob es ein Anfang in gis-moll oder in E-dur sey. Darum besitzen also solche Anfänge doch immer nicht ganz die Eigenschaft, dem Gehöre der Haupttonart des Stük-
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  kes gleich Anfangs bestimmt einzuprägen, und sind deshalb mit Recht mehrdeutig zu nennen.
  Ein Beispiel, wo solche Mehrdeutigkeit besonders fühlbar ist, liefert der Anfang eines J. Haydn'schen Violinquartettes aus h-moll.
  {Noten}.
  welches sogar bis in den zweiten Takt hinein eher aus D-dur als aus h-moll zu gehen scheint.
  Man findet aber nicht selten Tonstücke, welche sogar mit Auslassung zweier Intervalle der tonischen Harmonie anfangen: entweder blos mit der tonischen Note allein; oder allein mit der Quinte derselben, oder gar, (wiewol sehr selten), allein mit der eigentlichen Terz der tonischen Harmonie.
  Bei solchen Anfängen tritt denn natürlicher Weise die erwähnte Unbestimmtheit in noch weit höherem Grade ein, indem das Gehör, wenn es ein Tonstück blos z. B. mit der Note c anfangen hört, nicht weis, ob es dieselbe für die Grundnote von C oder von c, für die Quinte von F oder von f, wo nicht gar für die große Terz von As oder für die kleine von a, halten soll.
  Zwar wird es sich einen solchen einzelnen Ton wol am einfachsten und natürlichsten als tonische Note erklären, und wenn ein Stück mit der Note c allein anfängt, vorläufig annehmen, das Stück werde aus c gehen; ob aber aus C-dur oder c-moll, kann es vollends gar nicht errathen.
  Dagegen gewährt diese Art ein Tonstück anzufangen auch wieder den Vortheil, daß nach solchem trockenen Eingange die demnächst eintretende vollständige Harmonie dem Gehör um desto willkommener und wohlthuender erscheint.
  Unter die Anfänge mit blos einem einzigen Tone der tonischen Harmonie gehört auch die sehr gewöhnliche Art ein Tonstück im Auftakt oder Aufschlag allein mit dem Tone der fünften Stufe der Tonleiter anzufangen, z. B.
  {Noten}.
  c) So wie der tonische Akkord, mit welchem ein Tonstück gewöhnlich anzufangen pflegt, auch wol in verwechselter Lage und mit Auslassung eines oder gar zweier Intervalle erscheinen kann, so kann auch gar füglich mit einer Brechung des tonischen Akkordes angefangen werden. Auch diese Art ein Tonstück mit einer nicht vollstimmig zugleich ausschlagenden sondern nur gebrochen nach und nach erscheinenden Harmonie anzufangen, gewährt so ziemlich denselben Vortheil, den wir oben von dem Anfange blos mit einer einzigen Note des tonischen
S. 67 Sp. 2 ANFANG
  Dreiklanges erwähnt: daß nämlich die demnächst eintretende vollständige Harmonie dem Gehör um desto wolthuender und angenehmer erscheint: wie z. B. beim Anfang des schönen Mozartschen Violinquintettes aus D-dur:
  {Noten}.
  2) Wir haben bis hieher Fälle gesehen, wo ein Tonstück zwar mit der tonischen Harmonie, aber in Umstaltungen, anfing.
  Man kann aber auch wol ein Tonstück nicht mit der tonischen Dreiklangsharmonie, sondern mit einer andern der Tonart eigenthümlichen Harmonie anfangen.
  Namentlich sind Anfänge mit der Hauptseptimenharmonie nicht sehr selten. So fängt z. B. ein Violinquartett von J. Haydn aus B-dur folgendermaßen an, zwar in der Hauptonart B- dur, aber nicht mit der Harmonie B:
  {Noten}.
  Von derselben Art ist auch der Anfang des ersten Finales aus Cherubinis Oper Graf Armand, (Les deux journées) aus Es-dur:
  {Noten}.
  Cherubini hat hier die herrlichste Wirkung dadurch erreicht, daß er bei dieser Scene voll allgemeiner Spannung und Erwartung, während eines vollen 44 Takte langen Crescendo, die Modulation sich fast nur um diesen Dominantenakkord herumdrehen, den tonischem Dreiklang aber immer nur zuweilen und blos vorübergehend und in ganz unbefriedigenden und unvollkommenen Gestaltungen herrühren, und so die Erwartung, das Verlangen des Gehörs nach dem tonischen Akkorde immer länger hinhalten, die Spannung immer höher steigern läßt, bis endlich erst bei den Worten: „Dank dir gütige Vorsicht!" das überströmende Gefühl Aller in dem vollen tonischen Es-Akkord mit entscheidender Kraft herrlich ergreifend zusammenströmt. (Schade, daß die herrliche Stelle gleich darauf bei einer weit geringfügigern Gelegenheit erscheint, und — mißbraucht und entkräftet wird, nämlich da, wo das Mädchen sich ent-
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  schließt — nicht mit zum Tanz auf die Hochzeit zu gehen).
  Etwas seltener sind Anfänge mit einer Neben-Harmonie. Doch beginnt der an genialen Sonderbarkeiten unerschöpfliche Beethoven eine Klaviersonate aus Es-dur mit der weichen Septimenharmonie der zweiten Tonstufe:
  {Noten}.
  3) Wir haben nun gesehen, daß Tonstücke mit der gleichwol umgestalteten tonischen Harmonie anfangen können, und daß auch wol selbst mit einer andern leitereigenen Harmonie ein Tonstück angefangen werden kann.
  Man kann aber ein Tonstück allenfalls auch wol gar mit einer Harmonie anfangen, welche der Haupttonart des Stückes fremd ist, also eigentlich in einer andern Tonart als in der Haupttonart des Stückes. Beispiele hievon sind zwar selten, doch nicht unerhört.
  Eines kommt vor in der bekannten Beethovenschen Sinfonie aus C-dur (Nr. 2), welche folgendermaßen anfängt:
  {Noten}.
  Hier ist die erste Harmonie der Tonart C-dur fremd; die Sinfonie fängt also eigentlich in F-dur an, wendet sich aber freilich sogleich nach C-dur, und behandelt von da in C-dur fortwährend als Haupttonart. Eine Eigenheit, welche neu und von guter Wirkung ist.
  Im Ganzen sind indessen solche vom Gewöhnlichen und Natürlicheren abweichende Anfänge allemal mit Behutsamkeit, sparsam und nur da zu gebrauchen, wo man gute Ursache zu haben glaubt, einen Schritt vom Einfachen und Natürlichen abzuweichen.
   
HIS-Data 5139-1-04-060-5: Allgemeine Encyclopädie 1. Sect. 4. Th.: ANFANG HIS-Data Home
Stand: 25. November 2017 © Hans-Walter Pries