HIS-Data
Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-15-101-4
Erste Section > Fünfzehnter Theil
Werk Bearb. ⇧ 15. Th.
Artikel: CANSTATT
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum S. 107 : 101
Siehe auch: HIS-Data Can
Hinweise: Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Bearbeitung
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Forts. S. 101 Sp. 1 CANSTATT, der Name eines Oberamtsbezirks und einer Stadt im Neckarkreise des Königreichs Wirtemberg.♦  
  Der Oberamtsbezirk umfaßt 1 ½ Quadratmeile, worauf nicht weniger, als 20,803 Menschen leben, welche sich größtentheils vom Boden nähren. Er enthält 1 Stadt, 3 Marktflecken, 16 Dörfer und Weiler, 3 Höfe, mit 2719 Haupt- und 1190 Nebengebäuden, in einem Brandversicherungs-Anschlage von 2,215,775 fl. Das steuerbare Grundeigenthum besteht in 12,790 wirtemberger Morgen Acker, 2406 M. Wiesen, 4859 M. Weinberge, 3989 M. Gärten und Baumgüter, 5115 M. Wald und 417 M. Weiden — zusammen 29,576 M. Der Viehstand besteht in 347 Pferden, 6527 Stück Rindvieh, 3160 Stück Schafen etc. Die Zahl der Mühlen und Werke ist 42, der Wirthschaften 134, der Getränkefabriken 32; Die jährliche Statssteuer beträgt: a) Grundsteuer 19,297 fl., b) Gebäudesteuer 6608 fl., c) Gewerbssteuer 4442 fl. Der Bezirk gehört zu den fruchtbarsten des Königreichs und hat starken Weinbau; seine Bevölkerung ist die stärkste des Landes. —♦  
  Canstatt, die Stadt, liegt unter 26° 53' L. 48° 48' Br., 1 Stunde von Stuttgart, am Neckar, dessen Spiegel hier 658 P. F. über der Meeresfläche erhaben ist. Sie zählt 3654, mit Fremden nahe an 4000, meist evang. Einwohner, ist Sitz eines Oberamts, Oberamtsgerichts, eines evang. Dekanats, einer Cameralverwaltung, eines Oberamtsarztes , eines Oberzollamtes und einer Salzfaktorei. Die Stadt ist mit Mauern, Graben und 4 Thoren versehen; an dieselbe schließen sich 2 kleine, erst in neuern Zeiten entstandene, Vorstädte an, eine dritte und bedeutendere Vorstadt, die alte Neckarvorstadt, liegt auf dem linken Ufer des Neckars und ist mit der Stadt durch eine hölzerne, auf steinernen Pfeilern ruhende Brücke verbunden, welche eine Hauptbrücke des Landes, übrigens in sehr  
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  schlechtem Zustande ist. Die Vorstadt hieß ehedem Brie, Bria, auch Pria, vielleicht durch Versetzung von Ripa. Der Namen der Stadt wird sehr verschieden geschrieben, die älteste und der wahrscheinlichen Ableitung am nächsten kommende ist Canstatt, Canstat. Die Lage der Stadt ist äußerst angenehm, die Stadt selber aber unregelmäßig und unfreundlich. Die Einwohner theilen sich in zwei Gemeinden, eine lutherische und reformirte, wovon jede ihre eigene Pfarrkirche hat; die reformirte Gemeinde zählt jedoch nicht mehr als 17 Mitglieder. Sie ist ein Nest der aus ihrem Vaterlande vertriebenen Waldenser und Hugenotten, welche sich im J. 1699 und später in Canstatt niedergelassen haben.♦  
  Die Einwohner nähren sich vom Wein- und Feldbau, zum Theil auch von Gewerbe und Handel. Unter den Gewerben zeichnen sich 2 Türkischrothfärbereien, verbunden mit Baumwollspinnereien und eine Tabaksfabrik aus. Der Handel besteht hauptsächlich in Speditionshandel, welcher zu Wasser und zu Land, neuerlich besonders thätig von dem Hause Keller, betrieben wird. Der Neckar ist von Canstatt an abwärts schiffbar und es befindet sich bei der Stadt ein Krahn. Ein wichtiger Nahrungszweig für die Stadt sind auch ihre Bade- und Brunnenanstalten.♦  
  Der Boden der Stadt enthält einen seltenen Reichthum von Mineralquellen. Man zählt ihrer, außer mehren kleinern Quellen, nicht weniger als 9 Hauptquellen. Es sind durchaus sogenante Sauerbrunnenquellen, welche bei einer Temperatur von 15 bis 16 Gr. R., ein salinisch kohlensaures Wasser von sehr wirksamen Eigenschaften liefern. Die Bestandtheile der Trinkquelle und mehr oder weniger auch der andern Quellen in 1 Pfd. Wasser sind: kohlensaures Gas 23,33 Cz. salzsaure Kalkerde 0,142 Gr., salzsaure Bittererde 0,05 Gr., salzsaures Natrum 19,50 Gr., schwefelsaures Natrum 7,75 Gr., schwefelsaure Kalkerde 11,20 Gr., schwefelsaure Bittererde 2,125 Gr., kohlensaure Kalkerde 7,142 Gr., kohlensaure Bittererde 0,142 Gr., kohlensaures Eisenoxyd 0,142 Gr. Diese Quellen gaben schon vor mehren Jahrhunderten und, wie man aus neuern Entdeckungen zu vermuthen berechtigt ist, schon zur Zeit der Römer Veranlassung zu einer Badeanstalt. Aber erst in neuern Zeiten fing Canstatt an, in die Reihe des eigentlichen Kurorte einzutreten, und seit 15 Jahren erhielt es 3 ganz neue Badeanstalten nebst einer Brunnenanstalt, welche insgesamt sehr gut eingerichtet und stark besucht sind. Die Badeanstalten sind sämtlich Privateigenthum, der Brunnen ist öffentliche Anstalt. —♦  
  Außerdem beschränken sich die öffentlichen Anstalten auf die gewöhnlichen Schulanstalten wirtemb. Landstädte, und eine Spitalanstalt wurde neuerlich durch Abbruch der Gebäude in eine bloße Almosenspende verwandelt. In frühern Zeiten hatte C. das Hauptpostamt von Wirtemberg, im J. 1807 wurde es aber nach Stuttgart verlegt; es war eines der ältesten in Teutschland und sein Sprengel erstreckte sich auch über die Nachbarländer. Die Stadt liegt im Mittelpunkt aller Hauptstraßen des Landes, und eignet sich deßwegen auch vorzüglich zu einer Postanstalt. Im September wird alljährlich das landwirthschaftliche Centralfest zu Canstatt gehalten.  
  Bei der Stadt, am Fuße des Kahlensteins, steht Bellevue, ein einfaches kgl. Landhaus mit einem Garten,  
S. 102 Sp. 1 CANSIERA ⇧ Inhalt 
  worin der jetzige König seinen Sommeraufenthalt zu nehmen pflegt. Auf dem Kahlensteine, einem reizenden Hügel mit herlicher Aussicht, dessen Name neuerlich in Rosenstein verwandelt worden ist, läßt der König gegenwärtig ein Sommerschloß bauen und dem ganzen Berge wird zu dem Ende eine andere Form gegeben, eine Riesenarbeit, woran schon mehre Jahre gearbeitet wird.  
  In geschichtlicher Hinsicht ist C. einer der merkwürdigsten Orte in Wirtemberg. Sein Ursprung fällt in die Zeiten der Römer, und noch werden täglich römische Denkmäler aller Art gefunden. Der Name Canstatt selbst komt schon im J. 708 vor, da Herzog Gottfried von Allemannien eine Urkunde zu Canstat ad Neccarum ausstelte. Im J. 746 hielt Karlmann zu Canstatt das große Landgericht, worauf er die widerspenstigen Herzoge von Allemannien und Baiern verurtheilte, und 777 stelte Karl der Große eine Urkunde zu C. aus.♦  
  Bis ins 14. Jahrh. wurden hier die alten Landgerichte gehalten und bis auf diese Zeit war C. auch der Hauptort des alten Wirtembergs. Im J. 1330 wurden der Stadt von K. Ludwig IV. auch alle Rechte und Freiheiten verliehen, wie sie die benachbarte Reichsstadt Eßlingen hatte. Lange war C. auch, wie gemeiniglich die Hauptorte eines Gaues, der Sitz eines Rural-Capitels, und in seine 3 Kirchen, wovon jetzt aber 2 — die Uffkirche und die altenburger Kirche — eingegangen sind, war die ganze Umgegend, in die altenburger Kirche selbst Stuttgart bis 1320, eingepfarrt. Aber theils die Bedeutung der Stadt, theils ihre Lage brachten mancherlei harte Schicksale über sie, und es wurde fast kein Krieg in Teutschland geführt, wo sie nicht hart mitgenommen worden wäre. Im J. 1796 lieferte hier der General Moreau bei seinem Übergang über den Neckar dem Erzherzog Karl ein Treffen.— ♦  
  Auch in naturhistorischer Hinsicht ist C. merkwürdig; es ist insbesondre ein Hauptfundort fossiler Knochen von dem Mammuth und andern Thieren einer vorgeschichtlichen Zeit *).
 
  • *) Vgl. Canstatt u. se. Umgebungen von J. D. G. Memminger. Stuttg. 1812. 8, und über die Mineralquellen insonderheit, außer mehren allgemeinen Schriften, Canstatts Mineralquellen und Bäder von J. C. S. Tritschler. Stuttg. 1823. 8. (H.)
 
   
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Stand: 16. Februar 2018 © Hans-Walter Pries