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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-16-154-2
Erste Section > Sechzehnter Theil
Werk Bearb. ⇧ 16. Th.
Artikel: CHARAKTER
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum 160 : 154
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CHARAKTERISTISCHER TON ⇨

   
Forts. S. 154 Sp. 1 CHARAKTER, nach der etymologischen Bedeutung des Worts (vom griechischen charakter, Stämpel, Gepräge) die Summe der Merkmale, durch die ein Ding sich von anderen Dingen, oder eine Klasse oder Gattung von anderen Gattungen unterscheidet.♦  
  Ein sehr fruchtbarer Begriff in mehren wissenschaftlichen Beziehungen, besonders in Beziehung auf die moralischen Eigenschaften eines Menschen, oder einer Klasse von Menschen. Daß man in einigen Sprachen auch die Buchstabenzeichen Charaktere, und in Teutschland zuweilen gar den Titel eines Menschen seinen Charakter nennt, geht den eigentlichen Begriff von Charakter nichts an.  
  Der Klassen- und Gattungscharakter muß zuerst unterschieden werden von dem individuellen Charakter. In der Naturgeschichte ist gewöhnlich nur von Klassen- und Gattungscharakteren die Rede. Das  
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  Individuelle wird da als etwas bloß Zufälliges betrachtet. Der Botaniker, der nach dem Linné'schen System eine Pflanze beschreibt, gibt die Merkmale an, nach welchen die Pflanze zu dieser oder jener Klasse, Gattung und Art- (species) von Gewächsen gehört. Auf dieselbe Art kann man in allen Theilen der Naturgeschichte verfahren, wobei dann natürlicher Weise Vieles darauf ankomt, nach welchem Princip man die Dinge entweder ihrer ganzen natürl. Beschaffenheit nach, oder aus noch besonders ausgewählten, die Anwendung erleichternden Merkmalen oder, wie man es nent, künstlich klassificirt. Aber durch genauere Kentniß eines natürlichen Körpers lernt man auch nicht selten, daß solche Körper, z. B. Mineralien, bis dahin irrig als zu einer Species gehörend betrachtet wurden, weil man einige ihrer wesentlichen Merkmale nicht kante, oder sie für bloß zufällig ansah.♦  
  In moralischer Beziehung ist es oft noch viel schwerer, die Klassen- und Gattungscharaktere genau zu bestimmen, z. B. den Charakter einer Nation, eines Standes. Die teutsche Nation hat sich nur zu oft eine charakterlose Nation nennen lassen müssen, weil ihr Eigenthümliches, besonders von der vortheilhaften Seite, nicht so leicht ins Auge fällt, wie das Eigenschaftliche mehrer andern Nationen. Leichter ist es schon, die moralischen Eigenschaften einer Klasse von Menschen in Beziehung auf einen aus der allgemeinen Moral besonders hervorgehobenen Begriff zu bestimmen, z. B. den Charakter des Geizigen, des Gecken, des Schmeichlers. Vortrefflich sind die Charakterzeichnungen dieser Art von Theophrast, die auch in mehre Sprachen, unter andern ins Französische von La Brüyère gut übersetzt sind. Ähnliche, vorzüglich gelungene Charakterzeichnungen finden sich in der Moral von Platner, im zweiten Theile seiner philosophischen Aphorismen.♦  
  Aber man muß von solchen allgemeinen Charakterzeichnungen nicht erwarten, daß sie in einzelen Fällen genau zutreffen sollen; denn jeder wirkliche Charakter eines Menschen ist zugleich ein individueller; daher benimt sich z. B. jeder Geizige allerdings im Allgemeinen wie alle Geizige sich benehmen, aber jeder auch auf seine eigene Weise; und diese kann so viel Eigenthümliches haben, daß er andern Geizigen wenig ähnlich erscheint, während er doch nicht weniger geizig ist.♦  
  Auf dem Theater wird das Bestreben des Schauspielers, einen Charakter im Allgemeinen zu repräsentiren, leicht zur falschen, nämlich unnatürlichen, Repräsentation. Der Schauspieler soll, wie der dramatische Dichter, nie vergessen, daß er ein bestimtes Individuum mit einer bestimten Individualität darzustellen hat. Wo diese fehlt, ist die Darstellung frostig, und auf dem Theater gewöhnlich übertrieben.  
  Individuelle Charaktere richtig zu zeichnen, ist eine besondere Aufgabe für den epischen und den dramatischen Dichter, aber auch für den Geschichtschreiber. Unter allen älteren und neuern Dichtern möchte wol Shakspeare der größte Meister in dieser Kunst zu nennen seyn. Daher haben alle Charaktere in seinen Schauspielen eine innere Wahrheit und Lebendigkeit, die nur bei wenigen andern Dichtern ihres Gleichen findet. Die in den Lustspielen so oft wiederkehrenden dramatisirten Allgemeinheiten, z. B. der Alte (Vejete) in den  
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  spanischen Komödien, oder die Gertruden und Valere auf dem französischen Theater, sind nur matte Abdrücke der menschlichen Natur. Ein wahrhaft individueller und natürlicher Charakter in einem Schauspiele kann darum doch auch ein idealer seyn, z. B. die Iphigenie von Goethe. Aber selbst großen Dichtern kann begegnen, daß ihre idealen Charaktergemälde in das Unnatürliche fallen, wenn der dichterischen Phantasie nicht eine wirkliche Individualität lebendig vorschwebt. Gegen Schiller's bewundernswürdige Jungfrau von Orleans läßt sich in dieser Hinsicht Vieles einwenden.  
  Die Historiographie gewint durch treffende Charakterzeichnungen eben so sehr an Belehrung für den Verstand, als an ästhetischem Interesse. Aber historische Charakterzeichnungen sollen wahre Bildnisse seyn; und um dieß zu seyn, müssen sie so angelegt und ausgeführt werden, daß das Individuelle, ganz der historischen Wahrheit gemäß, sprechend in ihnen hervortritt. Nun gehört schon ein seltenes Talent dazu, das Individuelle eines Charakters, den man persönlich kent, treu aufzufassen und in einer Beschreibung auszudrücken, etwa so, wie es dem La Brüyère, dem Übersetzer der Charaktere des Theophrast, in seinem eignen geistvollen Werke, gelungen zu seyn scheint, ob man gleich die Originale zu seinen Bildnissen selbst gekant haben müßte, um zu wissen, ob sie getroffen sind.♦  
  Aus historischen Nachrichten die Züge zu einem solchen Bildnisse zusammenzusetzen, kann nur einem Schriftsteller von sehr hellem psychologischen Blicke und einem eben so feinen, als ruhigen Beobachtungsgeiste gelingen. Daher erscheinen auch dieselben Personen, in den Werken verschiedener Geschichtschreiber die aus denselben Quellen schöpften, so sehr verschieden. Sehr wenige Geschichtschreiber verstehen, wie Tacitus, mit wenigen Zügen uns ein ganzes Bild, sogar von dem Äußern einer merkwürdigen Person, vor das Auge zu rücken, z. B. in der Beschreibung des liebenswürdigen Imperators Titus durch die Züge: Decor oris cum quadam majestate.♦  
  In der Phantasie eines idealisirenden Geistes werden leicht auch historische Charaktere zu idealen. Als Schiller seine Geschichte des Abfalls der Niederlande von der spanischen Regirung schrieb, suchte er den Dichter in seiner Person zu verläugnen; aber so ernstlich es ihm auch um historische Wahrheit zu thun war, verwandelte doch seine Phantasie ohne sein Wissen, den König Philipp II., den Prinzen Wilhelm von Oranien, und einige andere, in dieser Geschichte hervorragende Charaktere in Ideale.  
  Je nachdem man einen individuellen Charakter entweder im Ganzen, oder nur von gewissen Seiten ins Auge faßt, unterscheidet man auch wol den öffentlichen Charakter eines merkwürdigen Mannes von seinem Privatcharakter, weil Mancher im öffentlichen Leben sich anders, zuweilen viel würdiger, benimt, als im Privatleben. In demselben Sinne kann der literarische Charakter eines Schriftstellers sich sehr von dem eigentlich wesentlichen Charakter dieses Schriftstellers unterscheiden. Aber auch diese Unterscheidungen hören auf, genau zu seyn, wo das Privatleben in das öffentliche Leben übergeht, oder wo auch der eigentlich persönliche Charakter eines Schriftstellers, oder eines Künstlers, unverkenbar in seinen Werken erscheint.  
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  Der allgemeine Begriff von Charakterlosigkeit ist eben so schwankend. Denn ganz charakterlos kann kein menschliches Individuum seyn. Aber wie die Züge und die ganze Form eines Gesichts so matt und unbedeutend seyn können, daß sie fast nichts ausdrücken: so hat auch der individuelle Charakter mancher Menschen sehr wenig Hervorstechendes oder Bemerkenswerthes, wodurch er sich von Andern ihres Gleichen unterscheidet. Eben so wenig zeichnen mehre Menschen sich durch das Ganze ihrer eigentlich moralischen Eigenschaften weder von der guten, noch von der bösen Seite, sehr merklich aus. In demselben Sinne, wie man solche Menschen charakterlos nent, spricht man auch von charakterlosen Kunstwerken und Schriften.♦  
  Solche Menschen können gleichwol einen festen Willen und eine beharrliche Geistesrichtung, also dasjenige haben, was man noch in einer besondern Bedeutung des Worts Charakter nent. Aber Menschen, in deren Charakter mehre Züge scharf hervortreten, haben gewöhnlich auch von Natur eine bestimtere Geistesrichtung und, weil der Wille gewöhnlich der natürlichen Richtung folgt, einen bestimtern und beharrlichern Willen. Deßwegen heißt dieser Zug in einem Charakter, das bestimte und beharrliche Wollen, auch wenn es in Starrsinn übergeht, vorzugsweise Charakter, und wird mit Recht geschätzt, weil auf Menschen, die, wie man zu sagen pflegt, selbst nicht wissen, was sie wollen, wenig zu rechnen ist.
   
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Stand: 13. März 2018 © Hans-Walter Pries