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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-37-460-1
Erste Section > Siebenunddreißigster Theil
Werk Bearb. ⇧ 37. Theil
Artikel: ERZIEHUNG
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
Siehe auch: Wikipedia: Erziehung
Zedler: Erziehung derer Kinder
Hinweise: Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Bearbeitung
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ERZIEHUNG (physische) ⇨

     
Forts. S. 460 Sp. 2 ERZIEHUNG. Rousseau sagt in seinem Emile: Nous naissons foibles, nous avons besoin des forces; nous naissons dépourvus de tout, nous avons besoin d’assistance; nous naissons stupides, nous avons besoin de jugement. Tout ce que nous n’avons pas à notre naissance et dont nous avons besoin étant grands, nous est donné par l’éducation — und dehnt hier, wie in dem unmittelbar Folgenden, wo er von der éducation de la nature, des hommes und des choses spricht, den Begriff der Erziehung sehr weit aus. Er versteht darunter Alles, was das hilflose Kind zu einem freien, selbständigen Wesen macht, und schließt weder die Entwickelung jedes Einzelnen durch den gewöhnlichen Lauf der Natur, noch die absichtslose Einwirkung der Umgebungen auf die Zöglinge aus, ja selbst der Gedanke an eine Beschränkung des Begriffs mit Rücksicht auf das Alter scheint ihm an diesen Stellen ganz fern gelegen zu haben.♦
  In diesem Sinne kann hier von Erziehung nicht die Rede sein, wie man denn auch gewöhnlich einen andern Begriff damit zu verbinden pflegt. Gewöhnlich beschränkt man das Wort auf das Knaben- und Jünglingsalter, wo die physische und moralische Reise noch nicht vollendet ist, und bezieht es bald nur auf die absichtlichen Einwirkungen Anderer auf die leibliche und geistige Entwickelung der unmündigen Menschheit; bald steckt man dem Begriffe, den man damit verbindet, noch engere Grenzen, indem man nicht selten Erziehung und Unterricht von einander scheidet. Eine ähnliche Verschiedenheit im Gebrauche der entsprechenden Wörter educatio, agogē u. s. f. findet auch bei Römern und Griechen statt. Ich sehe hier natürlich von dem Gegensatze, worin Erziehung und Unterricht häufig zu einander gedacht werden, ganz ab, und halte mich an die Bedeutung des Wortes, welche ich eben als die gewöhnliche bezeichnet habe.
  Dabei kann es mir nur darauf ankommen, die allgemeinsten Grundsätze der Erziehung mit Rücksicht auf die Praxis unter den bedeutendsten Völkern zu entwickeln. Die Theorie ist in dem Artikel Pädagogik gleichfalls mit Rücksicht auf die bedeutendsten Leistungen der classischen Völker des Alterthums, wie des Mittelalters und der neuern Zeit besprochen.
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  Die Erziehung kann nichts schaffen, wozu kein Keim in dem Zöglinge vorhanden ist; sie hat es lediglich mit der Pflege und Wartung dessen zu thun, was sie in dem Menschen findet; sie kann nur entwickeln und bilden. Hierauf führt zunächst die Sprache, welche in ihren Lauten gewöhnlich auf das Treueste verkündet, welchen Gang die Entwickelung der Begriffe und Ideen bei den verschiedenen Völkern genommen hat.♦
  Die Ausdrücke, womit die Hebräer den Begriff des Erziehens bezeichnen, {hebräischer Text} sind alle von Wurzeln herzuleiten, die auf das Bestimmteste beweisen, daß sie dabei nur an ein Großziehen, Vermehren, Erhöhen der in dem Kinde liegenden Kräfte gedacht haben. Selbst {hebräischer Text} a. r. {hebräischer Text}, auf dem Arme tragen (Klagel. 4, 5), heißt eigentlich nur ein Wärter (4 Mos. 11, 12). ♦
  Ebenso bezieht sich tréphein bei den Griechen ursprünglich nur auf das Fest- und Starkmachen, und wird dann auch von Pflanzen gebraucht, wie denn auch umgekehrt solche Ausdrücke, welche zunächst auf die Cultur der Pflanzen gehen, auf die Erziehung der Menschen übergetragen werden. Hierher ist sogar agōgē und anagōgē zu zählen, deren Abstammung von ágein überdies unwidersprechlich erweist, daß darin ursprünglich nur der Begriff der Leitung und Führung gelegen habe. Dasselbe gilt von dem lateinischen educare und educatio, wie denn auch unser teutsches „Ziehen" nichts Anderes als die Kraftäußerung bezeichnen kann, vermöge welcher wir einen Gegenstand ausdehnen, verlängern, fortbewegen. Wie die Sprache, so erweist auch die Erfahrung aller Zeiten, daß der Erzieher keinen neuen Keim in seine Zöglinge pflanzen könne; es liegt ihm nur die Wartung und Pflege der vorhandenen ob; er soll dieselben nur so behandeln, daß sie Stengel treiben, die zu ihrer Zeit Blüthen und Früchte tragen.
  Darum muß er zuvörderst der Natur folgen — ein Grundsatz, den man in der Praxis gewiß zu allen Zeiten befolgte, der sich jedoch in der Theorie erst seit Rousseau allgemeine Geltung verschafft hat. Selbst die Pädagogen, welche die menschliche Natur seit Adam's Fall für böse und verderbt halten, können sich, wie weiland Amos Comenius, nicht mehr ganz von ihm losmachen, während die Consequentesten, besonders nach Jean Paul's Vorgange, wieder in Übereinstimmung mit der Praxis aus ihm einen andern, nicht minder wichtigen, herleiten. ♦
  Soll der Erzieher seinen Zöglingen blos zur Entwickelung, Bildung und Vollendung ihrer ursprünglichen Natur behilflich sein, so hat er nicht blos auf das Gemeinsame, was den Charakter der menschlichen Gattung überhaupt ausmacht, sondern auch und vornehmlich auf das Eigenthümliche jedes Einzelnen zu achten, jedoch nicht so, daß er von Anfang an ein einzelnes, hervorstechendes Talent unter Vernachlässigung des ganzen Menschen mit besonderer Vorliebe ausbildete, sondern, immer in dem bewußten Streben, Alles aus dem Kinde herauszubilden, was einer Ausbildung fähig ist. ♦
  Es ist nach A. H. Niemeyer's Ausdruck so wenig blos der Körper, als der Geist, so wenig blos der Verstand, als das Herz, so wenig blos das Gefühl, als die Vernunft; es ist der ganze Mensch, den er ins Auge fassen soll, und auch
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  dieser Grundsatz findet in der Praxis der verschiedenen Völker und Zeilen in sofern seine Bestätigung, als sich aus der Geschichte der Erziehung nachweisen läßt, daß er im Verlauf der Jahrhunderte, und namentlich seit dem Auftreten und Verbreiten des Christenthums, eine immer größere Geltung gewonnen hat.
  Bei den Griechen der heroischen Zeit herrschte die Rücksicht auf das Physische vor. Denn obschon Achilles, das Ideal dieser Zeit, ebenso wol musisch als gymnastisch gebildet ist, obschon Phönix, auf den letzten Zweck der Erziehung in dieser Zeit hinweisend, sagt (Ilias IX, 402):
  {zwei Zeilen griechische Verse}
  und obschon wir an den Höfen des Menelaus, Ulysses und Alcinous musische Bildung antreffen, so führt doch der ganze Ton des heroischen Zeitalters auf die Annahme, daß in der Praxis ein höherer Werth auf die gymnastische, als auf die musische Bildung gelegt worden. Erklärt doch Laodamas, indem er den Ulysses zur Theilnahme an den Wettkämpfen auffodert (Odyss. VIII, 147. 148), gradezu:
  {zwei Zeilen griechische Verse}
  Und erscheint doch die Gymnastik viel ausgebildeter als die Musik; denn während die verschiedenartigsten gymnastischen Übungen erwähnt werden, als Laufen, Ringen, Springen, Werfen mit dem Wurfspieß und mit dem Diskus, Faustkampf, Bogenschießen, Wagenrennen, Kampf in Waffen und Tanz, lassen sich im Grunde nur Gesang und Saitenspiel als die für das Leben bildenden musischen Künste nennen. Die Idee der kalokagàthía mag Einzelnen vorgeschwebt haben; zu ihrer Verwirklichung kam es im heroischen Zeitalter nicht; indessen würde sie gewiß aus den vorhandenen Keimen, sowol im Peloponnes als unter den kleinasiatischen Griechen, reiner entwickelt und im Leben immer vollendeter dargestellt sein, wenn nicht dort die Einwanderung der Dorier, hier besonders die Nähe des Orients einen eigenthümlichen und in gewisser Beziehung hemmenden Einfluß geübt hätte; wenigstens finden wir jene Idee unter den Doriern, wie unter den Joniern in Kleinasien, nur in einer einseitigen Entwickelung vor. Bei jenen überwog das Gymnastische, bei diesen das Musische. ♦
  Der Beweis für diese Behauptungen liegt, was die Spartaner, als die hauptsächlichsten Repräsentanten des Dorischen Stammes anlangt, theils darin, daß die Institutionen ihres Staates zu einer Zeit stationair wurden, wo der musischen Bildung noch sehr enge Grenzen gesteckt waren, theils in dem politischen Geiste dieser Institutionen selbst; denn diese waren insgesammt nicht blos aus Erweckung von Gemeinsinn, sondern auch und vornehmlich auf Belebung eines kriegerischen Geistes berechnet. Die Knaben wurden nicht blos, wie bekannt, schon in der frühesten Kindheit (mit dem siebenten Lebensjahre) dem Familienleben entrissen und der allgemeinen öffentlichen Disciplin unterworfen, sondern diese trug auch einen rein militairischen Charakter an sich. (Aristot. Pol. VII, 2.) Die Teilnahme der Mädchen und Jungfrauen an den gymnasti-
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  schen Übungen, die zeitige Gewöhnung der Kinder an Durst und Hunger, Hitze und Kälte, das Dringen auf dürftige Kleidung und schmale Kost, das Verbot warmer Bäder, die Sitte des Stehlens und der Kryptie zeigen das ebenso deutlich, als die eigenthümliche Gestaltung, welche die Gymnastik und die Musik in Sparta, unter dem Einflusse des kriegerischen Geistes, der dort alle Lebensverhältnisse durchdrang, annahmen. ♦
  Man muß in dieser Beziehung, ohne die Bedeutung des religiösen Moments in beiden Künsten für die richtige Würdigung des Dorischen Lebens zu verkennen, im Betreff der Gymnastik besonders auf den Umfang der kriegerischen Spiele unter den Spartanern, auf den Eifer, womit grade diese Spiele getrieben wurden, sowie auf die ausgedehnte Anwendung der Pyrrhiche, eines Tanzes, der nach Plato alle vorsichtigen Wendungen zum Vermeiden von Stößen, sowie alle auf den Angriff des Feindes berechnete Bewegungen darstellte, hinweisen, während die spartanischen Embaterien und Enoplien den kriegerischen Charakter, den selbst das musische Treiben in Sparta angenommen hatte, außer Zweifel setzen. Hatte aber, wie schon nach diesen allgemeinen Andeutungen nicht in Abrede gestellt werden kann, die Verfassung des spartanischen Staates eine militairische Tendenz, so mußte die Gymnastik um so gewisser als Hauptbildungsmittel in den Vordergrund treten, je augenfälliger es war, daß sie unmittelbarer und kräftiger zum Kriege vorbereitete, als die Musik.
  Dagegen sagte die unbequeme Gymnastik dem weichlichen Sinne der kleinasiatischen Jonier nicht lange zu; sie trat bald in den Hintergrund und wurde endlich nur noch von denen getrieben, die sich zu eigentlichen Athleten ausbilden wollten, während das Musische an Umfang gewann, aber zugleich seine Bedeutung als Erziehungsmittel für das sittliche Leben verlor.
  Nur in Athen durchdrangen sich beide Elemente eine Zeit lang; nur hier strebte man, so lange die alte Zucht, aus der die Sieger bei Marathon hervorgegangen waren, die herrschende blieb, nach der harmonischen Ausbildung des Leibes und der Seele. Die Athenische Jugend hatte einen dreifachen Curs durchzumachen: den gymnastischen bei den Pädotriben in den Palästren, den musischen im engern Sinne bei den Kitharisten und den wissenschaftlichen bei den Grammatisten. Und Alle, die es irgend vermochten, schickten ihre Knaben in diese Schulen; denn nur wer sich die in ihnen überlieferte Bildung zu eigen gemacht, galt für einen freien, gebildeten Mann, wie denn in der That die Idee der kalokagàthía auf diesem Wege am sichersten erfüllt und wirklich Großes erreicht wurde. ♦
  Die Vorübungen zum Fünfkampf, wie dieser Kampf selbst, zu dem die Jünglinge methodisch angewiesen wurden, gaben dem Körper Kraft und Gewandtheit, und wäre ja noch etwas Rohes und Wildes zurückgeblieben, — schon die Orchestik, welche gleichzeitig eintrat und als Übergang von dem gymnastischen zum musischen Treiben anzusehen ist, war vollkommen geeignet, jeder Beirrung dieser Art vorzubeugen, und der Gymnastik, die allerdings ursprünglich nur für den Körper geordnet sein mochte, zugleich einen wahrhaft sittlichen Einfluß zu
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  sichern. Einen solchen übte auch der Curs bei dem Kitharistes, der die Jugend in der Handhabung musikalischer Instrumente, namentlich der Kithara, in Versbau, Rhythmik und Melodik unterwies. Alles war bei ihm, wie Jacobs sagt, harmonisch und Eins. Die Worte ernst, fromm und belehrend, die Rhythmen großartig und feierlich, die Melodie einfach und angemessen. ♦
  In der Schule des Grammatistes endlich, wo nicht blos die ersten Elemente, besonders Lesen und Schreiben, getrieben, sondern auch dafür gesorgt wurde, daß die Knaben mit den Gedichten der trefflichsten Dichter bekannt wurden, namentlich mit denen des Homer, Hesiod, Theognis u. s. f., erhielt der Geist weitere Nahrung und Ausbildung, und doch erscheint auch diese Erziehung, selbst in der Zeit, auf welche schon Aristophanes mit Bewunderung zurückblickt, einseitig. Sie erfaßte nicht den ganzen Menschen. Das ästhetische Element überwog, wie denn das griechische Leben überhaupt von der Idee des Schönen getragen wurde, ohne dem Gemüthe die Nahrung zu geben, welche der germanische Volksstamm nach seiner Eigenthümlichkeit mit Recht fodert, und welche besonders in dem Heiligthume eines heitern Familienkreises zu finden ist. Aber ebendieses Heiligthum blieb den Griechen verschlossen. Selbst in Sparta, wo die Hausfrau noch am meisten Geltung hatte, während sie bei den Joniern, besonders in Athen, in ganz unwürdigen Verhältnissen lebte, war von keinem Familienleben die Rede.
  Anders in Rom. Hier wuchsen die Kinder im Schooße der Familie, in unbedingter Abhängigkeit vom Vater, unter den Augen der Mutter auf. Die Erziehung war eine educatio domestica, und nur in sofern zugleich eine einfache Unterweisung zum Patriotismus, als die Bürger, vom Geiste des öffentlichen Lebens durchdrungen, diesen Geist auch in ihren Familienkreisen geltend machten. Von dieser Seite betrachtet scheint die Erziehung, wie sie sich unter den Römern gestaltete, Vorzüge vor der griechischen zu haben; es scheint beim ersten Blick, als ob in Rom die gerügte Einseitigkeit der Hellenen vermieden wäre. Aber näher betrachtet ergibt sich, daß man hier nicht einmal den Gedanken einer harmonischen Ausbildung des Leibes und der Seele faßte, geschweige ihn, soweit es die Eigenthümlichkeit der Nationalität zuließ, verfolgte. Man verschmähte die aus dem Bereiche des Schönen entlehnten Erziehungsmittel der Hellenen, die Gymnastik wie die Musik, und blieb, auch nachdem unter griechischem Einflusse die wissenschaftlichen Curse bei dem Grammatisten, dem Grammaticus und dem Rhetor geordnet waren, in praktisch-verständiger Richtung dem höheren Leben des Geistes abhold. Dazu fehlte den Römern, wie den Griechen, indem ihre religiösen Ideen der Wahrheit entbehrten und durchaus mit bedenklichem Aberglauben verkettet waren, ein sicheres Fundament für das Gedeihen ihrer sittlichen Bildung.
  In dieser Hinsicht hatten die Juden einen wesentlichen Vorzug vor beiden. Die Lehre von einem Gott, dem allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, die Überzeugung, daß von ihm sowol die Geschicke der Einzelnen, als die des ganzen Volks bis zum Eintreten des
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  messianischen Reichs geleitet würden, sowie die Vorstellungen von diesem Reiche selbst, bewirkten, daß in der geistigen Entwickelung der Nation das religiöse Element das vorherrschende blieb. Daher hat die hebräische Sprache, obschon in jeder andern Beziehung arm, doch für religiöse Begriffe einen großen Reichthum und eine bedeutende Gewandtheit entwickelt; daher fassen und behandeln die Historiker die Geschichte ihres Volkes durchaus von theokratischem Standpunkte; daher wird die Gesetzgebung, durch welche selbst das Privatleben oft in das geringste Detail geregelt ist, als eine unmittelbare Offenbarung Jehova's betrachtet; daher geht das Wenige, was sich von Philosophie bei den Juden findet, von religiösen Betrachtungen aus, oder kommt auf dergleichen zurück; daher sind die Poesie und Prophetie, die höchsten Blüthen, welche der jüdische Geist getrieben, entweder ganz unmittelbare Ergüsse religiöser Begeisterung, oder stehen doch fast ausschließlich im Dienste der Religion, und ebendaher trägt denn auch die Erziehung unter den Juden einen durchaus religiösen Charakter; aber über der Religion wird nicht blos die Ausbildung des Leibes vergessen, sondern es kann auch zuerst wegen der Rohheit des Zeitalters, dann wegen der aufkommenden hierarchischen Tendenzen das eigentlich wissenschaftliche Leben nicht gedeihen. Auch die Erziehung unter den Juden erfaßte also den ganzen Menschen nicht, ja das rein Menschliche trat bei allen bisher besprochenen Erziehungsweisen hinter dem Nationalen auf erschreckende Weise zurück.
  Erst das Christenthum machte die reine Auffassung und consequente Durchführung jenes Grundsatzes möglich. Denn wie es als die Religion der Liebe die Schranken, welche die Nationen, die Geschlechter und Stände von einander trennten, der Idee nach stürzte, so enthielt es auch gleich bei seinem Eintritte in die Welt nicht blos die lautersten Anschauungen von Gott und unserm Verhältnisse zu ihm, sondern sein Stifter trug dieselben auch in einer durchaus faßlichen und populairen Form vor, ohne im vollen Bewußtsein der Wahrheit seiner Lehren die wissenschaftliche Forschung irgendwie abzuschneiden oder zu beschränken. Die wahre Wissenschaft kann dem wahren Christenthume nur förderlich sein.♦
  Aber freilich wurde das Alles erst im Laufe der Zeit erkannt. Denn wie Anfangs die Völker in strenger nationaler Abgeschiedenheit verharrten und das weibliche Geschlecht in vielen christlichen Staaten lange in einer dem christlichen Geiste widersprechenden Unterordnung verblieb, ja wie sich sogar die Nationen, welche den abscheulichsten Sklavenhandel trieben, geraume Zeit hindurch besonderer Christlichkeit rühmten, so mußten erst Jahrhunderte vergehen, ehe sich die Christenheit aus den Einseitigkeiten der heidnischen und jüdischen Welt herausarbeitete und den Grundsatz geltend machte, daß die Erziehung den ganzen Menschen erfassen müsse. ♦
  Nach der Völkerwanderung, durch welche die letzten Blüthen classischer Bildung vernichtet und an die Stelle der Studien, welche den Geist allseitig zu bilden im Stande waren, das trivium und quadrivium gesetzt wurden; nach den Zeiten Karl's des
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  Großen, der zwar dem Erziehungs- und Unterrichtswesen in seinem Reiche einen neuen Aufschwung gegeben, indem er Schulen der verschiedensten Art gestiftet, und seinem Volke die Überzeugung nahe gebracht hatte, daß Geistesbildung einen höheren Werth habe als Körperkraft und Gewandtheit, der aber doch mit allen seinen Bemühungen nicht über das trivium und quadrivium hinausgekommen war; nach den Jahrhunderten, wo einerseits das Ritterthum nicht ohne eine religiöse Basis zu haben die körperliche und ästhetische Erziehung darstellte, auf der andern die Geistlichkeit sich durch das Treiben der überlieferten Wissenschaft und unfruchtbarer Scholastik um die Verstandesbildung im Dienste der Kirche abmühete, scheint mir zuerst Victorin Rambaldoni aus Feltre (geb. 1378), in seinen Lehr- und Erziehungsanstalten zu Padua, Venedig und Mantua darauf ausgegangen zu sein, sämmtliche Anlagen seiner Zöglinge harmonisch zu entwickeln. Er suchte den Körper als Träger des Geistes durch Einführung gymnastischer Übungen aller Art ebenso kräftig als gelenk zu machen und den Geist nach seinen verschiedenen Functionen, nicht einseitig, also das Gedächtniß nicht auf Kosten des Verstandes, den Verstand nicht auf Kosten des Gemüths, oder umgekehrt, sondern alle gleichmäßig und methodisch auszubilden, ohne wie andere Vertreter der classischen Literatur in der damaligen Zeit das religiöse Element hintanzusetzen.
  Und was er Einzelnen zu gewähren anfing, das ist nach den Zeiten der Wiederbelebung der Wissenschaften in Teutschland und nach den Zeiten der Reformation Gemeingut geworden. Der Grundsatz, daß die Erziehung den ganzen Menschen erfassen müsse, wird nicht blos aller Orten ausgesprochen, sondern man strebt auch allgemein nach seiner Verwirklichung. Die Beweise für diese Behauptung liegen in der Erneuerung eines methodisch ausgebildeten Turnwesens, woran allmälig das ganze heranwachsende Geschlecht Theil nehmen soll, in dem Streben, die Erziehung des Hauses mit den Grundsätzen, die in den Schulen herrschend geworden sind, in Einklang zu bringen, in der Umsicht, womit die Lectionsplane für die einzelnen Schulen überall angeordnet zu werden pflegen, in der Verbreitung einer den Geist wirklich bildenden Methode, die schon bei dem Elementarunterrichte eintreten kann, endlich in dem Ringen nach einem vernünftigen Christenthume, als der sichersten Grundlage für die Bildung zur Sittlichkeit.
  Ist aber jene Behauptung hierdurch wirklich gerechtfertigt, so richtet sich auch die Einseitigkeit der Ältern und Erzieher von selbst, die sich begnügen, das aus dem Kinde herauszubilden, was es einmal in seinen bürgerlichen Verhältnissen werden soll, ohne an die Entwickelung des rein Menschlichen in dem Zögling zu denken. Denn soll nach jenem Grundsatze der ganze Mensch gebildet werden, so muß doch jede uns als Menschen gegebene Anlage und Fähigkeit ins Auge gefaßt, also zunächst nicht das, was uns zum Ergeifen irgend eines Berufs, sondern das, was uns zu Menschen macht, berücksichtigt werden.
  Und da sich das am lautersten in der Vernunft of-
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  fenbart, so ergibt sich folgerecht weiter, daß die Kräfte nicht blos zu wecken, die Anlage nicht blos zu bilden, sondern gleichzeitig auf Alles hinzulenken ist, was der Vernunft als des Menschen würdig erscheint, oder mit andern Worten, was der Idee des Guten, den Foderungen reiner Sittlichkeit entspricht. Hat der Erzieher diese Aufgabe gelöst, dann ist sein Geschäft vollbracht.
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Stand: 11. Oktober 2017 © Hans-Walter Pries