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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-69-340-2-2
Erste Section > Neunundsechzigster Theil
Werk Bearb. ⇧ 69. Th.
Artikel: GLEICHHEIT II
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
Siehe auch: HIS-Data Gl
Hinweise: Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Bearbeitung
Inhalt:
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  II. Vom Standpunkte der allgemeinen Geschichte der Menschheit und ihrer Cultur, sowie der der Völker und Staaten zeigt sich die Idee der Gleichheit und ihr Gegensatz der Ungleichheit als eine der allerwirksamsten oder bedeutendsten, besonders eben durch den unvermeidlichen Kampf beider mit einander, welcher wenigstens in den Staaten der edlern und gebildetern Völker das Hauptmoment ihrer gesammten innern Politik bildet. Doch ist zum rechten Verständnisse desselben, da alle politischen Thatsachen in das Gebiet des geistigen Menschenlebens, somit seiner wissenschaftlichen Auffassung, in das der psychischen Anthropologie oder Psychologie gehören, vorerst die Frage zu erörtern, ob von diesem Standpunkte aus eine ursprüngliche Gleichheit im Wesentlichen oder eine Ungleichheit der Menschen anzunehmen ist: eine Frage, die in alter, neuer und neuester Zeit sehr verschiedene Beantwortungen gefunden hat und selbst noch findet.♦
  Es sei hier nur an die bekannten und vielbesprochenen Stellen der Politik des Aristoteles erinnert, in welchen die Sklaverei vertheidigt wird (Polit. I, 3, 4, 8; II, 7) 1), was denn auch von dem göttinger berühmten Rechtshistorikcr Hugo, und zwar sogar in seinem sogenannten „Naturrecht" geschehen ist! Unter den neuern Schriftstellern ist besonders vor allen Linguet (Theorie des lois civiles) und der göttinger Professor Meiners zu nennen, der in mehren Abhandlungen seines u. Spittler's Götting. histor. Magazins (besonders 2. Bd. St. III. S. 398 fg. Bd. VI. St. III. S. 387 fg. und St. IV. S. 625 fg), sowie später 1811 in einer be-
 
  • 1) Wie früher der Naturrechtslehrer Meister, so hat neuerdings (1853) Dr. Steinheim den Aristoteles in dieser Hinsicht vertheidigt; s. jedoch Fries, Beiträge zur Geschichte der Philos. 1819. S. 112.
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  sondern Schrift, „Über die Verschiedenheit der Menschennaturen" u. s. w. eine ursprüngliche und wesentliche Ungleichheit behauptet und daraus auch die Rechtmäßigkeit der Sklaverei und des Sklavenhandels deducirt hat. Letztere Ansichten hegt bekanntlich auch die Majorität der Bewohner und Senatoren der Vereinigten Staaten von Nordamerika, in welchen die sogenannte Sklavenfrage in unserer Zeit vor allen andern in den Vordergrund getreten ist, wie aus den „Atlantischen Studien" (Göttingen) und aus der Schrift „Die Sklavenfrage in d. V. St." von Fr. Kapp (Göttingen 1854.) zu ersehen.
  Allein diese Hypothese von einer ursprünglichen und wesentlichen Grundverschiedenheit der Menschennatur muß als irrig bezeichnet werden. Nach den Lehren der Anthropologie und namentlich der Psychologie steht vielmehr eine gewisse ursprüngliche Gleichheit aller Menschen als unbestreitbare, wenngleich in alten, neuern und neuesten Zeiten vielfach bestrittene Thatsache fest, in sofern die Menschheit der richtigern Ansicht nach blos eine Art (species) ausmacht; oder, wenn man eine Gattung (genus) annimmt, so gibt es doch nicht verschiedene Menschenarten wie bei den Thieren (wie z. B. das Affengeschlecht verschiedene Arten und Unterarten hat), sondern nur verschiedene Menschenracen.♦
  Die großen (leiblichen und geistigen) forterbenden Verschiedenheiten in den verschiedenen Menschenstämmen haben ihren Grund nicht in der ursprünglichen Organisation (z. B. mehrer verschiedener organisirter erster Menschenpaare), sondern in dem Einflusse des Klima's (dies Wort im umfassenden Sinne genommen, vergl. Herder's Ideen. 7. Buch. §. 3) und betreffen nicht das Grundwesentliche der Menschennatur, weder in geistiger noch leiblicher Rücksicht.♦
  Jedenfalls steht fest, daß wenigstens der Anlage zur Humanität nach alle Menschen einander gleich sind, wenn auch die eine oder andere Menschenrace, sowie die einzelnen Völkerstämme und unter diesen die Individuen in Hinsicht auf die Ausbildung jener die größte Verschiedenheit zeigen. Sowie die aufrechte Stellung und die Zweihändigkeit, so findet sich auch die Fähigkeit der articulirten oder Wort-Sprache, sowie die Denkkraft, religiöses, sittliches und Rechtsgefühl, oft selbst Sinn für das Schöne und Erhabene bei den niedersten Volksstämmen.♦
  Überall hat der Mensch seinen Verstand angewendet, um sich die Natur und namentlich die Thierwelt zu unterwerfen. Der cultivirte Neu-Europäer erstaunt über die Kunstgriffe, mit welchen der Wilde am Oronoko das Thier im Walde, den Fisch im Flusse berückt; mit welchen der Südländer ohne unsere Eisenwerkzeuge kleine Flotten verfertigt, der Grönländer Wallfische und Eisbäre fängt; erstaunt oft über den feinen Beobachtungsgeist, mit welchem die Menschen auch hier der Natur ihre Geheimnisse ablauschen, die Sitten der Thiere, die Kräfte der Pflanzen ausforschen, um davon für ihre Bedürfnisse Gebrauch zu machen; über den Scharfsinn und die glückliche Ideenverknüpfung, die sie in der Anfertigung ihrer Handwerkszeuge und ihres Hausgeräths
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  entwickeln. Schon dies beweist (was auch Schriftsteller der menschlichen Entwickelungsgeschichte nie genug beherzigen können), daß kein Erdstrich Denk- und Empfindungskraft des Menschengeistes ganz zu unterdrücken vermag 2).
  Gleichheit zeigt sich ferner vom Standpunkte der Psychologie, somit auch der Logik und Ethik ganz offenbar darin, daß in Bezug auf die Vernunft oder Vernünftigkeit als des, wie allgemein anerkannt ist 3), charakteristischen Unterschieds der menschlichen Seele von der thierischen, mithin in der Summa aller wesentlichen Merkmale, diese allen Menschen als solchen ohne Ausnahme zukommt, wobei natürlich vorausgesetzt wird, daß von einer normalen Beschaffenheit des menschlichen Geisteslebens, also abgesehen von allen Geisteskrankheiten, wie beim Blödsinne, Wahnsinne etc. die Rede ist. Wobei übrigens vom Standpunkte des Rechts bekanntlich selbst nach der positiven Gesetzgebung auch den Geisteskranken Rechte zustehen, da in Rechtsverhältnissen der menschliche Körper oder Leib als der Mensch selber betrachtet wird 4).♦
  Demnach gehört es ganz zum Wesen des Menschengeistes, über gleiche Dinge das gleiche Urtheil zu fällen und es ist ein offenbarer Widerspruch mit der Vernunft, wenn wir in einem ganz gleichen Falle ein verschiedenes Urtheil in Rücksicht unserer und Anderer aussprechen, und wenn unser Wille durch solche widersprechende Entscheidungen geleitet wird 5). So unendlich verschieden ferner die Urtheile über Recht und Unrecht, Tugend und Laster u. s. w. bei den verschiedenen Völkern sind, so machen doch alle auf gleiche Weise einen Unterschied zwischen böse und gut u. s. w.♦
  Auch darf nicht vergessen werden, daß die hierbei vorkommenden Verschiedenheiten, abgesehen von den Einwirkungen des egoistischen Interesse, ihren Grund in der Ungleichheit der Ausbildung oder Erziehung, namentlich in der Macht der Vorurtheile, besonders der religiösen und politischen haben, wofür die Geschichte Tausende von Beispielen liefert. Darauf deutet auch die Vorschrift des Christenthums hin, welche alle Ge-
 
  • 2) Vergl. Jenisch, Universalhist. Überblick der Entwickelung der Menschen. 1. Bd. S. 298; Kraft, Sitten der Wilden I.; Heckenwelder, Nachrichten von den indian. Völkersch. 1826.; G. E. Schulze, Psych, Anthropol. §. 34 (S. 58 fg. ed. 3); Carus, Ideen zur Gesch. der Menschh. (Nachgel. Schriften. 6. Bd.) S. 158 fg.
  • 3) Vergl. Scheidler, Psychologie S. 315 fg.
  • 4) So behalten nach römischem Rechte auch wahnsinnig Gewordene ihre Rechtsfähigkeit oder status, und jeder Mensch, der nur mit einer wahren Kopfbildung zur Welt kommt, hat das gleiche Menschenrecht mit allen übrigen. — Wie entscheidend das Physische hierbei ist, zeigt u.A. Hugo in s. Naturrecht. 4. Ausg. 1819. §. 40; „Der verstorbene Schriftsteller Lenz (dessen Werke Tiek herausgegeben und der aus Goethe's Biographie als dessen Freund hinlänglich bekannt ist) ward verrückt, man gab ihn zu einem Schuster in Verwahrung und bei diesem genas er in soweit wieder, daß er nun grade wie ein Schuhknecht dachte und schrieb (Berl. Archiv der Zeit. 1796. Febr.). Es ist aber keine Frage, daß, ob er gleich gewissermaßen ein anderer Mensch geworden war, doch seine juristischen Rechte und Pflichten alle noch fortdauerten, weil dieselbe Thierheit noch ununterbrochen wirkte."
  • 5) Vergl. Cumberland, De lege Nat. Cap. V. Sect. 15, worin dieser Punkt näher erörtert wird.
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  wissensrichterei verbietet 6). Wird doch der Mensch, wie Platon, Aristoteles und Kant lehren 7), und die ganze Geschichte bestätigt, Alles was er wird, wenngleich nicht blos durch die Erziehung doch jedenfalls nicht ohne dieselbe, wie denn auch die thierischsten, affenähnlichsten Menschen nicht etwa die Geisteskranken sind, sondern nur jene ganz verwilderten außer der Menschengesellschaft aufgewachsenen Kinder 8), die übrigens als seltene Ausnahme nur die Regel bestätigen, daß der Mensch überall und immerdar, wenn er sich menschlich, d.h. im Verkehre mit Menschen entwickelt, sich auch als Vernunftwesen zeigt.♦
  Daher war es eine offenbare Verwirrung der Begriffe, welche selbst Männer, wie Linné (Amoen. acad. t. VI), Lord Monboddo (On the origin of language), Moscati (Appendix, della corp. differ.), Darwin (in dem Gedichte „Tempel, Natur"), Lamettrie (Oeuvr. philos.), Virey (Hist. natur, du genre humain, 1800) zu der Behauptung verführte, Mensch und Affe seien Ein Geschlecht; wie denn auch Rousseau bei der Schilderung seines erträumten Ur- oder Naturzustandes der Menschheit auf das Beispiel der Orang-Utang in Ostindien sich stützte, die Vernunft der ersten Menschen blos Wirkung der Gesellschaft sein ließ und den Vernunftkeim im Kinde, sowie die Gleichheit der Anlagen ganz übersah, so sehr er auch die Gleichheit der Rechte, und zwar auch diese ganz auf irrige Weise, verfocht 9). (Daß der neuerdings wieder Mode gewordene Materialismus oder Sensualismus K. Vogt's, Moleschott's, Büchner's und Consorten zu ähnlichen Consequenzen führen muß, sei hier nur beiläufig mit der Hindeutung erwähnt, daß über diese Controverse die gründlichsten Erörterungen in den Blättern f. liter. Unterhalt, vom J. 1856 fg. sich finden.)
  In Bezug auf diese Streitfrage ist zunächst ein Präliminarpunct zu erörtern: nämlich die Frage, ob alle Menschen von Einem ersten Menschenpaare abstammen, oder nicht? Im Bejahungsfalle wäre von selbst auch die fragliche ursprüngliche Gleichheit gesetzt, weshalb man denn auch schon lange über die Autorität der biblischen Erzählungen von Adam und Eva gestritten und daraus Schlüsse zur Erörterung jenes Punkts abgeleitet hat. In der ganzen frühern Zeit, bevor der Autoritäts- oder Inspirationsglaube erschüttert ward, hielt man einfach an jener Mosaischen Darstellung fest; aber nachdem einmal durch die „englischen und französischen" Freidenker jene Gläubigkeit verloren gegangen, fehlte es auch nicht an solchen, die nun Nichts mehr von Einem Adam wissen wollten.
  Natürlich ist hierbei hauptsächlich Voltaire's zu gedenken, da dieser den unermeßlichsten Einfluß auf die gesammte Denkart des vorigen Jahrhunderts gehabt hat, weshalb ihn ja auch erst noch im vorigen Jahr-
 
  • 6) Vergl. Fries, Ethik S. 194.
  • 7) Platon, De rep. lib. VI. Aristotel. Polit. I, 5. V, 7. VII, 12. Kant, Pädag. (Werke, herausgeg. von Hartenstein) X. S. 386.
  • 8) Fries, Psych. Anthropol. II, 170.
  • 9) Carus, Ideen zur Geschichte der Menschheit S. 180 fg.
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  zehnt Cousin den „König des 18. Säculums" genannt hat. In Bezug auf seine Leugnung der gemeinsamen Abstammung hat ihn bereits Albrecht v. Haller widerlegt, ein Mann, mit noch besserem Rechte als der größte, universellste Gelehrte jenes Jahrhunderts mit dem Beinamen „der Große" beehrt und noch heutigen Tages als die erste Autorität unter den Physiologen geltend. Derselbe sagt 10):♦
  Voltaire wollte des Moses Erzählung verdächtigen und die Abstammung aller Völker von einem einzigen Menschen lächerlich machen. Der Vorwand zu seinem Satze ist auf den Grundirrthum gebaut: die verschiedenen Völker, die Weißen und die Mohren, seien durch wesentliche Unterschiede in ihrem Baue ebenso sehr getrennt als ein Palmbaum vom Birnbaum. Dieser Satz ist offenbar falsch. Alle Menschen, die man im Süden und im Norden kennt oder die man täglich in dem großen Meere kennen lernt, das von Patagonien bei dem Vorgebirge der guten Hoffnung vorbei wieder bis nach Patagonien sich erstreckt und die bekannte Welt umgibt, haben ihre Angesichter, ihre Zähne, ihre Finger, ihre Zehen, ihre Brüste, ihren ganzen innern Bau und alle Eingeweide unverändert gleich, ohne den geringsten Unterschied. Wir kennen Abstämmlinge von Thieren, die unstreitig doch, da sie mit einander fruchtbare Thiere zeugen, gleichen Ursprungs sind, und deren Unterschiede unendlich größer sind als jemals zwischen zwei Menschen gefunden worden ist."
  In ganz ähnlichem Sinne erklärt sich einer der größten unserer neuern Naturhistoriker, Blumenbach, in seiner grade speciell auf unsere Frage bezüglichen Schrift: De generis humani varietate nativa 11). Sein Werk schließt mit den Worten (S. 322): Es ist nicht zu bezweifeln, daß alle und jede Varietäten der Menschen aufs Allerwahrscheinlichste zu ein und derselben Species gehören, nicht auf Verschiedenheit der Grundabstammung, sondern auf Rechnung des Klima's, der Nahrung etc. zu setzen sind. In seinen „Beiträgen zur Naturgeschichte" I. S. 56 sagt er: „Es hat Leute gegeben, die ganz ernsthaft dawider protestirt haben, ihr eigenes werthes Ich mit Negern und Hottentotten in eine gemeinschaftliche Gattung im Natursysteme gesetzt zu sehen. — Ein Grillenfänger, der weltberühmte philosophus per ignem Theophrastus Paracelsus Bombastus konnte nicht begreifen, daß alle Menschenkinder zu einer und derselben Stammrace gehören sollten, und schuf sich daher zur Lösung dieses Zweifels auf dem Papiere seine zwei Adame. Nun könnte es zwar wol schon für Manchen etwas zur Beruhigung über diese allgemeine Familienangelegenheit beitragen, wenn ich drei Philosophen ganz anderer Art nennte, die, so sehr verschieden sie auch sonst zu manchen ihrer übrigen Meinungen waren, doch in diesem Punkte vollkommen mit einander übereinstimmten, vermuthlich weil es
 
  • 10) Briefe über einige Einwürfe noch lebender Freigeister. 3. Th. S. 70.
  • 11) Gotting. 1795. ed. 9. Vergl. Blumenbach's Handbuch der Naturgeschichte. II. Ausg. 1825. S. 55.
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  ein Gegenstand der Naturgeschichte ist und alle drei die größten Naturkenner waren, die die Welt neuerlich verloren hat: Haller, Linné und Büffon. Alle drei hielten alle wahren Menschen, Europäer, Neger etc. für bloße Spielarten einer und eben derselben Stammgattung."♦
  Weiter sagt Blumenbach S. 80; „Ich sehe auch nicht den mindesten Scheingrund,, warum ich die Sache naturhistorisch und physiologisch betrachtet, nur irgend bezweifeln dürfte, daß alle Völker aller bekannten Himmelsstriche zu einer und derselben gemeinschaftlichen Stammgattung gehören. — Nur daß, da alle auf den ersten Blick auch noch so auffallenden Verschiedenheiten im Menschengeschlechte bei näherer Beleuchtung durch die unmerklichsten Übergänge und Mittelnuancen in einander fließen, keine andere als sehr willkürliche Grenzen zwischen diesen Spielarten gezogen werden können."♦
  Mit ihm stimmt der berühmteste Kenner der vorsündfluthigen sogenannten Urwelt, Cuvier, ganz überein. Er sagt; „der Mensch bildet nur Eine Gattung" 12). An einem andern Orte sagt er: „Obschon es nur eine Gattung von Menschen gibt, da alle Völker der Erde sich fruchtbar vermischen können, so bemerkt man doch bei verschiedenen Nationen eine eigene Bildung, welche sich erblich fortpflanzt, die Abweichungen in der Bildung machen die verschiedenen Racen aus." Endlich auch der nordamerikanische Geologe Buckland in s. Reliquiae diluvianae. 1823 13).
  So bedeutend diese Autoritäten auch sind, und obgleich auch, wie sich später ergeben wird, selbst ein A. v. Humboldt es dem Christenthume zum höchsten Verdienste anrechnet, den Glauben an die Einheit des Menschengeschlechts zur allgemeinem Anerkennung gebracht zu haben, so haben doch nicht weniger bedeutende Naturforscher, wie z. B. J. Hunter, Boré de St. Vincent, Rudolphi, Burmeister und neuerdings auch englische und nordamerikanische Naturkundige die Annahme jener Abstammung der Menschen von einem einzigen Paare bestritten, und es wird in der That nie über eine solche Frage, die über alle Geschichte hinausliegt, zu einem ganz sichern Endurtheile sich gelangen lassen.
  Indessen muß in Bezug auf unsere Hauptfrage geltend gemacht werden, daß selbst in dem Falle, daß sowie jeder einzelne Welttheil seine besondere Fauna und Flora, so auch seinen eigenen „Adam" oder auch mehre gehabt hat — und irgendwann muß eine Schöpfung des Menschen stattgefunden haben, da mit Recht allgemein angenommen wird, daß das Vorkommen der Menschheit erst einer der neuern Entwickelung des Erdlebens angehört — so kann dennoch eine ursprüngliche Gleichheit im Wesentlichen bei aller noch so großen Verschiedenheit im Äußerlichen in sofern angenommen werden, als eben allen Menschen Vernunft,
 
  • 12) Das Thierreich von Curier, übers. von Schinz. l. Th. S. 172 fg.
  • 13) Vergl. K. v. Raumer's Kreuzzüge. 1840. S. 93 fg. und Gobineau's Essai sur l'inégalité des races humaines (Paris 1849.) 4 Bände (welches Buch dem Verfasser leider! nicht zur Hand ist).
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  wenigstens als Anlage, auf gleiche Weise zukommt. Dies letztere läßt sich nun eben aus der Thatsache mit Sicherheit folgern, daß alle Menschen nicht blos Sprache im weitern Sinne, d.h. eine Kundgabe ihres Innern durch äußere Zeichen, sondern auch eine eigentliche Wort- oder articulirte Sprache haben, worin der aus den Lungen kommende Luftstrom willkürlich abgesetzt oder aufgehalten und durch die verschiedenen Bewegungen des Mundes, besonders der Zunge absichtlich so modificirt wird, um Andern als Zeichen der Vorstellungen oder Gefühle zu dienen 14). So unvollkommen nun eine solche Sprache sein mag, so ist doch in ihr das Vermögen, Begriffe zu bilden, diese zu Urtheilen und Schlüssen zu verarbeiten, mithin die Möglichkeit des ganzen Denkens und Wissens gegeben; grade so, wie wenn ein Volk nur einmal an seinen Fingern und Zehen bis 10 und 20 hat zählen gelernt, ihm auch die Möglichkeit zur gesammten Mathematik erschlossen ist.
  Allerdings ist die Unähnlichkcit der höhern und niedern Menschenracen erstaunlich groß, und auf der niedersten Stufe möchten wol die australischen Papuas stehen, über welche die vor fünf Jahren erschienene Schrift: Australien, seine Goldfelder und seine Heerden, von Fernow (1852), nähere Auskunft gibt. Sie erschienen den europäischen Colonisten so wenig als ihres Gleichen, daß sie dieselben noch im vorigen Jahrzehnt, wo sie ihnen in den Weg kamen, niederschossen oder sie haufenweise vergifteten, und daß ein im Anfange dieses Jahrzehnts erlassenes Gesetz zum Schutze dieser Eingeborenen, die man wie das Känguruh zu jagen sich für berechtigt hielt, mit der größten Entrüstung aufgenommen würde 15). Nichtsdestoweniger müssen auch sie, wie dies auch die englische Regierung ganz richtig erkannte, als Menschen betrachtet und geschützt werden, wie denn überhaupt die größte äußere Unähnlichkeit keinen Beweis für wesentliche Verschiedenheit abgibt.♦
  Die neuere Chemie bietet hierfür ein sehr interessantes Analogon. Was ist sich unähnlicher als der Diamant und die Holzkohle? Jener, der härteste aller Körper, ist dicht, vollkommen farblos und durchsichtig, und sein außerordentlicher Glanz, sowie sein Lichtbrechungsvermögen erhöhen ihn bei der Seltenheit seines Vorkommens zum kostbarsten aller Körper, zum herrlichsten Schmucke, der sich nur denken läßt; wie es denn Millionen Menschen gibt, die nie einen Diamant zu Gesicht bekommen haben, daher schon seine Benennung sofort an die bevorzugte Stellung der höchsten Stände erinnert. Ihm gegenüber nun die düstere Werktagsgestalt der Holzkohle, von schwarzer Farbe, porös und zerbrechlich und so gemein, daß sie nur den Gedanken an die rauchenden Meiler und die rußige Esse, an diese Stätten des entbehrungsvollen Lebens und der schweren Arbeit vor die Seele ruft! Und dennoch sind Kohle und Diamant ganz eine und dieselbe Art von Ma-
 
  • 14) Siehe Monboddo, Über den Ursprung der Sprache, übers. von Schmidt I, 308. II, 138 (vergl. Scheidler, Psychol. 1833. S. 171 u. 430 fg.).
  • 15) Vergl. Weimar. Zeitung vom 29. April 1854.
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  terie; der Diamant nichts Anderes als reiner krystallisirter Kohlenstoff, wie durch die glaubwürdigsten Versuche längst erwiesen ist 16).
  Um auf die Neger zurückzukommen, um deren Anerkennung als Menschen nicht nur in Nordamerika, sondern überhaupt wegen der — erst in diesem Jahre (1858) gelegentlich des Conflicts zwischen Frankreich und Portugal wieder in den Vordergrund getretenen — Unterdrückung des Sklavenhandels es sich vorzugsweise handelt, so mag der Abbé Gregoire in seiner Schrift: De la littérature des Nègres, die Ähnlichkeit derselben mit den Europäern für größer als sie ist ausgegeben haben; immerhin steht durch Sömmering's Schrift: „Über die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer," 1785, fest, daß anatomisch betrachtet der Neger von keiner andern Art ist als der Europäer, und ebenso, daß der Negerstaat von Haiti einen unwiderleglichcn Beweis von der selbst politischen Bildungsfähigkeit dieser Race — zu der ja auch der hoch begabte, von den Franzosen so niederträchtig behandelte Toussaint-l’Ouverture gehört, s. Brockhaus' Convers.-Lexik. u.d.W. — abgelegt hat 17). Nur „Tiger und Hyänen sind nicht zu erziehen und zu belehren, wol aber stets Menschen" 18).
  Daß unter vielen Tausenden des Menschengeschlechts die Vernunft nicht zur Entwickelung kommt und oft in vielen Menschenaltern nicht Einer geboren wird, der sich aus eigener Kraft zu allgemeinen Ideen zu erheben vermag, der zur klaren Einsicht der Wahrheit und des Rechts gelangt, und in welchem die Ahnung des Unendlichen und Ewigen erwacht — dies beweist Nichts gegen die Vernünftigkeit der Menschennatur (wie z. B. Rorarius meinte, der zwei Bücher schrieb: quod animalia bruta saepe ratione utantur melius homine [Helmst. 1726.]).♦
  „Daß von Zeit zu Zeit in Einzelnen der göttliche Funke zur Flamme auflodert, daß das Feuer dieser Einzelnen sich andern mittheilt, von Geschlecht zu Geschlecht weiter angefacht wird, dieses beweist, daß jeder Mensch, stehe er auch auf einer noch so niedrigen Stufe der geistigen Bildung, ein höheres Etwas, wenn auch nicht als Kraft, doch als Vermögen zur Mitgift erhielt," — ist ein wahres Wort eines unserer bedeutendsten neuern Naturforscher, Treviranus, Biologie. 6. Bd. S.11. —♦
  „Ausnahmen des Menschengeschlechts, in sofern sie nur Entwickelungen, nicht Verrenkungen desselben sind, werden endlich Regeln, und wie die Wissenschaft Anfangs nur einige Barbaren, nachher ganze Völker erobert, bis zuletzt ihr fortrückender Lichtausschnitt die ganze Oberfläche der Erde überdeckt, so muß durch die Jahrhunderte das höhere Gefühl (die Ausbildung der Vernunft) nicht mehr die Ausnahme, sondern die Menge beseligen" — sagt Jean Paul (Selina II. 37).
 
  • 16) Siehe Biot's Experimentalphysik und Schödler, Chemie der Gegenwart (Leipzig, Brockhaus, 1854. S. 5. (Vergl. Jean Paul's „Komet.")
  • 17) Vergl. G. E. Schulze, Psych. Anthropol. S. 72. ed. 3.
  • 18) Fries, Handbuch der Ethik S. 99.
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  Somit können wir wol in kulturgeschichtlicher Beziehung die Gleichheit aller Menschen in Bezug auf das Wesentliche der Menschennatur im Körperlichen, wie im Geistigen annehmen; ein Resultat, welches freilich schon theoretisch genommen als geltendes Princip erst sehr spät gewonnen worden und noch jetzt nicht einmal bei den cultivirtesten Nationen praktisch zur Geltung hat gebracht werden können, wie eben der trotz aller Tractate noch von den Franzosen, Spaniern, Nordamerikanern, und selbst von Engländern offen oder heimlich fortbetriebene Sklavenhandel beweist 19).♦
  Andererseits ist auch in dieser Beziehung die Hoffnung festzuhalten, daß die Wahrheit und das Recht doch immer mehr und mehr sich Bahn brechen und die höchste Aufgabe der Menschheit: ein Reich Gottes auf Erden zu gründen, mehr und mehr werde gelöst werden, was durch die Verbreitung richtiger Ansichten allein geschehen kann; „Wissen ist Macht!" gilt auch hier. Wenn Aristoteles zum Preise der Politik bemerkt: „Schon Einen Menschen glücklich machen ist schön und herrlich, aber eine Stadt (einen Staat), das ist göttlich," wie weit herrlicher und göttlicher erscheint es, das himmelschreiendste Unrecht zu beseitigen und möglichst wieder gut zu machen, welches seit Jahrtausenden an zahllosen Millionen unserer Mitmenschen — „unsers Gleichen" — verübt worden, weil man ihre wesentliche Gleichheit verkannte!♦
  Dieser culturgeschichtlich wichtigste Fortschritt ist vorzugsweise dem Christenthume zu danken. Hierher gehört, was Alex. v. Humboldt in seinem „Kosmos" (II. S. 234) von dem edleren Ursprunge des Gefühls von der Gemeinschaft und Einheit des ganzen Menschengeschlechts und der dadurch folgenden gleichen Berechtigung aller Theile derselben gesagt hat: „Jenes Gefühl ist in den inneren Antrieben des Gemüths und religiöser Überzeugungen gegründet. Das Christenthum hat hauptsächlich dazu beigetragen, den Begriff der Einheit des Menschengeschlechtes hervorzurufen; es hat dadurch auf die „ Vermenschlichung" der Völker in ihren Sitten und Einrichtungen wohlthätig gewirkt. Tief mit den frühesten christlichen Dogmen verwebt, hat der Begriff der Humanität sich aber nur langsam Geltung verschaffen können, da zu der Zeit, als der neue Glaube aus politischen Motiven in Byzanz zur Staatsreligion erhoben wurde, die Anhänger desselben bereits in elenden Parteistreit verwickelt, der freie Verkehr der Völker gehemmt und die Fundamente des Reichs mannichfach durch äußere Angriffe erschüttert waren. Selbst die persönliche Freiheit ganzer Menschenclassen hat lange in den christlichen Staaten bei geistlichen Grundbesitzern und Corporationen keinen Schutz gefunden. Solche unnatürliche Hemmungen, und viele andere, welche dem geistigen Fortschreiten der Menschheit, wie der Veredlung des gesellschaftlichen Zustandes im Wege stehen, werden allmälig verschwinden. Das Princip der individuellen
 
  • 19) Vergl. Fr. Kapp, Die Sklavenfrage, 1854, passim, und die Zeitungen vom Herbste des Jahres 1858.
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  und der politischen Freiheit ist in der unvertilgbaren Überzeugung gewurzelt von der gleichen Berechtigung des einigen Menschengeschlechts. So tritt dieses, wie schon an einem andern Orte gesagt worden ist, „als Ein großer verbrüderter Stamm, als ein zur Erreichung Eines Zweckes (der freien Entwickelung innerlicher Kraft) bestehendes Ganzes" auf. Diese Betrachtung der Humanität, des bald gehemmten, bald mächtig fortschreitenden Strebens nach derselben (keineswegs die Erfindung einer neuern Zeit) gehört durch die Allgemeinheit ihrer Richtung recht eigentlich zu dem, was das kosmische Leben erhöht und begeistigt. In der Schilderung einer großen welthistorischen Epoche, der der Herrschaft der Römer, ihrer Gesetzgebung und der Entstehung des Christenthumes, mußte vor Allem daran erinnert werden, wie dieselbe die Ansichten des Menschengeschlechts erweitert und einen milden, langdauernden, wenngleich langsam wirkenden Einfluß auf Intelligenz und Gesittung ausgeübt hat."
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Stand: 13. November 2017 © Hans-Walter Pries