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Zedler: Begierde HIS-Data
5028-3-918-4
Titel: Begierde
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 3 Sp. 918
Jahr: 1733
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 3 S. 474
Vorheriger Artikel: Begie
Folgender Artikel: Begierig sind sie nach des Volckes Sünde
Siehe auch:
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen
  • Transkribierter griechischer Text der Vorlage

  Text   Quellenangaben
  Begierde, Begierden, Leidenschaften des Gemüthes, Bewegungen des Gemüthes, und dessen Neigungen sind in aller Munde. So öffters aber als man sich dieser Wörter bedienet, so sehr ist zu bedauren, daß dieselbe noch nicht eigentlich durch den Gebrauch bestimmet worden.  
  Viele bedienen sich derselben ohne Unterscheid, daher denn in Zusammenhaltung derer moralischen Schriften sowohl alter als neuer Zeiten eine ziemliche Verwirrung entstehet. Wir haben bey dieser Anmerckung Ridigern in der Zufriedenheit c. 8. §. 6. zum Vorgänger, indem er seine Gedancken von denen Wörtern Adfect und Begierde saget, und sich hierbey über den mangelhaften Ausdruck der Teutschen Sprache in Dingen, welche das Gemüth angehen, beklaget. Stehet es denen Gelehrten frey, um die Deutlichkeit in denen Wörtern zu erlangen, von dem Gebrauche abzuweichen, Müller in der Vernunft-Lehre 9. §. 19. 20. 21.
  so wird man nicht nöthig haben, unsern Versuch ohne eine genaue Untersuchung sogleich zu verwerffen: zudem, da wir uns, im Falle wir eines bessern überwiesen würden, gantz gerne unterrichten lassen.  
  Die Kräfte unserer Seelen werden gemeiniglich in den Verstand und Willen eingetheilet. Den Willen pflegen wir auch durch das Gemüth auszudrücken. Es wäre zu wünschen, daß der langwierige Gebrauch nicht allbereit diese Wörter gleichgültig gemacht hätte, indem wir alsdenn nicht nöthig haben würden, dem Willen einen doppelten Verstand zu geben, und ihn einmal vor die gantze Kraft unserer Seelen überhaupt, und das andere mal vor die besondere Würckung derselben bey einer einzelnen That anzunehmen. Alles nun, was in denm Gemüthe vorgehet, oder eine Handlung desselben ist, könten wir überhaupt die Gemüths-Bewegungen nennen. Wir wissen gantz wohl, daß der Gebrauch uns hierinnen zuwider, nachfolgende Ursachen aber möchten vielleicht zeigen, daß diese Veränderung nicht ohne Grund sey:  
 
1) So mangelt uns ein solches allgemeines Wort, welches hier zu eigentlich bestimmet wäre.
 
 
2) So kan dasselbe an andern Orten, wo wir uns dessen bedienen, entbehret werden, weil, wie wir unten sehen werden, gleichgültige vorhanden sind.
 
 
3) So trifft die Etymologie mit dieser Bedeutung gar wohl ein.
 
 
4) So wird man finden, daß dieses Wort auch von denenjenigen, welche es sonst besonders in andern Verstand annehmen, dennoch in Beschreibung allgemeiner Beschaffenheiten des Gemüthes gebrauchet werde. Wie solches aus Ridigers Zufriedenheit 8. in der Zusammenhaltung mit dem l.c. §. 6. erhellet.
 
 
5) So bemercket man, daß andern selbst das Wort Gemüths-Bewegung zu ihrem Ausdrucke zu wenig scheinet, weswegen sie gemeiniglich von heftigen Gemüths-Bewegungen reden. Ehe aber noch das Gemüth in Bewegung, so gehet etwas zuvor, woraus die Gemüths-Bewegung entstehet. Es ist solches die erste Empfindung der Seelen, daß ihr etwas mangele, und dieses wollen wir die Triebe nennen.
 
  Die Gemüths-Bewegungen in dem Verstande, wie wir sie annehmen, äussern sich auf zweyerley Art,  
  {Sp. 919|S. 475}  
  entweder wir begehren etwas, oder verabscheuen etwas. Das erstere heist insonderheit die Begierde. Der Gebrauch schweiffet hierbey auf zwey Seiten aus. Einmal begreifft er unter denen Begierden, sowol den Willen als den Unwillen vor eine Sache, so daß die Begierde und Gemüths-Bewegung gleichgültige Wörter sind. Aus derer ihren Begriffen, welche das Böse nur bloß in die Abwesenheit des guten setzen, möchte dieses können erkläret werden, indem das Gemüthe also immer etwas haben will, oder begehret: doch wollen wir diesen Satz unter dem Titel Böse untersuchen.  
  Da wir auch das Wort Begehren in unserer Sprache finden, so möchte man den Gebrauch in diesem Falle noch Statt geben. Nur dieses eintzige stehet uns im Wege, denselben zu billigen, weil alsdenn die Begierde nicht mit ihrer Etymologie von Begehren überein kömmt. Gleichwol träget es zu der Deutlichkeit derer Wörter sehr viel bey, wenn man dieselben nach ihrer Abstammung verstehen kan. Zum andern so verknüpffet der Gebrauch den Begriff der Heftigkeit mit demselben, daß also Neid, Zorn, Furcht, Frölichkeit darunter verstanden werden, und die Teutsche Begierde mit dem Lateinischen Adfectu einerley ist. Es ist aber dieses sowol wider die Abstammung des Wortes Begierde, als auch unnöthig, indem das Wort der Leidenschaft solches weit besser ausdrücket.  
  Unsere Gemüths-Bewegungen sind gelinde oder heftig, oder auch ruhig oder unruhig. Die erstern behalten den gemeinen Namen, die letztern können Leidenschaften, Griechisch, pathai, Lateinisch, adfectus, genennet werden. Leiden heist überhaupt empfinden. Man verknüpft aber auch ferner den Begriff des Schmertzens mit diesem Worte, daß also leiden soviel als etwas schmertzlich empfinden bedeutet. Die Leidenschaften sind heftige Gemüths-Bewegungen. Es ist wahr, die heftige Bewegungen haben, in soweit sie heftig werden, den Grund in unserer Seele. Nachdem dieselbe vermeinet ihre Glückseeligkeit entweder gewiß, oder vollkommen in einer Sache anzutreffen, nachdem bestrebet sie sich, dasselbe zu erhalten.  
  Doch sind die meisten Mittel unserer, wo nicht wahren, doch vermeinten Glückseligkeit ausser uns. Mit diesen ist unsere Seele nicht unmittelbar verbunden, sondern der Leib ist das Band der äusserlichen Dinge mit der Seelen. In diesen würcket nun dieselbe, und die Bewegung geschiehet in denen Lebens-Geistern. Diese Bewegung derer Lebens-Geister, welche die erstlich von der Seelen empfangene Bewegung fortsetzen, ist dasjenige, worinnen sich eigentlich die Heftigkeit äussert, wie ein jeder, der auf sich selber Achtung giebt, empfinden wird, und wir gleichfalls an andern die heftigen Regungen von aussen wahrnehmen. Die Seele empfindet also, oder leidet die Bewegungen derer Lebens-Geister. Hierbey empfindet sie zugleich eine Unlust, oder einen Schmertz. Eine jede Begierde ist schon an und vor sich selber mit einer Unlust verknüpfft. Denn erstlich so bestehet die Lust der Seelen nicht in der Begierde, sondern in derselben Zwecke, oder ihrer Stillung. Ridiger in der Zufriedenheit c.l. §. 5.
  Hernach kan auch dieses also erwiesen werden. Die Seele belustiget sich in dem Genusse eines gegenwärtigen Guten, es mag nun dasselbe wahrhaftig gegenwärtig seyn, oder die Seele ihr solches in der Hoffnung vorstellen. Wo also kein Gut ist, da ist keine Lust der Seelen. Wo keine Lust ist, da ist Schmertz. In der Begierde ist das Gut nicht gegenwärtig, denn sonst würden wir nicht wollen. Also ist bey der Begierde Unlust. Da nun Leidenschaften  
  {Sp. 920}  
  Begierden sind, wie wir unter dem Titel Leidenschaften auf das allergenaueste zeigen werden, so sind sie mit dem Schmertz verbunden.  
  Aus welchen allem deutlich genug erhellet, daß kein besserer Ausdruck, als die Leidenschaft könne gefunden werden.  
  Letztlich so werden manche Begierden in Fertigkeiten verwandelt, also, daß die Seele in Ergreiffung desjenigen Mittels, nach welchen zu verlangen sie gewohnt ist, weit eher u. geschwinder ihre Begierde bestimmt, als in andern. Diese Fertigkeiten nennen wir Gemüths-Neigungen. Neigen heist, wenn eine Sache sich nicht gegen alle Dinge gleich verhält, sondern einem etwas näher ist, als dem andern, woraus man siehet, daß dieser Ausdruck sehr geschickt ist.  
  Wir haben nunmehro einem jeden Worte seinen Verstand bestimmet: von der Sache selber, als von denen Trieben, Gemüths-Bewegungen, Leidenschaften und Gemüths-Neigungen werden wir an ihren gehörigen Örtern handeln: hier soll unsere Betrachtung auf die Begierden gehen.  
  Die Begierde ist eine Bewegung des Gemüthes nach einer Sache, welche die Seele vor ein Mittel ihrer Glückseligkeit hält. Epicurus theilet die Begierden also ein. Sie sind entweder natürlich und nothwendig, oder natürlich und nicht nothwendig, oder keines von beyden. Diogenes Laertius X. 149.
  Cicero de Fin. II. 9. tadelt diese Eintheilung, indem er davor hält, daß dieses nicht eintheilen, sondern zerbrechen sey. Er setzet sie deswegen in diese Ordnung: die Begierden sind entweder natürlich oder eitel: die natürlichen wiederum entweder nothwendig oder nicht. Menagius ad Diog. Laert. l.c.
  Cicero verfähret nach der Vernunfft-Lehre gantz richtig, wir begnügen uns, daß wir solches angezeiget haben, indem der aus der Erklärung dieses Satzes entstehende Nutzen der Weitläuftigkeit der Ausführung nicht beykommen möchte.  
  In Ansehung derer Triebe, auf welche sich die Begierden gründen, können wir sie in thierische und menschliche eintheilen. Die erstern gehen auf die Erhaltung unseres Leibes, und die Fortpflantzung unseres Geschlechts, welche wir mit denen Thieren gemein haben. Die letzteren hingegen gründen sich auf die Ruhe unsers Gemüthes und die Gesellschafft, welche dem Menschen allein zukommen. Ridigers Zufriedenheit, c, 8, §. 10.
  Nehmen wir einen andern Eintheilungs-Grund, und betrachten sie, wie sie entweder aus der unmittelbaren Empfindung des Cörpers, oder aus der Reflexion der Seelen entstehen, so können wir sie in physische und moralische eintheilen. Walch im Lexico philos. p. 188.
  Es kömmt aber dieses mit dem obigen überein.  
  Nachdem die Begierden auf ein wahres, oder Schein-Gut gerichtet sind, so sind sie entweder vernünftig oder unvernünftig. Die Vernunft gründet sich auf die Natur, und dahero können obige mit bessern Rechte entweder natürliche oder unnatürliche genennet werden, als wie man gemeiniglich nur die physischen natürliche zu nennen pfleget. Denn die moralischen sind uns eben sowol von der Natur eingepräget, als die andern.  
  Ohne Begierden können wir unmöglich in diesem Leben seyn. So lange die Seele nicht in einen solchen Zustand versetzet wird, wo sie lauter Annehmlichkeit ohne Verdrüßlichkeit empfindet, so lange höret sie nicht auf, immer danach zu trachten. Diesen können wir in diesem Leben nicht finden, deswegen ist unser Gemüth in einer immerwährenden Beschäftigung. Die Begierden können also unmöglich ausgerottet werden, die Leidenschaften aber können gedämpffet werden. Wie wir solches an seinem Orte zeigen werden.  
  Ingleichen wie  
  {Sp. 921|S. 476}  
  die guten Begierden in Fertigkeiten müssen verwandelt werden, werden wir unter denen Titeln Tugend und Gemüths-Neigungen abhandeln.  
     

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Stand: 30. März 2013 © Hans-Walter Pries