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Zedler: Seele [1] HIS-Data
5028-36-1051-4-01
Titel: Seele [1]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 36 Sp. 1051
Jahr: 1743
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 36 S. 539
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Stichworte Text   Quellenangaben und Anmerkungen
  Seele, Anima.  
  Nach der gewöhnlichen Bedeutung dieses Worts ist die Seele diejenige geistli-  
  {Sp.1052}  
  chen Substantz, welche mit dem menschlichen Cörper vereiniget, so daß durch diese Vereinigung der Seelen und des Cörpers das völlige Wesen des Menschen entstehet.  
  Zuweilen wird das Wort Seele auch in weitern Verstande gebraucht, wenn unter andern die Scholastici eine dreyfache Seele, eine wachsthümliche, empfindliche und vernünftige, statuirten, auch in dem Lateinischen der Weltgeist eine Anima Mundi genennet wird, in welchem Sinn aber das Wort so gewöhnlich nicht ist. Bey der Scholastischen Lehre kan auch die Seele nichts anders als ein Principium bedeuten, von welchem eine gewisse Bewegung dependiret; weil sie nun sahen, daß dergleichen bey dem Wachsthum, bey der Empfindung und Vernunft anzutreffen, so lehrten sie von einer dreyfachen Seele.  
     
  Existentz der Seele.  
  Handeln wir also von der menschlichen Seelen, so können wir ihr Wesen nicht ehe untersuchen, bis wir vorher erwiesen, daß sie würcklich existire. Wollen wir dieses darthun, so haben wir eigentlich die Frage vor uns: ob die Seele eine von dem Cörper wesentlich unterschiedene Substantz sey ? Wir behaupten dieses billig und setzen den Grund dieser Wahrheit darinnen, daß der Mensch sich solcher Wirckungen, die in ihm geschehen, bewust ist, welche von dem Cörper, als einer Ursach, nicht herkommen können. Denn wenn dieses richtig ist, wie wir gleich darthun wollen, so muß eine besondere Substantz, als eine Ursach vorhanden seyn, indem zweyerley wesentlich von einander unterschiedene Wirckungen auch zweyerley wesentlich von einander unterschiedene Ursachen supponiren.  
  Solche Wirckungen, welche dem Leibe nicht zukommen können sind die Gedancken und Begierden, so daß der Mensch dabey seine Freyheit hat, welche von der Materie, oder vom Cörper nicht herkommen können, weil es dessen Wesen zu wider ist. Wir können uns an der Materie keine andere Eigenschaften einbilden, als daß sie sich ausdehnen, zertheilen lasse und das Vermögen habe, eine Bewegung und allerhand Figuren anzunehmen, welches alles anzeiget, daß sie ein leidendes und kein wirckendes Wesen sey.  
  Legt man ihr gleich mit einigen neuern eine wirckende Kraft bey, so siehet man doch selbige nicht als was wesentliches; sondern als was zufälliges von derselbigen an. Nun halte man gegen diesen Zustand der Materie die Wirckungen, die man billig der Seelen zuschreibet, so wird man davon in derselbigen keinen Grund finden. Eine solche Wirckung ist das Dencken, daß wenn wir empfinden, uns Vorstellungen von den Dingen machen, die Ideen gegen einander halten, urtheilen, raisonniren, etwas mercken, uns dessen wieder erinnern können, und zwar so, daß wir dabey eine Freyheit haben.  
  Die Sachen, die wir erkennen und daran gedencken, sind unzehlig, darunter selbst die abstracte Concepte und die Begriffe der geistlichen Substantzen mit vorkommen; die Arten der Gedancken sind auch mannigfaltig, nicht nur in Ansehung der unterschiedenen Menschen; sondern auch in Ansehung sein selbst, daß man sich eine Sache bald auf diese, bald auf jene Art vorstellet, heute so, morgen wieder anders gesinnet ist. Gewiß, wenn auch  
  {Sp. 1053|S. 540}  
  1000 Menschen einerley Sachen zu betrachten vor sich nähmen, so würde bey einem jeden eine besondere Einrichtung der Gedancken geschehen. Wer wolte nun sagen, daß das Dencken von der Materie, oder dem Cörper könne verrichtet werden? und wenn ja dieses jemand behauptete, so müste die Materie entweder keine Materie bleiben, oder man nehme etwas an, so contradictorisch wäre.  
  So verhält sich die Sache auch mit den Begierden. Von den natürlichen wollen wir deswegen nichts gedencken, weil sie was nothwendiges sind, und bleiben daher nur bey den moralischen oder willkührlichen, welche der Mensch nach seinem Gefallen in sich erwecken und wieder dämpffen kan; dadurch aber das vornehmste Stück seiner Freyheit sehen läst. Der Unterscheid solcher Begierden ist allzugroß und da müste man zeigen, in was vor Ordnung die Theilgen der Materie stehen müsten, wenn so vielerley Begierden bald auf diese, bald auf jene Art herfür kommen solten. Kurtz: wenn bey einer mechanischen Einrichtung und Ordnung alles nothwendig geschicht; der Mensch aber hat eine Freyheit, so muß ein Grund der Freyheit da seyn; dieser ist in der Materie nicht zu finden, folglich muß eine andere Substantz seyn, welche vom Cörper wesentlich unterschieden, die den Grund der Freyheit in sich hält, welches die Seele.  
Materialisten Doch so klar auch diese Wahrheit, so wird sie doch von den Materialisten geleugnet, welche alles aus der Beschaffenheit der Materie herleiten wollen. Wenn wir in dem folgenden von der Seelen Beschaffenheit handeln, und des Aristoteles Meynung, was die Seele sey, werden erkläret haben, so wird sichs zeigen, ob er unter diejenigen gehöre, welche dieselbige nicht vor eine Substantz, sondern vor ein Accidens des Cörpers ansehen.  
  Cicero lib. 1. c. 10. quaestion. Tusculanar. meldet von dem Dicäarchus, daß er die Seelen vor nicht angesehen, dessen Meynung er also vorgetragen: Mit der Seele sey es überall nichts, und dieser gantze Nahme bedeute nichts. Es werden die Menschen und Thiere vergebens davon animantia genennet: weder in den Menschen, noch in den Thieren sey eine anima oder animus. Alle die Kraft, wodurch wir angetrieben werden, etwas zu thun, oder zu empfinden, sey allen lebendigen Cörpern auf gleiche Masse mitgetheilet, könne auch nicht vom Leibe getrennet werden, indem sie nichts, ja nichts anders wäre, als ein Cörper, und zwar ein so eingerichteter und beschaffener Cörper, daß er vermöge der ordentlichen Beschaffenheit der Natur lebhaft und empfindlich wäre, welche Meynung auch Bayle in dem diction. hist. unter dem Wort Dicearque mit Fleiß untersuchet.
  Unter den neuern Materialisten ist sonderlich Spinoza und Hobbesius bekannt. Denn da Spinoza nur eine einige Substantz zugiebet, so kan er die Seele vor keine andere von dem Cörper wesentlich unterschiedene Substantz halten, indem, wenn er dieses thäte, und sie vor einen Geist hielte, er nothwendig 2 unterschiedene Substantzen zulassen müste.  
  Hobbesius leugnet in dem Leviathan c. 4. alle  
  {Sp. 1054}  
  Substantzen, die keinen Cörper haben, ja c. 34. wil er behaupten, daß das Wort Substantz und Cörper einerley bedeute, woraus man leicht schliessen kan, was er vor einen Unterscheid unter der Seele und dem menschlichen Cörper gemachet habe.  
  Eben dahin läuft die Meynung des William Cowards, eines Medici zu Londen, hinaus. Er gab cogitationes posteriores de anima heraus, welche zu Londen 1704 wieder gedruckt worden, worin er sich zu erweisen bemühete, daß die Lehre von der Seelen, die heut zu Tage von den Christen angenommen werde, als wäre sie eine immaterielle und mit dem Leibe vereinigte Substantz, von den Heydnischen Erdichtungen her käme, sich mit den Principiis der Philosophie, der Vernunft und der Religion gar nicht zusammen reime. Nach der Schrift sey die Seele nichts anders, als das Leben der Menschen, das ist, eben dieselbige Kraft, wodurch der Mensch beweget wird, lebet, empfindet, Vernunft-Schlüsse machet, welche auch so lange im menschlichen Cörper gefunden werde, als er lebe; gäntzlich aber aufhöre, sobald er untergehe, und wenn bey der Auferstehung der Todten die Cörper wieder leben würden, so werde sie auch wieder da seyn.  
  Es fanden sich verschiedene, welche diese gottlose und gefährliche Meynung wiederlegten, und wie man damahls berichtet, wurden die Schriften des Cowards auf Königl. Befehl verbrannt.  
  Unter andern gab Johann Broughton psychologiam; oder tractatum de natura animae rationalis zu Londen 1703 heraus, und beschuldigte den Coward der Atheisterey, welches ihm Gelegenheit gab, daß er zu Londen 1704 heraus gabe Vindicationem rationis et religionis contra imposturas philosophiae und darinnen seine metaphysische Principia, welche er hier zum Grund legte, weiter erklärte. Denn er behauptet,  
 
1) daß die Existentz einer immateriellen Substantz eine philosophische Betrügerey wäre, die sich auch unmöglich concipiren liesse:
 
 
2) daß eine jede Materie den Grund der Bewegung bey sich selbst habe, der ihr mit anerschaffen sey, und
 
 
3) daß die Materie und Bewegung der eintzige Grund der Gedancken bey den Menschen und den Bestien sey.
 
  Das erste, so ohnmöglich eine Substantz ohne Materie seyn könte, wil er daher beweisen, weil die Begriffe der Substantz und der Immaterialität contradictorisch wären, da einer den andern aufhebe. Denn man könte sich keine Substantz ohne der Extension einbilden, wo aber ein Wesen ausgedehnet sey, da müsse es seine Theile haben, mithin wäre es theilbar, es könne etwas leiden, es seit der Zeit und dem Ort nach in einer Bewegung, es könne empfunden und gefühlet werden, welches sonst die Eigenschaften einer materiellen Substantz wären, und weil man sich keine ohne denselbigen einbilden könte, so müsse folgen, daß eine jede Substantz materiell sey.  
  GOtt könte man keine Substantz nennen. Denn eine Substantz habe ein eingeschräncktes Wesen; GOtt aber sey unendlich. Er sey eine ewige, allmächtige, allgegenwärtige Kraft; woraus aber nicht zu folgern, daß er auf diese Art ein Accidens sey. Denn die Eintheilung in die Substantz und in das Accidens gienge nur auf die Creaturen, und wäre auch nicht einmahl hinlänglich.  
  {Sp. 1055|S. 541}  
  Die erschaffene Geister wären auch nur gewisse Kräfte, welche der Materie eingepflantzet, weswegen man sich keinen andern, als einen materiellen Geist einbilden könte; daher auch die Schrift bezeuge, daß alle Engel cörperlich erschienen wären, und sich durch cörperliche Eigenschaften zu erkennen gegeben: Man könte wohl sagen, daß die Engel geistlich wären, indem die Spiritualität auch dem Cörper, oder der Materie zukomme; aber nicht die Immaterialität. Wenn gesaget werde, daß der Teufel die Menschen besäße, so wäre dieses nicht leiblich zu verstehen; sondern es geschähe dieses nur durch eine geistliche Kraft.  
  Kommt er insonderheit auf die menschliche Seele, so saget er, daß die Gedancken von der Materie herkämen, weil man an denselbigen alle wesentliche Eigenschaften der Materie anträfe; es wäre aber eine Gedancke nichts anders, als ein beständiges Herumlauffen der Ideen im Gehirn. Die Art, wie eine Materie gedencken könte, wüste man zwar nicht, es könne aber doch dieses durch die Allmacht GOttes bewerckstelliget werden.  
  Im Jahr 1706 gab er zu Londen auch in Englischer Sprache heraus: Scrutinium exactum [acht Zeilen lateinischer Text]. Dieses Werckgen bestehet aus 3 Briefen. In dem ersten will er seine vorher angeführte Lehre von dem Geist und von der menschlichen Seele wider die Einwürfe seiner Gegner vertheidigen. In dem andern verlangt er von dem Dodwell und Clarck, sie solten sich erstlich erklären, was sie sich vor einen Begriff von der menschlichen Seele machten, ehe sie disputiren wolten, ob selbige sterblich, oder unsterblich sey, und in dem dritten Theil will er mit Toland den Ursprung der gewöhnlichen Lehre von der Seele von den Egyptiern herführen. Es sind noch mehr Schrifften wieder Coward heraus gekommen, als
  • la doctrine de l'ecriture sainte sur la nature de l'ame, sur son origine et sur son etat apres la mort von Menard zu Londen 1703
  • und andere, die Fabricius in Syllabo scriptorum de veritate religionis christianae p. 439 angeführet.
    Von der Controvers selbst kan man lesen die acta Eruditorum 1707 p. 352 und unschuldige Nachrichten 1703 p. 653. 1704 p. 352. 1707 p. 745. wie denn auch Pfaff in introduct. in histor. theologiae literar. part. 2. p. 269 die in dieser Cowardischen und Dodwellischen Streitigkeit gewechselte Schrifften erzehlet;
  was aber den Dodwell betrifft, von dem wollen wir unten bey der Materie von der Seelen Unsterblichkeit reden.  
  Wir haben vorhin des Tolands gedacht, welcher auch in diese Classe gehöret. Denn wie er ein eifriger Nachfolger des Spinoza gewesen; also hat er sich auch von der menschlichen Seele keinen andern Begriff gemacht, als sein Lehrmeister gehabt, wie sie nehmlich keine vom Cörper wesentlich unterschiedene Substantz sey. Im Jahr 1704 gab er die epistolas ad Se-  
  {Sp. 1056}  
  renam in Englischer Sprache heraus in deren andern er eine Historie der Lehre von der Unsterblichkeit der Seelen unter den Heyden geben will, und darinnen ausdrücklich schreibet, daß die Meynung von der unsterblichen Natur der menschlichen Seele erstlich von den Egyptiern auf die Perser; hernach auf die Griechen, und von den Griechen auf die Römer und andere Europäische Völcker abgestammet und fortgepflantzet sey. Die Egyptier aber selbst hätten sie zuerst aus der grossen und abergläubischen Verehrung der Verstorbenen geschöpffet. Man lese zugleich nach Fayus in defension. relig. part. I. c. 24. p. 133. und Mosheim in vita Tolandi p. 140. so sich bey dessen Vindiciiis antiquae christianorum disciplinae befindet.
Briefwechsel 1713 Es kam 1713 zum Vorschein: Zweyer Freunden vertrauter Brief-Wechsel vom Wesen der Seelen. Es bestehet diese kleine Schrifft aus 3 Briefen, davon der erste die Meynung behauptet, daß die Seele des Menschen nichts anders sey, als eine mechanische Beschaffenheit des Cörpers, folglich keine Substantz, sondern nur ein Accidens, welches in dem andern, als einer Antwort auf den ersten, widerleget wird; in dem dritten aber sucht man diese Meynung wider solche Einwürffe zu vertheidigen. Es stellet sich der Verfasser den Menschen ohne Seele für, und was man sonst Seele nennt, hält er nur vor gewisse Kräfte, die aus einer mechanischen Wirckung ihren Anfang nehmen, daraus er das gantze Werck des Verstehens und Wollens erklären will.  
  Denn p. 26 nach der neuesten Auflage saget er: der Processus intelligendi geschiehet folgender massen: Wenn das organum sensus, sonderlich visus und auditus, auf das Objectum gerichtet wird, so geschehen unterschiedene Bewegungen in den fibris cerebri, die, wie bekannt, sich allzumahl an einem organo sensorio terminiren. Solche Bewegung in cerebro ist, da die radii ab objectis protensi auf unterschiedene Art auf das album in der camera obscura auffallen und eine gewisse Idee formiren, einerley, welche Idee doch nicht realiter auf dem albo ist, sondern pro varia dimotione fibrillarum tunicae retinae in oculo entstehet. Wie nun hier diese auf unterschiedene Art beweget werden, so wird dieser motus im Gehirn continuiret, also daß darinnen eben dergleich Idee, oder motus, wenn schon das Objectum weg ist, formiret wird. Die Combination aber dieser Ideen oder conceptuum geschiehet vermittelst eben dieser fibrillarum cerebri auf die Art, als wir sehen, daß sich die Zunge beweget, wenn sie die Worte formiren will, daher auch die cogitationes logos internus genennet werden.  
  Von dem Willen fährt er p. 28 fort: der Wille ist nichts anders, als eine stärckere Nachhängung eines Concepts, und die daraus folgende leichtere Bewegung gewisser Musculn oder Glieder, die entweder die aptitudo seu promtitudo naturalis, oder ein vorgeschriebenes Gesetz verursachet, welche stets in den Gedancken schwebet.  
  Es heißt weiter p. 31. daß nun alles auf diese fibras ce-  
  {Sp. 1057|S. 542}  
  rebri ankommt, siehet man ex statu opposito in den deliriis. So lange in hitzigen Fiebern das Geblüt tumultuiret und die Fibrae ungleich und confus beweget werden, so lange ist phrenitis, das Rasen, da; geschiehet aber confuse Bewegung ohne Fieber, so wird mania daraus, die aber desto länger währet. Ist hingegen das Geblüt schwer, und also von langsamer Bewegung, und können deswegen die fibrae cerebri von dem einmahl gefasten tremore nicht gebraucht werden, so entstehen allerhand närrische Einbildungen und Arten der Melancholie. Ja daß auch vermittelst des Geblüts gewisse Ideen dem Gehirn können beygebracht werden, die hernach so fix darinnen sitzen bleiben, daß sie kaum heraus zu bringen sind, siehet man an der so genannten rabie canina, die von tollen Hunds-Bissen entstehet, Ingleichen der, die von den Stichen in der Tarantuln; oder anderer sonderlich erzürnten Thiere herrühret.  
  Nach diesem sucht der Verfasser die Schriftstellen, die von der Seelen als einer besondern Substantz handeln, auf seine Meinung zu appliciren, oder vielmehr zu verdrehen. Denn wenn Matth. Cap. 10. v. 28. stehet: Fürchtet euch nicht für denen, die den Leib töten etc.so soll p. 36. die Seele von dem zukünftigen; der Leib von dem gegenwärtigen Leben zu verstehen seyn, als wäre der Verstand dieser: Fürchtet euch nicht für denen, die den Leib thödten,  und danach nichts mehr thun können: Fürchtet euch viel mehr vor dem, der nachdem er getödtet hat, auch Macht hat zu werffen in die Hölle.  
  Auf eben diesem Blatt sollen die Worte im Buch der Weisheit Cap. 3. v. 1. Der Gerechten Seelen sind in GOttes Hand, weiter nichts bedeuten, als daß die verstorbenen Gerechten bey GOtt in solchem gnädigen Andencken wären, daß sie nun ausser aller Gefahr seiner Ungnade und Zorns wären, indem sie nicht mehr einige Quaal berühren kan. p. 37. wird der Spruch Matth. Cap. 22. v. 32. da sich GOtt einen GOtt der Lebendigen genennet, so erkläret, daß die Lebendige überhaupt, die Frommen bedeuten, gleichwie sonst die Gottlosen die Todten genennet würden.  
  Sagt bey dem Luc. Cap. 23. v. 43. Christus zu dem Schächer: Heute wirst du mit mir im Paradies seyn, so soll p. 38. das Wort Heute nicht den gegenwärtigen Tag, sondern nur eine instehende Zeit anzeigen, welches Versprechen erfüllet worden, als die Heiligen nach Christi Auferstehung auferstanden.  
  Nach diesem setzt der Verfasser hinzu: Es erhellet aber hieraus, daß ohngeachtet ich die Selbstanständigkeit der Seelen abspreche, selbige deswegen kein inane vocabulum, wie Dicäarchus und andere gewolt, bleibe, denn niemand leugnen wird, daß die accidentia und qualitates nicht etwas seyn solten, ob sie es gleich nur so lange sind, als das Wesen der Sachen, quibus inhaerent, währet, und nach deren Zerstörung wieder vergehet. Doch, daß der Mensch, was die Zerstörung seines  
  {Sp. 1058}  
  Wesens betrifft, vor andern was besonders habe, sind wir aus heiliger Schrifft versichert. Denn diese gibt uns die Verheissung, daß wir auch nach dem Tode leben sollen, und zwar dem Leibe nach, nach der allgemeinen Auferstehung; vor derselben aber im Geist bey GOtt, das ist, im Andencken GOttes, wie die folgenden Worte lauten.  
  In dem dritten Brief p. 83. erkläret er sich noch deutlicher, was er durch die Seele verstehet, wenn er saget: Ich halte die Seele vor nichts anders, als vor die potentias, die GOtt dem Leibe imprimiret hat, oder vor den Trieb, dergleichen Wirckungen zu verrichten, die ihn von den andern Geschöpffen unterscheiden. Wie nun der Mensch nach diesen potentiis GOtt gleichkommt, aber nicht GOtt selbst wird; also halte ich sie vor attributa divina, dadurch die Gleichheit GOttes ausgedrucket wird: Gleichwie ich mit von dem höchsten GOtt gantz keinen Concept machen kan, als nach menschlichem, wiewohl im höhern und höchsten Grad ihm zugeeigneten Eigenschaften, dabey ich aber niemahls die einander entgegen gesetzten Wesen, nemlich materiale und immateriale, confundiren muß.  
  Diese anstößige und gefährliche Lehre ist von verschiedenen widerleget worden, als von  
 
  • Buddeo in dem programmate de Arabicorum haeresi, so in dem Syntagm. dissert. theolog. p. 738 zu finden;
  • August Friedrich Cämmerer in der Untersuchung der Seele p. 10. s.q.
  • Gottfr. Polycarpus Müller in 2 Dissertationen de mente substantia a corpore essentialiter distincta zu Leipzig 1714.
  • Johann Hermann von Elswich in apologetic. pro subsistentia, immaterialitate et immortalitate animae rationalis;
wobey man auch die unschuldige Nachrichten 1713. p. 155. und die Teutsche Acta Eruditorum t. 1. p. 862. sqq. lesen kan.
  Im Jahr 1723 ist dieser Brief-Wechsel wieder gedruckt worden, wobey sich p. 99. eine Declaration des Verfassers der ersten und letzten Epistel befindet. Er will darinn versichern, daß diese Briefe wider sein Wissen und Willen zwar verstummelt heraus gekommen; habe auch keine andere Absichten gehabt, als diese Meinung von der Seelen als wie ein Dubium vorzustellen. Zuletzt p. 104. thut er noch diese Erklärung: Ich gestehe, daß die Seele allerdings was diverses vom Leibe und ein immaterielles und uncörperliches Wesen ist; allein wenn ich um ihren Sitz in dem Leibe; ihre Fortpflantzung und dergleichen gefragt werde, so wird man mir erlauben, daß ich nach dem Logischen Canone: talia sunt praedicata, qualia subjecta permittunt, antworte: Ist die Seele ein Geist, so wäre besser, man bliebe mit dergleichen Fragen zu Haus, die uns den Concept von einem cörperlichen Dinge beybringen.  
  Was die Verfasser dieser Briefe betrifft, so hat der Professor Stolle in der ersten Auflage der Historie der Gelahrheit part. 2. c. 3. §. 42. erzehlet, wie er die Nachricht bekommen, daß die Verfasser dieser Briefe wären der zu Breslau als Professor verstorbene M. Hocheisen und D. Rö-  
  {Sp. 1059|S. 543}  
  schel zu Wittenberg, davon jener den ersten und den dritten; dieser aber den andern, als eine Widerlegung des ersten aufgesetzet; in der neuen Auflage aber p. 504 führt er noch an, wie er aus den summarischen Nachrichten von auserlesenen in der Thomasischen Bibliothec vorhandenen Büchern, t. 2. p. 276 ersehen, daß nicht Hocheisen, sonder Bucher, gewesener Leib-Arzt bey dem Fürsten von Fürstenberg, der wahre Verfasser sey.  
Stoschius 1692 Es ist 1692 zu Amsterdam eine Schrifft unter dem Titul: Concordia rationis et fidei, sive harmonia philosophiae moralis et religionis Christianae herausgekommen, die man einem Chur-Brandenburgischen Geheimden Secretario, Nahmens Stoschius, beygeleget. Es bestehet dieselbige aus 9 Capituln, und wenn der Verfasser auf die Seele kommt, so schreibt er p. 11. Mens est melior pars hominis, constans cerebro et infinitis ejus organis varie modificatis, affluxu et circulatione materiae subtilis. Man hat einen Anhang beygefüget, der handelt auch von der Seelen nach dem Begriff, den wir ietzo angeführet. Es heist, sie wäre vor sich nicht unsterblich; sondern sterbe und werde von GOtt nebst dem Leibe erwecket; der Gottlosen Seelen aber würden von GOtt zernichtet. Der Menschen Seelen wären nur gradu von den Seelen der Bestien, wie eine subtilere Maschine von einer gröbern unterschieden.  
General-Anmerkungen Alle diese itzt angeführte Meinungen kommen darinnen überein, daß die Seele keine Substantz; sondern ein Accidens der Materie, oder des Cörpers sey. Nachdem wir schon vorher die Selbstanständigkeit der Seelen, wie sie von dem Cörper wesentlich unterschieden sey, erwiesen, so haben wir nicht nöthig auf alle Sätze der Gegner zu antworten, und wollen nur einige General-Anmerckungen machen. Die Meinung, daß die Seele nur ein Accidens sey, ist  
 
1) höchstgefährlich. Denn geschicht alles, wie diese Leute vorgeben, durch eine mechanische Disposition des Leibes, so hat der Mensch keine Freyheit, und geschicht alles nothwendig. Fällt die Freyheit weg, so kan kein Gesetz, keine Moralität, keine Straffe, keine Religion statt finden, und der Mensch ist bloß eine Maschine, nach deren Einrichtung alle Wirckungen notwendig erfolgen müssen;
 
 
2) höchst unvernünfftig, welches aus unterschiedenen Umständen überhaupt darzuthun. Man könte schon daher sehen, daß diese Meinung wider alle Vernunfft, weil daraus so gefährliche Folgerungen fliessen; wir wollen aber dieses als eine besondere Eigenschafft ansehen, und zum Beweis, daß sie unvernünfftig sey, nur dieses anmercken.
 
 
  Sie stossen sich ihrem Vorgeben nach an die gewöhnliche Lehre von der Seelen, daß sie eine vom Cörper wesentlich unterschiedene Substantz sey, deswegen, weil sie nicht zu begreiffen; indem sie aber die Seele als ein Accidens ansehen, und ihre Wirckungen aus einer mechanischen Structur des Cörpers herführen wollen, so ist ihre Hypothesis noch weit unbegreiflicher, ja offenbar falsch, weil sie contradictorisch ist. Denn eine mechanische Einrichtung und Wirckung ist allezeit mit einer Nothwendigkeit verknüpffet; bey den Wirckungen der Seelen aber treffen wir eine Frey-
 
  {Sp. 1060}  
 
  heit an, daß wir nach Belieben Gedancken und Begierden erregen können.
 
 
  Man wird auch bey diesen Leuten wahrnehmen, daß sie solche Principia als ausgemacht voraus setzen, davon noch der Streit ist, welches auch was unvernünfftig. Denn unter andern sagt Coward, man könne sich keine andere Substantz, als eine materielle einbilden, woraus er schliesset, daß unsere Seele nicht immateriell sey, und nur als eine Krafft des Cörpers müsse angesehen werden, welches eine offenbare Falschheit im Schliessen anzeiget. Denn wir dürffen hier von unserer Einbildung auf die Beschaffenheit der Sache nicht schliessen, sondern unser Begriff muß sich vielmehr nach der Sache richten. Befinden wir nun aus den Wirckungen, die ein materielles Wesen nicht hervor bringen kan, daß besondere Substantzen, die man Geister nennet, vorhanden seyn müssen, so bekommen wir die Idee einer geistlichen Substantz.
 
 
  Bey derselbigen müssen wir die Vorstellung ihrer Existentz und ihres Wesens nicht mit einander vermischen. Denn es folgt nicht, wenn ich mir nicht deutlich vorstellen, noch begreiffen kan, was eine geistliche Substantz sey, folglich hab ich gar keinen Begriff von einem Geist. Endlich ist auch dieses unvernünfftig und ärgerlich, daß, wenn man mit seiner ungereimten Meinung fertig, man hernach über die Schrifft kommt, und selbige darnach zu verdrehen sich unterstehet. Weil die Erkenntniß der Vernunfft hierinnen so schwach ist, so muß man die Schrifft zu Hülffe nehmen, und sich nach deren Anleitung zugleich die Vorstellung von einem Geist und von der menschlichen Seele machen.
 
     

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Stand: 3. April 2013 © Hans-Walter Pries