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Zedler: Vernunft [5] HIS-Data
5028-47-1390-1-05
Titel: Vernunft [5]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 47 Sp. 1422
Jahr: 1746
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 47 S. 724
Vorheriger Artikel: Vernunft [4]
Folgender Artikel: Vernunft, ( das Ähnliche der)
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen
  • : Absatz in der Vorlage vorhanden
  • Transkribierter griechischer Text der Vorlage

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Übersicht
Regeln von dem wahren Gebrauche und dem Mißbrauche der Vernunfft in Glaubens-Sachen
Veränderlichkeit der Vernunfft.

  Text Quellenangaben und Anmerkungen
  Es wird nicht undienlich seyn, hier einige  
  Regeln von dem wahren Gebrauche und dem Mißbrauche der Vernunfft in Glaubens-Sachen  
  mit zu theilen:  
 
I) Es ist ein schädlicher Mißbrauch der Vernunfft, wenn man seine Schlüsse, die man aus bloß wahrscheinlichen Gründen gezogen hat, für gewiß ausgiebt, und sich bemühet, durch dieselbe die geoffenbarten Wahrheiten verdächtig und zweiffelhafft zu machen.
 
 
  Es ist nicht möglich, daß man durch alle seine gekünstelte Schlüsse aus gewissen Gründen der Vernunfft einen solchen Satz heraus bringe, der der Offenbahrung widerspricht. Denn in diesem Fall würde uns das Wort des Höchsten befehlen, Dinge zu glauben, die unstreitig unmöglich sind. Allein wie ist es möglich, zu glauben, daß etwas sey, von dem man weiß, daß es nicht seyn könne? Und wenn man auch diejenigen Streitigkeiten erweget, da man von der einen Seite vorgegeben, daß die Vernunfft den Glaubens-Lehren zuwider sey; so wird man offenbar sehen, daß man sich bloß auf wahrscheinliche Gründe verlassen habe, die man aber für gewisse und unleugbare Wahrheiten gehalten.
 
 
  Denn also verwirfft man
 
 
 
  • das Geheimniß der Dreyeinigkeit aus diesem Grunde: Weil ein für sich bestehendes geistiges Wesen auch nur eine Person ausmachen könne;
  • die Vereinigung der zwo Naturen in Christo aus diesem: Daß ein jedes vernünfftige Wesen auch nothwendig eine Person sey;
  • die Nothwendigkeit der Gnugthuung JEsu Christi aus diesem: Das GOtt nach seiner Gnade und Barmhertzigkeit einem jeden seine Sünde vergeben müsse, der sie ihm mit aufrichtigem Hertzen abbittet, und sein Leben bessert;
  • die Gegenwart des Leibes JEsu in dem Heiligen Abendmahle aus diesem: daß ein Leib, der seiner Ausdehnung nach gewisse Grentzen hat, nur an einem Orte gegenwärtig seyn könne.
 
 
  Wir gestehen es, daß diese angeführten Gründe einen großen Schein der Wahrheit haben, und von unserm Verstande leichter, als das Gegentheil derselben, können begriffen werden. Allein sie sind doch, wenn wir bloß nach der Vernunfft urtheilen wollen, ungewiß; und ein Gegner wird uns den Beweiß davon in Ewigkeit schuldig bleiben. Solte man nun nicht so viel Ehrfurcht vor dem allwissenden GOtt haben, daß man bey ungewissen Dingen, die zumahl sehr schwer zu begreiffen sind, den Göttlichen Ausspruch gelten lasse, ob er gleich nicht auf die Seite ausfällt, die uns nach unserer Einsicht am wahrscheinlichsten vorgekommen?
 
 
  Wenn wir dieses thäten; wozu uns doch die Vernunfft selbst verbindet: So würden wir nach der Ermahnung des heiligen Paulus die Anschläge und alle Höhen verstören, die sich wider das Erkenntniß GOttes erheben, und die Vernunfft unter dem Gehorsam Christi gefangen nehmen.
 
 
II) Der wahre Gebrauch der Vernunfft bestehet zum Theil darin, daß
 
  {Sp. 1423|S. 725}  
 
  man die göttlichen Wahrheiten mit einander verbindet, und zeiget, wie eine aus der andern könne begriffen werden.
 
 
  Wir halten dafür, daß man allerdings zu weit gehe, wenn man alle geoffenbarte Wahrheiten aus der Vernunfft beweisen will. Man muß der Gottesgelahrheit eben das Recht wiederfahren lassen, welches man andern Wissenschafften einräumet. Wird auch jemand die bürgerlichen Rechte aus den Gründen der Artzneykunst oder die Grund-Wissenschaft aus der Kriegs-Bau-Kunst erweisen wollen? Also hat auch die Gottesgelahrheit ihre eigene Gründe, und es ist unmöglich, sie bloß aus Philosophischen Sätzen darzuthun. Könnten wir aus dem Lichte der Natur alle die Wahrheiten erkennen, die uns zur Seeligkeit zu wissen nöthig sind; so wäre die Offenbahrung überflüssig und unnöthig. Es ist allerdings gewiß, was Paulus saget: Der natürliche Mensch vernimmt nichts, was des Geistes GOttes ist; oder: Der Mensch, der bloß nach dem Lichte der Natur urtheilet, kan die geoffenbarten Geheimnisse des Glaubens von selbst nicht erkennen.
 
 
  Wir wollen also durch diese Anmerckung nur soviel sagen, daß man einige Haupt-Stellen der Schrifft in der Lehre von GOtt und der Erlösung der Menschen als die vornehmsten Gründe voraus setzen, und aus denselben die übrigen Wahrheiten, die uns geoffenbaret sind, herleiten müsse. Dieses ist ein Werck der Vernunfft, welche mit der Verbindung der Wahrheiten zu thun hat. Aber sie äussert sich hier auch in ihren rechten Gebrauche: Weil sie mit dieser Bemühung auf die überzeugende Erkenntniß und Befestigung der Göttlichen Lehre gehet.
 
 
III) Es ist ferner ein rechter Gebrauch der Vernunfft, wenn man die Einwürffe, welche wider die Geheimnisse des Glaubens gemacht werden, aus den Gründen der Vernunfft auflöset.
 
 
  Die Sache, die wir verlangen, ist möglich. Alle Einwürffe, die von dieser Art sind, müssen entweder in den angenommenen Grundsätzen, oder in der Art zu schliessen fehlen. Wären sie in beyden Fällen richtig; so könnte man einen überzeugenden Beweiß den Geheimnissen entgegen setzen; und diese würden alsdenn gewissen und unfehlbaren Wahrheiten widersprechen. Allein solchergestalt wären die Geheimnisse unmögliche und ungereimte Dinge, welches doch niemand glauben kan.
 
 
  Unterdessen ist es nicht genug, daß man überhaupt sage, die Vernunfft könne dem Glauben nicht zuwider seyn: Es müsse also ein Irrthum in den entgegen gesetzten Beweißthümern stecken. Denn so lange man einem Gegner auf seine Einwürffe nicht insbesondere und zugänglich antwortet; so glaubt er Recht zu haben, und wird dadurch nur trotziger und verwegener. Man muß also seine Schlüsse untersuchen, ihre Schwäche entdecken, und den Fehler eigentlich anzeigen. Verlanget er aber von uns eine solche Erklärung, die ihm das Geheimniß begreiflich machen soll; so handelt er unvernünfftig. Denn ein Geheimniß würde kein Geheimniß mehr sein, wenn man es erklären und begreiffen könnte.
 
 
IV) Es ist endlich auch dieses ein wahrer Gebrauch
 
  {Sp. 1424}  
 
  der Vernunfft, wenn man die Möglichkeit der Dinge, die nicht mit unter den Geheimnissen begriffen sind, aus vernünfftigen Gründen zeiget.
 
 
  Man tritt dadurch der Hoheit der heiligen Offenbarung nicht zu nahe, wenn man die Wahrheiten, die sie in sich fasset, und die die Vernunfft einsehen kan, auch durch die Vernunfft in Gewißheit setzet. Es ist dieses vielmehr eine Bemühung, zu der wir verbunden sind. Denn auf der einen Seite machet man dadurch die Feinde der Religion zu schanden, die das Christenthum als unvernünfftig ausschreyen: Auf der andern Seite hebet man die Zweiffel aus solchen Gemüthern, die geneigt sind, die Wahrheit anzunehmen.
Theophili und Sinceri Sammlung auserlesener und überzeugender Canzel-Reden …
Literatur Von dem Verhalten und Gebrauche der Vernunfft in Glaubens-Sachen haben gehandelt:
1) unter den Unsrigen:
   
  • Balthasar Menzerus in Disp. de consensu rationis humanae
  • Johann Musäus in dem Tractat de usu principiorum …, den er Nicolao Vedelio entgegen gesetzet;
  • Christ. Kortholt in Dissert. de rationis … concursu;
  • Joh. Heinr. Majus in Disp. de ratione …, welche sich in seinem 1711 herausgekommenen selectior. exercitation. … befindet;
  • Georg Wolffgang Wedel in exercitat. de usu rationis humanae in sacris, Jena 1714;
  • Paul Antonius in Diss. de aestimatione …,
   
  dabey man auch noch Georg Friedr. Stiebers Tractat lesen kan, den er unter dem Titel: Die gecreutzigte Vernunfft, 1722 herausgegeben, darinnen man viele gute Anmerckungen findet, so hier können gebrauchet und appliciret werden.
   
  Von den
   
2) [1] Reformirten haben sich über diese Materie gemacht:
[1] HIS-Data:  korrigiert aus: zwey
   
  • Gisbert Voetius disput. theolog. …;
  • Frantz Turretinus in Instit. theolog. elencticae …;
  • Herm. Witsius miscell. sacror. …, wo er de usu et abusu rationis circa mysteria sacri handelt;
  • Wilh. Saldenus in Otiis theol. … nebst andern.
    Siehe Walchs Religions-Streitigkeiten ausser der Evangelisch-Lutherischen Kirche …
     
  Schlüßlich gedencken wir noch der  
  Veränderlichkeit der Vernunfft.  
  Die Vernunfft des Menschen ist der Veränderung unterworffen, und kan durch mancherley Zufälle verrücket werden, oder gar verlohren gehen. Ein handgreiffliches Exempel findet man in hitzigen Kranckheiten und Fiebern, daß die Patienten gar leicht fabeln, ein Hauffen ungereimte Sachen unter einander schwatzen, ja wohl gar rasen, wie in der Pest und bey Entzündung der Hirnhäutlein zu geschehen pfleget; es eignen sich aber auch noch andere Zufälle, da die Vernunfft oder die Phantasie ohne eine offenbar dabey seyende Kranckheit geschwächet und verrücket wird: nehmlich in der Unsinnigkeit und Melancholie.  
     

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Stand: 5. April 2013 © Hans-Walter Pries