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Zedler: Verstand des Menschen [2] HIS-Data
5028-47-1980-2-02
Titel: Verstand des Menschen [2]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 47 Sp. 1986
Jahr: 1746
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 47 S. 1007
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Übersicht
Dogmatische Betrachtung (Forts.)
  Was der menschliche Verstand sei? (Forts.)
 
  Erklärung des Verstandes (Forts.)
 
  2) unterschiedener Stand
 
  von Natur
  Verbesserung des Verstandes

Stichworte Text Quellenangaben
 
2) Wir müssen auch den Verstand betrachten nach dem unterschiedenen Stand, darinnen er sich befindet. Man kan ihn nach einem zweyfachen Stand der Natur und der Verbesserungen erwegen.
 
Natur
  Von Natur befindet sich derselbige bey allen Menschen als eine blosse Fähigkeit, und ob er wohl bey einem jeden einerley Kräffte hat, so sind sie doch einander in der Lebhafftigkeit nicht gleich. Denn manche haben von Natur ein lebhafftes Ingenium, ein mäßiges Judicium und ein schwaches Gedächtniß, und bey andern findet man wieder eine andere Art der Verknüpffung solcher Kräffte, die man das Naturel des Verstandes nennet, von dem wir oben gehandelt.
 
Verbesserung
  Weil aber solche Kräffte durch den Fall gar sehr geschwächet worden, so muß man eine Verbesserung vornehmen, und sie aus dem Stande der Schwachheit, oder Kranckheit in den Stand der Gesundheit setzen, und sich um die Geschicklichkeiten des Verstandes bemühen.
 
 
  Die Haupt-Fähigkeit ist das Judicium, auf dessen Geschicklichkeit auch der übrigen ihre beruhen, und nach dieser muß man die Güte eines Verstandes beurtheilen. Wenn man im Stande ist, das wahre Verhältniß der Ideen unter einander einzusehen, selbige richtig mit einander zu verbinden und wahre Schlüsse zu machen, so hat man ein gutes Judicium erlangt. Ist das selbige so lebhafft, daß es zugleich die Würckungen des Gedächtnisses und Ingenii dirigiret, so erhalten diese dadurch ihre Geschicklichkeiten.
 
 
  Auf solche Weise kan man drey Tugenden des Verstandes setzen, als
 
 
 
  • DISCRIMEN in Ansehung des Gedächtnisses, wenn man im Stande ist, die Ideen und Vorstellungen der Dinge ordentlich zu mercken;
  • VENUSTATEM auf Seiten des Ingenii, wenn man sich artige Einfälle, welche was angenehmes und scheinbares in sich fassen, erwecken kan;
  • und SENSU VERI ET FALSI, was das Judicium selbst betrifft, woferne sich selbiges in solchem Stande befindet, daß es die Wahrheit erkennen kan.
 
 
  Eine jede von diesen Geschicklichkeiten hat wieder ihre Grade, die man bisweilen auch mit besondern Nahmen beleget. Denn in Ansehung des Judicii ist ein Unterscheid unter vernünftig oder verständig, und scharfsinnig seyn; oder eine tieffe Einsicht worinnen haben. Bey solchen erlangten Geschicklichkeiten kommen auch die Gedancken des Verstandes geschickt heraus, daß wenn das Gedächtniß von dem Judicio gleichsam unterstützet wird, so weiß man eine Sache ordentlich zu mercken; und wo das Ingenium mit dem Judicio verknüpffet, so hat man sinnreiche und artige Einfälle; gleich wie die Gedancken des Judicii selbst wahr und gegründet sind. Nachdem solche Geschicklichkeiten unter einander verbunden werden, so entstehen daraus auch besondere Würckungen, die sich bey den unterschiedenen Objecten, damit man sich beschäftiget, zeigen.
 
 
   Die Frantzosen haben gewisse Benennungen, womit sie die Gaben des Verstandes ausdrucken,
 
  {Sp. 1987|S. 1007}  
 
  welche sind:
 
 
 
  • BON SENS, ein Vermögen das Wahre und Falsche wohl zu unterscheiden, und sich richtige Concepte zu machen;
  • BON GOUT, ein Vermögen das Gute und Bösen wohl zu unterscheiden,
  • und BEL ESPRIT, die Krafft, sich etwas lebhafft vorzustellen, eins mit dem andern zuvergleichen und geschwinde Einfälle zu haben.
 
 
  Der P. Bouhours hat die Eigenschafften eines schönen Verstandes weitläufftig beschrieben, und dreyerley Arten der Leute, die mit einem bel Esprit begabet wären, gesetzet.
 
 
  Etliche machten vornehmlich von der Gelehrsamkeit und dem Studiren Profeßion, da denn ein Gelehrter, wenn er diesen Titel führen wolte, einen solchen Verstand haben müsse, daß er geschickt sey, alle Sachen wohl zu unterscheiden, und selbige, wie sie an sich beschaffen, zu betrachten, die Grund-Regeln der Wahrheiten einzusehen, etwas leichte zu entscheiden, einen muntern und lebhafften Vortrag zu thun; immer einen guten Vorrath zu geschickten Discoursen zu haben, und in allem sich bescheiden zu erweisen.
 
 
  Andere hätten zwar nicht studiret; aber doch durch eine lange Erfahrung und Conversation sich die Geschicklichkeit zuwege gebracht, daß sie wohl, leicht und artig in Gesellschafft reden, daß sie alles, was man ihnen sagt, geschwind und scharffsinnig beantworten, geschickte Fragen aufwerffen, angenehme Historien erzehlen, mit Verstand schertzen, in frölichen Gesellschafften anmuthig spotten; in ernsthafften aber klug und weise raisonniren, und allerhand Gesellschafft belebt machen können, oder wenn dieselbe verdrießlich und schläfrig werden will, wieder aufzumuntern wissen.
 
 
  Noch andere von denen, die ein bel Esprit hätten, könnten zu wichtigen Verrichtungen vor andern gebraucht werden, die gleichsam im Augenblick, wenn man ihnen eine Verrichtungen darstelle, alle Umstände derselben penetriren, auch dasjenige zuvor sehen, was daraus entstehen könne; die alsbald die Mittel und Wege erkennen, wodurch man auch das schwereste Vorhaben ins Werck richte, und alle Verhinderungen aus dem Wege räume; die sich auch nicht allzuviel Verhinderungen oder Zufälle vorstellen, welche zu nichts anders nütze sind, als die Menschen ohne Noth zag- und zweiffelhafftig zu machen, wie solches Thomasius in dem Discours von Nachahmung der Frantzosen, der in den kleinen Deutschen Schrifften stehet ... aus dem Bouhours vorstellet.
 
 
  Das ist nun das Ziel, wohin die Verbesserung des Verstandes muß gerichtet werden. Man sucht ihn von den Mängeln und Schwachheiten, die ihn ankleben, zu befreyen, und ihn hingegen in den Stand setzen, daß er geschickt sey, dasjenige zu verrichten, was ihm nach der göttlichen Absicht zukommt.
 
 
  Ist die vornehmste Krafft des Verstandes das Judicium, so muß man auch dessen Haupt-Verderbniß in dem Mangel; oder in der Schwachheit desselbigen suchen. Der Mangel des Judicii rührt entweder von Natur, oder von einer schlimmen Erziehung her. Von Natur findet er sich bey einigen Menschen auf dreyfache Art. Bey einigen ist solcher zugleich mit einem Mangel des Gedächtnisses und Ingenii im Gebrauch verknüpffet, welches der höchste Grad der Tummheit; andere haben bey einem
 
  {Sp. 1988}  
 
  ziemlichen Gedächtnisse einen Mangel am Ingenio und Judicio, so man Stupidität nennen kan, und denn haben welche Ingenium und Einfälle genug; es fehlt aber am besten, oder am Judicio, welches die Narrheit ist.
 
 
  Bey einem solchem natürlichen Mangel läst sich durch die Verbesserung nicht viel ausrichten, weil die Natur der Kunst die Hand bieten muß, wenn sie glücklich von statten gehen soll. Ist aber eine natürliche Krafft vorhanden, die man bisher bey einer übeln Erziehung und Unterweisung entweder gar nicht verbessert; oder wohl gar verschlimmert, so ist die Verbesserung des Verstandes vorzunehmen, bey welcher man zwar die vornehmste Bemühung auf das Judicium wendet; zugleich aber nach Befinden der Umstände sein Absehen mit auf das Gedächtniß und Ingenium richtet.
 
Umstände
  Wissen wir nach dem, was jetzo gesaget worden, wohin die Verbesserung des Verstandes zielen soll, so haben wir bey desselbigen noch drey Umstände zu erwegen, als
 
 
 
  • ihre Nothwendigkeit;
  • die Art, wie sie anzustellen,
  • und wie weit sie sich erstrecket.
 
 
  Der erste Umstand ist die Nothwendigkeit der Verbesserung, welche daraus zu erweisen, daß uns die Natur nur bloße Fähigkeiten giebt; daher wie wir schon vorher gedacht haben, Natur und Kunst einander secundiren und gleichsam die Hand bieten müssen, daß wenn die Natur die Materie darreichet, welches die Fähigkeiten sind, so muß die Kunst durch Fleiß und Übung ein Meisterstück daraus verfertigen, welches hier und desto nöthiger ist, weil die Fähigkeiten der Seelen nach dem Falle immer schwächer, und die Neigung zum unrechten Gebrauch stärcker worden.
 
 
  Es haben die Alten das menschliche Gemüthe mit einem Acker verglichen, daß wie dieser ohne künstliche Zubereitung, wenn er von Natur noch fruchtbar sey, keine Früchte tragen werde; also werde auch unser Gemüthe ohne angestellte Verbesserung diejenige Früchte nicht darreichen, die es nach der Absicht Gottes tragen solte. Hierauf zielet Cicero de finib. ... wenn er schreibet: Subacto mihi ingenio opus est, ut agro non semel arato; sed novato et iterato, quo meliores foetus possit et grandiores edere.
 
 
  Der andere Umstand betrifft die Art, wie die Verbesserung anzustellen. Dieses kommt auf die Absicht an, die man dabey hat. Denn entweder will man nur etwas erkennen und lernen, und also der Unwissenheit abhelffen, welches das Gedächtniß angehet, wohin die auf mancherley Art erfundene und vorgestellte Gedächtniß Kunst gehöret, oder man sucht, seinem Ingenio zu helffen, daß man hurtige und sinnreiche Einfälle haben möge, wobey Natur und Übung das beste thun müssen; oder man will seinem Judicio zu statten kommen, daß man vernünfftig von einer Sache zu urtheilen, und die Wahrheiten einzusehen geschickt werde, welches das vornehmste Werck dabey ist.
 
 
  Solche Verbesserung beruhet auf den Gebrauch gewisser Mittel, die wir in Theoretische und Practische eintheilen. Die Theorie fasset Regeln in sich, das ist, General-Wahrheiten, welche weise und wohlgeübte Leute denen ihnen häuffig vorgekommenen Exempeln abstrahiret, und die ihnen und andern bey vorfallenden specialen Fällen als eine Norm die-
 
  {Sp. 1989|S. 1008}  
 
  en sollen. Solche Regeln werden in der Logick vorgetragen, wenn man nicht nur weiset, wie man seine Gedancken geschickt einzurichten, wie man sich deutliche, ordentliche und hinlängliche Vorstellungen zu machen, ein wohlgegründetes Urtheil abzufassen, richtig zu schliessen; sondern auch zeiget, wie die Hindernisse, die einem im Wege liegen, weg zu räumen, und die vorgeschlagene Mittel wirklich zugebrauchen.
 
 
  Dieses läst sich hier so genau nicht ausführen, indem man sonst fast eine gantze Logick hersetzen müste. Doch die blosse Theoretische Erkänntniß auch der allerbesten und gründlichsten Regeln, die andere geben, nutzet an sich keinem Menschen was, wenn nicht die beständige Praxis und Übung hinzu kommt, und die Theoretischen Mittel mit den Practischen verknüpffet werden.
 
 
  Es begreifft die Praxis selbst zwey Stücke, die Application und die Ausübung. Die Application ist diejenige Würckung, da man eine zwar überhaupt begriffene General-Regel an den vorgekommenen Special Fällen begreifft, z.E. wenn einer in der Regel verschiedene General-Regeln von dem Affect des Zorns, wie er so leichte könnte erreget werden, den Verstand einnehme, daß man nicht sehe, was recht oder unrecht, gut oder böse, und äusserlich in den Gliedern des Leibes sich gar mercklich zu erkennen gäbe, in der Theorie gehöret, oder gelesen hätte, so müste er sich aller selbigen erinnern, wenn ihm ein zorniger Mensch vorkommt, und sehen, ob er sie auch an diesem Falle begreiffen könte, wie es vorher überhaupt und in Abstracto geschehen. Solche Application setzt Special-Fälle, oder Exempel voraus, und diese gründen sich wieder auf die Erfahrung und Gebrauch der Bücher.
 
 
  Es wird aber diese Application billig mit der Ausübung verknüpffet, da man auch nach den erkannten Regeln sein wirkliches Verfahren einrichtet, daß wenn dieses öffters geschiehet, nach und nach ein Habitus daraus entstehet. Solche Ausübung auf Seiten des Verstandes kan man überhaupt die Meditation nennen.
Man lese; was Walch in den Gedancken von dem Philosophischen Naturell c. 2. p. 60. u.ff. ausführlich von dieser Materie geschrieben.
 
  Der dritte Umstand ist, wie weit sich solche Verbesserung des Verstandes erstrecke. Die Sache hat hier ein gewisses Ziel. Es kan aber unser Verstand auf zweyerley Art eingeschräncket werden. Zum ersten geschiehet solches im Absehen auf die Anzahl der erkannten Dinge; zum andern im Absehen auf den Grad der Deutlichkeit, womit er sich dieselben vorstellet. Derjenige Verstand ist also grösser, der sich viel Dinge vorstellet, als ein anderer, der nur sehr wenige deutliche Begriffe hat, und derjenige ist noch vollkommener, der sich die Dinge in einem höhern Grade der Deutlichkeit, das ist, ausführlich und vollständig vorstellen kan. Der allervollkommenste und grösseste Verstand würde der seyn, der sich alles, was möglich ist, in dem höchsten Grade der Deutlichkeit vorstellet. Dergleichen Verstand ist nur in GOtt, nicht aber in dem Menschen zu suchen.
Huet de la foiblesse de l'esprit humain.
Ziel
  Das Ziel der Verbesserung des menschlichen Verstandes ist entweder ein gemeines; oder ein besonderes. Bey jenem müssen alle,
 
  {Sp. 1990}  
 
  die solche Verbesserung übernehmen, stehenbleiben, wenn sie auch die Sache noch so hoch treiben, und wirklich eine grosse Scharffsinnigkeit erlanget, daß sie dennoch viele Schwachheiten des Verstandes behalten, und Proben davon durch Irrthümer an den Tag legen.
 
 
  Das besondere Ziel hingegen wird nach eines jeden Absicht abgemessen. Denn zuweilen sucht man nur eine Geschicklichkeit von denjenigen Dingen, die täglich in dem gemeinen Leben fürkommen, vernünfftig zu urtheilen, darum sich billig alle bemühen solten; Zuweilen hingegen hat man nach einer höhern Geschicklichkeit zu streben, welches diejenigen thun müssen, welche eine gründliche Gelehrsamkeit erlangen, und sich besonders den Philosophischen Wissenschafften widmen wollen, dahin auch vornehmlich diejenigen Mittel gehen, welche wir vorher vorgeschlagen.
 
 
  Insonderheit weiset die Logick den Weg an, den man bey solcher vorhabender Ausbesserung des Verstandes gehen soll. Nicht allein aber die Logick, sondern auch die Meßkunst verbessert den Verstand. Gelehrte und verständige Leute haben zu allen Zeiten, seit dem man sich auf die Meßkunst geleget hat, den Nutzen derselben, in Schärffung des Verstandes gerühmet. Man trifft vielfältige Zeugniße davon so wohl der Alten als neuern allenthalben an.
 
Wirkungen
  Wir wollen demnach erwegen, worinnen denn die Schärffe des Verstandes (ACUMEN INTELLECTUS) bestehe, und was eine nützliche und vorsichtige Erlernung der Meßkunst für Hülffs-Mittel solche zu erlangen, an die Hand gebe? Es giebt drey Würckungen des Verstandes: Begriffe, Urtheile und Vernunfft-Schlüsse. Bey einem jeden äussert sich die Schärffe des Verstandes, welcher die Meßkundigen, vornehmlich in der Feldmeßkunst erfahrnen zu allen Zeiten fast eigen gehabt.
 
Erklärungen
  Zu der ersten Würckung des Verstandes gehören die genauen Erklärungen, (definitiones exasciatae,) ob sie gleich meistens durch alle drey Würckungen des Verstandes heraus gebracht werden. Sie sind aber alsdenn genau, wenn sie nicht mehr Bestimmungen von der erklärten Sache in sich fassen, als das übrige zuerweisen hinreichend ist. Die Bestimmungen aber einzusehen, wird keine geringe Scharffsinnigkeit erfordert.
 
 
  Wem ist wohl unbekannt, daß dergleichen Erklärung ausser der Meßkunst bisher sehr selten gewesen sind? Einige haben es daher Herrn Wolffen gar übel ausgeleget, daß er solche Erklärungen in die Weltweisheit eingeführet, und haben ihm daher gantz dreuste allerley beschwerliche Folgerungen aufgebürdet. Die aber in der Meßkunst erfahren sind, sehen daraus, daß den Erklärungen nichts an ihrer Vollkommenheit abgehet, wenn sie mercken, daß sie hinreichend sind, das übrige, welches den Sachen zukommt, oder zukommen kan, daraus zu erweisen.
 
 
  Denn in der Meßkunst haben Sie keine andere Erklärungen gelernet, und sind auch nicht anders überzeuget worden; sie seyn so vollständig, daß man daran nichts auszusetzen findet. Wer sich auf die Meßkunst leget, dem hilfft diese Scharffsinnigkeit dergestalt wohl, dass er über solche Erklärungen lachet, darinnen diejenigen Beschaffenheiten der Sachen mit angeführet werden,
 
  {Sp. 1991|S. 1009}  
 
  welche sich doch aus dem übrigen, was hinein gebracht worden ist, bestimmen lassen.
 
richtige Bestimmung der Sätze
  In der andern Würckung des Verstandes zeiget sich die Scharffsinnigkeit, wenn die Sätze richtig bestimmet sind. So dann aber sind die Sätze richtig bestimmet, wenn in dem Begriffe des Vorderglieds, nichts mehrers noch wenigers angenommen wird, als womit, wenn man es annimmt, auch das Hinderglied angenommen werden muß. Wenn nehmlich die Sätze unbedinget sind, so wird nichts angenommen, als das, was in die Erklärung hinein kommt, und dahero leidet man sonst keine andere, als genaue Erklärungen, und die Erweise machen erst deutlich, ob sie genau genug gewesen sind, oder ob sie noch weitere Ausarbeitung (exasciationem) vonnöthen haben. Sind aber die Sätze bedingt, so kommen noch zu den wesentlichen Bestimmungen, welche die Erklärung ausmachen, auch zufällige, entweder innerliche oder äusserliche; und wenn man diese annimmt, so lässet sich erweisen, daß sich das Vorderglied zu dem Hintergliede schicke.
 
 
  Man hat aber eine sonderbare Scharffsinnigkeit nöthig, wenn man einsehen will, ob ein Satz recht eingeschränckt sey, oder ob weder zu viel noch zu wenig von dem Vordergliede angenommen worden ist, als hinreichet, das Hinterglied zu bestimmen. Wem ist nun unbekannt, daß ausser der Meßkunst bisher dergleichen Sätze sehr selten gewesen sind, und daß wenn man auch solche vorbringet, es doch den meisten an der Scharffsinnigkeit fehlet, daß die einen sehen können, sie seyn richtig eingeschräncket?
 
 
  Daß es an dieser Scharffsinnigkeit fehle, beweisen die voreiligen Beurtheilungen der Folgerungsmacher, welche ich weiß nicht was für ungereimte Beschuldigungen allein und des willen erdichten, weil sie nicht verstehen, daß man von dem Vordergliede eben dasjenige nehmen muß, dadurch das Hinterglied bestimmet wird, und daß sich kein anderes Hinterglied zu dem Vordergliede setzen lässet, als das durch dasjenige bestimmet wird, davon es vermöge des vorhergehenden richtig ist, daß man es von ihm sagen kan. Wir haben um uns Beyspiele, welche den Mangel der Scharffsinnigkeit bekräfftigen, der sich insgemein bey der andern Würckung des Verstandes befindet. Wer aber in der Meßkunst wohl bewandert ist, siehet daher, das Hinterglied schicke sich zu seinem Vordergliede, wenn er mercket, daß sich aus demjenigen, was von ihm angenommen wird, erweisen lässet, es komme ihm zu.
 
 
  Denn man hat in der Meßkunst keine andere als richtig eingeschränckte Sätze gelernet, und ist gewohnt, daraus es zu erkennen, daß sie recht bestimmet sind, und daß man nichts weiter an ihnen aussetzen kan, wenn sich das Hinterglied aus dem Begriffe des Vordergliedes bestimmen lässet. Diese Scharffsinnigkeit aber gefällt denen, die sich auf die Meßkunst legen, dergestalt wohl, daß sie über die Sätze lachen müssen, wenn sie jemand aus bestimmten zu unbestimmten macht.
 
ordentliche Verbindung der Schlüsse
  Endlich in der dritten Würckung des Verstandes zeiget sich die Scharffsinnigkeit, wenn die Vernunfft-Schlüsse, durch welche aus dem angenommenen das, dem Vordergliede beygelegte Hinterglied hergeleitet wird, ordentlich mit einander verbunden
 
  {Sp. 1992}  
 
  worden, daß in den Beweisen eine Deutlichkeit und Richtigkeit herauskommet. Es wird aber keine geringe Scharffsinnigkeit erfordert, eine richtige Verbindung von einer unrichtigen zu unterscheiden. Wem ist wohl unbekannt, daß die Beweise ausser der Meßkunst noch weit von derjenigen Beschaffenheit entfernet sind, welche ihnen die Auseinandersetzung der Vernunfft-Schlüsse giebt, daß es daher viele verlachen und verwerffen, wenn man sie in ihre richtige Beschaffenheit setzet.
 
 
  Wer aber in der Meßkunst bewandert ist: Dem ist die Richtigkeit und Deutlichkeit (evidentia) gar nicht mercklich, wenn zu den Sätzen, die erwiesen werden sollen, statt eines Beweises noch nicht aus einander gesetzte (involutae) Gründe angegeben werden, wie es insgemein zu geschehen pfleget, also daß man gar nicht sehen kan, auf was Weise sich der Satz, der bewiesen werden soll, da heraus bringen lässet. Daher geschiehet es, daß das, was in der Meßkunst unwissende für einen überaus bündigen Grund angeben, die darinnen bewanderte für gantz untüchtig zu einiger Überredung erkennen, ja öffters gar als einen falschen Schluß befinden.
 
 
  Um dieser Ursache willen ist kaum etwas gemeiner, als daß diejenige, welche die Deutlichkeit und Richtigkeit der Mathematischen Beweise erfahren haben, alles ausser der Meßkunst für ungewiß achten, und an nichts anders als an der Meßkunst gefallen haben. Denn in der Meßkunst sind sie gewohnt worden, nichts als richtig zuzugeben, ausser wenn durch augenscheinliche Beweise der Beyfall abgenöthiget wird, dergleichen ihnen ausser der Meßkunst nicht wiederfähret.
 
 
  Aus dem bisher gesagten erhellet, daß die Meßkunst den Verstand schärffe, in so ferne sie genaue Erklärungen, eingeschränckte Sätze und richtige Beweise an die Hand giebt, indem sich auf solche Weise ein Begriff von der gewissen Erkänntniß unserm Gemüthe eindrucket, welchen keine haben kan, als der die Sachen mit Gewisheit hat erkennen lernen. Es schärffet also die Meßkunst den Verstand vermöge der genauen Lehrart, nach welcher die Sätze darinnen vorgetragen und aus einander gesetzet werden, und ohne welche es unmöglich ist, die Wahrheit deutlich zu erkennen. Daher werden diejenigen dieses Nutzes nicht theilhafftig, welche nur die Mathematischen Sätze auswendig lernen, die Beweise aber, dadurch alle Wahrheiten untereinander verbunden werden, vorbey lassen.
 
 
  Die gantze Mathematische Lehrart bestehet in der Anwendung der Regeln von einer rechten Vernunfft-Lehre. Da nun diese aus dem Begriffe eines Dinges hergeleitet werden muß, gleichwie Wolff in seinem Lateinischen Philosophischen Wercken bereits erwiesen hat: so sind sie der Meßkunst nicht eigen, sondern können und müssen in allen Wissenschafften, wie sie Nahmen haben mögen, gebraucht werden. Denn wer sich einbildet, daß man eine unnütze Arbeit unternehmen würde, wenn man die in der Meßkunst gebräuchliche Lehr-Art auch in die übrige Wissenschafften einführen wolte: Der betriegt sich sehr, da ohne diesen sich die Wahrheit nicht völlig einsehen, ge-
 
  {Sp. 1993|S. 1010}  
 
  wis behaupten, noch dergestalt einschräncken lässet, daß man ohne Gefahr eines Irrthums die Anwendung davon auf die vorkommende Fälle machen kan. Man legt sich auf die Meßkunst, damit man eine Fertigkeit in der Lehrart bekommt, um dadurch die Wissenschafften deutlicher zu machen, weil durch eine genaue Anwendung der Vernunfft-Lehre so wohl die Regeln besser verstanden, als auch von uns mit mehrerm Fortgange zum Nutzen angewendet werden.
Wolffs gesammlete kleine philosophische Schrifften ...
 
  Ebenda selbst im III Th. ... schreibet Herr Wolff:
 
 
  Nun wohlan, wer erkühnet sich also in Zweiffel zu ziehen, daß die Mathematischen Wissenschafften, so wohl um der Deutlichkeit und Hoheit der Sachen willen, als auch wegen der Strenge und Gründlichkeit der Beweise, ingleichen der Schönheit und Vortrefflichkeit der Ordnung allen andern weit vorzuziehen sind, auch den Verstand ungleich mehr verbessern? Nur der, dem die Kräffte der Seele unbekannt sind, der ein gründliches Urtheil nicht von einem seuchten, noch einen stumpffen Verstand von einem scharffen unterscheiden kan, der auch den Gipffel der Vollkommenheit nicht einsiehet, zu welchem der Verstand gelangen kan.
 
 
  Meines Erachtens, hat man alsdann erst einen scharffen Verstand, wenn man nicht alleine das helle von dem dunckeln, das deutliche vom undeutlichen, das vollständige von dem unvollständigen, dass ausgemachte vom unausgemachten, dass gewisse vom ungewissen, das wahrscheinlichere von dem nicht so wahrscheinlichen zu unterscheiden im Stande ist, sondern auch selbst genau und deutlich im Erklären, fleißig und vorsichtig im Bemercken, scharffsinnig und genau im Versuchen, strenge und scharff im Urtheilen, ordentlich und bündig im Beweisen, gedultig und fertig im Erfinden ist.
 
 
  Allein wie gelanget man wohl zu so gar vortrefflichen Fertigkeiten? Nicht anders als durch eine offtmahlige Übung. Man muß also sich viel mit Auseinanderwicklung der Begriffe, Aufsetzung der Beweise, Auflösung der Aufgaben zu thun machen, auch keine geringe Mühe auf Nachdencken und Erfinden verwenden. Weil nun diejenigen, welche die Meßkunst, und die übrigen Künste mit gleichem Fleiß getrieben haben, von keiner wissen, welche zu diesem Zweck dienet, als der Meßkunst allein: So thue ich billig den Ausspruch, die Erkänntniß der Meßkunst seye zu Schärffung der Urtheilungs-Krafft ungemein nöthig, und ohne dieselbige könne man zu einer gründlichen Erkänntniß der Wahrheiten nicht gelangen.
 
 
  Wie und wodurch der Verstand am besten aufzuräumen, davon lese man l'art d'orner l'Esprit en l'amusant, ou Nouveau Choix de Traits vifs, saillans, et legers. Par M. Gayot de Pitaval, Paris 1728. in zwey Duodetz-Bänden. Es sind hierinnen nicht Regeln, sondern nur Exempel enthalten, weil der Verfasser zweifelt, ob sich der Verstand durch die Kunst aufgeweckt und munter machen lassen, und ob man dergleichen
 
  {Sp. 1994}  
 
  Regeln geben könne, welche durch ihre Ausübung zu diesem Zwecke führen. Das beste Mittel, solches zu erhalten, ist die Lesung aufgeweckter Schrifften von der besten Art in denen Wissenschafften, die zur Belle Litterature gehören, wodurch der Verstand unvermerckt die Art dessen annimmt, womit er beständig umgehet, und sich in seiner Manier zu dencken nach den grossen Mustern richtet, die er immer vor sich hat.
 
 
  Es zeiget uns aber das natürliche Recht die Schuldigkeit, an der Ausbesserung des Verstandes zu arbeiten, als ein Stücke der Pflichten gegen sich selbst, an. Denn man soll überhaupt nach der Vollkommenheit streben, und also ist es denn auch die Pflicht eines jeden, die Vollkommenheit seines Verstandes, so viel, als es ihm möglich ist, zu befördern. Man soll also nach allem Erkänntniß streben, welches zu erlangen in seinen Kräfften stehet: ja man soll in jedem Falle den höchsten Grad der Deutlichkeit und Vollständigkeit zu erreichen trachten. Doch ist es billig, diejenige Art des Erkänntnisses allen übrigen vorzuziehen, der wir in unsern Umständen am wenigsten entbehren können,
 
 
  Weil aber die Pflichten gegen uns selbst der untrügliche Maaßstab der Pflichten gegen andere, so sind wir daher verbunden, die Vollkommenheit des Verstandes auch bey andern zu befördern. Und da diese in einer deutlichen Erkänntniß der Wahrheit, in Vollständigkeit der Begriffe, in Richtigkeit der Urtheile, und Gründlichkeit der Vernunfft-Schlüsse bestehet; so sind wir verbunden, andern, so viel uns möglich ist, die Erkänntniß zu erweitern und zu verbessern; ihnen die Wahrheit beyzubringen, und die Irrthümer zu benehmen; sie von Vorurtheilen zu befreyen und zur Wissenschafft anzuführen.
 
 
  Es verstehet sich dieses aber mit dem Bedinge, daß wir Fähigkeit, Zeit und Gelegenheit dazu haben, denn sonst würden wir nicht dazu verbunden seyn. Hingegen ist es auch unsere Pflicht, niemanden vorsetzlich in Irrthum zu stürtzen, keinem durch Vorurtheile den Verstand zu umnebeln, keinen an deutlicher Erkänntniß zu hindern, oder einen von der Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten abzuhalten.
Gottscheds erste Gründe der gesamften Weltweißheit, Pract, Th. ...
 
  In der Tugend-Lehre wird gefraget, ob der Verstand dem Willen gebiethe, oder sich von ihm beherrschen lasse, wovon in dem Artickel: Wille, gehandelt worden.
 
     

vorhergehender Text  Teil 1 Artikelübersicht Teil 3  Fortsetzung

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Stand: 27. Februar 2013 © Hans-Walter Pries