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Zedler: Verstand des Menschen [4] HIS-Data
5028-47-1980-2-04
Titel: Verstand des Menschen [4]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 47 Sp. 2008
Jahr: 1746
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 47 S. 1017
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Übersicht
Dogmatische Betrachtung (Forts.)
  Was der menschliche Verstand sei? (Forts.)
 
  Erklärung des Verstandes (Forts.)
 
  3) Gebrauch des Verstandes (Forts.)
 
  Gedankenfreiheit (Forts.)
 
  physische (Forts.)

  Text  
  Man hat von dem beruffenen Antonio Collino einen Discours sur la liberte de penser, wovon folgende Nachricht kan gegeben werden: Es kam dieser 1713. zu Londen in Englischer Sprache heraus, worauf er 1714. Frantzösisch, und zum anderen mahl 1717. zu Amsterdam gedruckt worden. Er bestehet aus dreyen Abtheilungen.  
  In der ersten wird die Freyheit zu raisoniren beschrieben, daß sie ein zugelassener Gebrauch des Verstandes sey, welcher sich bemühe, durch Überlegung der Gründe, womit man einen Satz unterstütze, oder über einen Hauffen werffe, den rechten Verstand derselben zu entdecken, damit man nach der Wichtigkeit und Stärcke dieser Gründe sein Urtheil aufsetzen könne.  
  Nach dem er die Wichtigkeit und Nothwendigkeit dieser Freyheit und deren Gebrauchs angezeiget, indem sonst allerhand absurde Meynungen sich einschleichen müsten, so sagt er unter andern, es könne den Sinnen nichts mehr, als die Lehre der Papisten und Lutheraner vom Heiligen Abendmahle zuwieder seyn, da sich jene einbildeten, daß sich das Brod in den Leib, unterweilen in das Blut Christi verwandele; diese aber ihren Anhängern vorsagten, daß der Leib und das Blut Christi unter dem Brod und Wein verborgen. Es könne dadurch die Macht des Teuffels unvergleichlich besser zerstöhret werden, als durch alle Exorcismos, grosse Anzahl von Predigten, und andern dergleichen Mitteln.  
  Man sahe solches offenbar in den Vereinigten Niederlanden, wo man niemahls hörte, daß der Teuffel, als ein schwartzer Mann, oder als ein Todten-Gerippe, oder als ein Kater, oder unter einer andern Gestalt erschienen. In Engelland hingegen, wo die Freyheit nicht im Schwang, sey es schon weit anders, und höre man immer über die Menge der Hexen und Hexenmeister klagen, da doch die Macht des Teuffels theils eine Betrügerey, theils eine Leichtgläubigkeit zum Grunde habe, und die Bestraffung der Hexen eine rechte Mordthat, die vermeynten Conqueten lauter Chimären.  
  In der andern Abtheilung wird dargethan, das man nicht allein befugt, frey zu raisonniren, sondern auch darzu verbunden sey, und zwar auch bey solchen Materien, die von der Natur und Eigenschafften GOttes, von der  
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  Wahrheit und Autorität der Schrifft, wie auch deren rechtmäßigen Erklärungen handeln.  
  In der dritten werden die Einwürffe, die man wieder die Freyheit zu gedencken fürbringen könnte, mit ihrer Beantwortung angeführet. Wenn unter andern dürffte eingewendet werden, man könnte durch dergleichen Freyheit zu raisoniren leicht in eine Atheisterey verfallen; so antwortet er, es stünde noch dahin, ob es speculativische Atheisten gäbe, und gesetzt, es finden sich solche Ungeheure, so müste es ein recht thörichter Mensch seyn, der die Existentz GOttes leugnen wolte, und wenn auch solche Freyheit Atheisten machen solte, so würde doch der Mangel derselben unzählich mehr abergläubische und fanatische herfür bringen, welche wohl in einer Republick mehr schaden, als Atheisten anstiffteten.  
  Diejenigen, die seiner Meynung nach sich ihrer Freyheit zu raisoniren bedienet, sollen folgende seyn: Socrates, Plato, Aristoteles, Epicurus, Plutarchus, Varro, Cato, Cicero, Cato Uticensis, Seneca, Salomo, die Propheten, Josephus, der Historien-Schreiber, Origenes, Minutius Felix, Sonesius, Baco de Verulamio, Hobbesius, Tillotson.  
  Diese Schrifft machte gleich in Engelland groß Aufsehens, und hatte man bald mehr, denn zwantzig Antworten darauf, zugeschweigen, wie man fast in allen Predigten auch bey den grösten Solennitäten von nichts, als diesem Buche hörte. Worunter insonderheit Samuel Pycroft brevem disquisitonem de libertate philosophandi ..., Cambridge 1713 und Richart Bentley unter den Nahmen Phileleutheri Lipsiensis, in zwey Theilen, animadversiones in nuperum discursum de cogitandi libertate, Londen 1713 geschrieben haben, von welcher letztern Schrifft die Acta Eruditorum 1714 ... und 1715 ... zu lesen, denen vor einigen Crousatz gefolget, und examen du traité de la liberté de penses herausgegeben, Amsterdam 1718. und von den Deutschen haben wider ihn geschrieben  
 
  • Buddeus in commentatione de libertate cogitandi,
  • Koch in disquisitione philosophica ..., beyde zu Helmstädt 1714,
  • Pfaff in diss. prior. ...
 
  Anfangs dachte man, der beruffene Toland sey Urheber dieses Buchs, es fande sich aber, daß nicht er, sondern ein guter Freund von ihm, Antonius Collinus, dem er den adeisidaemonem zugeschrieben hat, dasselbige aufgesetzet.  
  Aus dem gantzen Wercke siehet man gar leicht, daß er nicht die wahre, und nach dem Willen GOttes eingerichtete Freyheit zu gedencken, nicht libertatem, sondern licentiam cogitandi habe vortragen, und die Geistlichen, sonderlich in Engelland aus einem gehäßigen Gemüthe durchziehen wollen.  
  Die Materie, wovon er geschrieben, ist vortrefflich, und verdienet auch eine besondere Ausführung; sagt auch hin und wieder viele Wahrheiten, und macht manche gute Anmerckungen; Die Haupt-Sache aber, und sein eigentliches Absehen nutzen nichts, welches man gleich aus der angegebenen Definition von der Freyheit zu gedencken siehet; Er sagt: Sie sey  
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  ein zugelassener Gebrauch seines Verstandes, welcher bemühet sey, durch Überlegung derer Gründe, womit man eine Proposition unterstütze, oder übern Hauffen werffe, den rechten Verstand derselben zu entdecken, damit man nach der Wichtigkeit und Stärcke dieser Gründe sein Urtheil abfassen könne.  
  Bey dieser Beschreibung, worauf die gantze Abhandlung beruhet, ist unterschiedenes zu erinnern. Denn zu geschweigen, daß sie ziemlich dunckel abgefasset, so gedencket er nicht der Grentzen, wieweit sich diese Freyheit erstrecke, welche doch nicht unendlich hinaus gehen kan, so wider die Natur des Verstandes; und indem er sagt, es sey ein zugelassener Gebrauch des Verstandes, und damit einräumet, daß diese Zulassung und Freyheit von dem Urheber desselben, oder von GOtt dependiret, so hätte er die Göttliche Absicht, warum wir unsern Verstand haben berühren, und daraus noch einen Grund von den Grentzen zu gedencken, erkennen können.  
  GOtt hat uns freylich verstattet, unsern Verstand zu gebrauchen, indem er nicht nur seinet, sondern um unsertwegen ist, aber nicht, wie wir nach unsern Gefallen wollen; sondern wie es die Absicht nach der Göttlichen Weisheit mit sich bringet. Es ist ein Unterscheid unter der Freyheit an sich selbst zu gedencken, und unter dem rechtmäßigen Gebrauch desselbigen, und weil die Gedancken ihren gewissen Endzweck haben sollen, so folgt noch nicht, daß das man gedencken könne, sey auch recht zu gedencken.  
  Vors andere giebt er in der Definition weniger an, als es seyn solte, wenn er meynet, man müsse die Beweis Gründe von beyden Seiten vorher wohl prüfen, ehe man ein Urthel abfasse. Denn wir haben unterschiedene Arten der Gedancken, als des Gedächtnisses, Ingenii und Judicii, welche letztere Fähigkeit vornehmlich mit den Gedancken der Wahrheit zu thun hat. Gedencken wir durch das Judicium und Meditiren, so muß man alle Zeit den Unterschied unter der Wahrscheinlichkeit und der gantz gewissen Wahrheit vor Augen haben, und sehen, ob man eine Wahrheit erfinden, es sey in einem Urthel, oder Vernunfft Schluß; oder prüfen wolle.  
  Wenn man Collini Definition genau betrachtet, so siehet man, wie er hier das Dencken nur blos in Zweiffeln setzet und kommet da hinaus, man müsse an allen zweiffeln: Es können alle Menschen, fährt er fort, sich das Recht frey zu raisoniren anmassen, weil allen das Recht, die Wahrheit zu erkennen, zukomme, welches insoweit richtig, wenn man nur die eingeschränckte Freyheit verstehet, daß sie es nach der Beschaffenheit ihres Verstandes thun könnten und nach der Absicht GOttes thun sollen.  
  Er sagt weiter: Dieser freye Gebrauch seiner Gedancken ist das eintzige Mittel, sich in freyen Künsten und Wissenschafften vollkommen zu machen, und wer solches verlasse, gerathe auf einen Weg, dadurch er zu allerhand Absurditäten verführet werde, wovon uns ein Exempel nicht allein die ersten Christen und die Heyden, sondern auch diejenigen geben, welche den Conciliis eine Unbetrüglichkeit, den Pfaffen die Macht seelig zu machen,  
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  und zu verdammen, zuschreiben; die da nöthig erachten, die Heiligen, die Bilder und die Reliquien anzubeten, die es vor eine Ketzerey halten, wenn man Antipodes glaube, die den Galiläum ins Gefängniß steckten, als er lehrte, daß die Sonne stille stünde, und die Erde sich bewege.  
  Zur Erläuterung dieses Periodi dienet zum voraus, daß er hier auf Virgilium, einen Bayerischen Bischoff, zielet, welcher lehrte, daß es Antipodes gäbe, weswegen er von Bonifacio bey dem Pabst Zacharia verklaget, und in die Rolle der Ketzer gesetzet wurde. Denn man machte diesen schönen Schluß, wo es Antipodes giebt, so muß es auch Leute geben, die nicht von Adam herkommen, indem alle Kinder Adams alle aufgerichtet, und mit erhabenen Haupte gehen, da hingegen die Antipodes die Beine in die Höhe kehren, und den Kopff niederhangend haben. Giebt es nun Menschen, die nicht von Adam herstammen, so ist Christus nicht Erlöser des gantzen menschlichen Geschlechts, weil er nur diejenigen erlöset, die mit Adam gefallen; wer aber saget, daß Christus nicht ein Erlöser des gantzen menschlichen Geschlechts, der ist ein Ketzer.  
  Mit dem Galiläo aber hat es diese Bewandniß. Er lehrte, daß die Sonne stille stünde, und die Erde sich um ihre Axe bewegte. Pabst Urbanus der Achte sahe solches als eine Ketzerey an, und befahl ihm diese Meynung fahren zu lassen, indem er aber dem ohngeachtet dabey bliebe, so kam er in die Inquisition, und muste nach fünfjähriger Gefangenschafft selbige wiederruffen.  
  In Ansehung der Sache selbst hätte Collinus die beyden Abwege bey der Freyheit zu gedencken berühren sollen, indem man nicht nur der Sache zuwenig, sondern auch zuviel thun kan, und durch das letztere eben so grossen, ja wohl noch grössern Schaden, als durch das erstere erregen kan. Allein er gedencket in seinem gantzen Buch kein Wort von dem Mißbrauch dieser Freyheit, und wie er den Papisten ihre Sclaverey im Dencken hat fürwerffen können; also hätte er mit leichter Mühe solche Exempel beyzubringen gehabt, welche ihrer Freyheit gemißbrauchet, und indem er dieses nicht gethan, siehet man leicht, wo seine Absicht hingehet.  
  Damit er dieses noch deutlicher mache, so vergleicht er solche mit der Freyheit zu sehen und erdichtet diesen Casum: Gesetzt, es kämen einige Personen auf die Gedancken, daß zur Erhaltung der Ruhe und der Republic höchst nöthig, daß alle Leute von gewissen Objectis des Gesichts einerley Gedancken hegten, gesetzt, sie machten folgende Glaubens-Artickel: ein Ball kan durch ein Bret geworffen werden; aus einem kleinen Ball können zwey grosse entstehen; ein Stein kan von sich selbst verschwinden, worauf man die Leute, solches zu glauben zwingen wolte, und bestellte Personen, die um einen guten Gewinst solche Sachen lehren und erklären müsten, so würde man alsbald sehen, daß diese Personen die Glaubens-Artickel bereicherten, mit ihren Glossen und Erklärungen erläuterten, den Leuten weiß machten, man müste seinen fleischlichen Augen nicht glauben; sondern sein Gewissen zu be-  
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  ruhigen, den Lehrenden einfältig trauen.  
  Wohin diese Vergleichung gehen soll, ist nicht schwer zu errathen. Denn er will so viel sagen, in leiblichen Sachen wird sich kein vernünfftiger Mensch etwas weiß machen lassen, welches wider den klaren Augenschein, und also wäre es auch unvernünfftig, wenn man in Religions-Sachen Lehren fürtragen wolte, die wider alle Vernunfft, und meynt er, daß die Christliche Religion solche unvernünfftige Lehren in sich fasse, indem er bald darauf saget: es könnte den Sinnen nichts mehr zuwider seyn, als die Lehre der Papisten und Lutheraner vom Heiligen Abendmahl.  
  Allein darwider läst sich noch verschiedenes einwenden. Es ist wahr, daß wir uns eine Sache nicht anders fürstellen können, als wir sie äusserlich empfinden, und insonderheit sehen, indem die äusserlichen Sinnen, wenn sich alles in einem ordentlichen Zustand befindet, uns nicht betrügen, und wird daher kein vernünfftiger Mensch, wenn er siehet, daß diese Wand weiß sey, beybringen lassen, sie sey schwartz. Gleichwohl aber hat auch ein historischer Glaube statt, daß wir die Erzehlungen ehrlicher Leute für wahr halten, bis das Gegentheil erwiesen, wenn wir eine Sache gleich nicht mit unsern Augen sehen können, z.E. niemand wird zweiffeln, daß Rom in der Welt sey, wenn gleich die wenigsten solchen Ort gesehen. Eben so verhält sichs auch mit dem Sehen und Erkennen unsers Verstandes. Denn haben wir ein Göttlich Zeugniß von einer Sache, sagt GOtt, Christus sey GOtt und Mensch, wir geniessen im Heiligen Abendmahl wahrhafftig Christi Leib und Blut, so müssen wir sie für wahr halten, wir mögen sie mit unsern Augen des Verstandes begreiffen können oder nicht.  
  Gäbe Collinus zu, daß die Heilige Schrift GOttes Wort sey, daß man den wahren Verstand derselben erforschen könnte, daß GOtt keine Wahrheiten wider, wohl aber über die Vernunfft, als ein unendliches und allmächtiges Wesen offenbare, so würde er nicht so in Tag hineingeschrieben, und die Freyheit zu gedencken, auch auf Geheimnisse extendiret haben. Doch dieses ist ihm niemahls in Sinn kommen. Denn scheint er gleich an einigen Orten das göttliche Ansehen H. Schrifft zuzulassen, so verwirfft er sie doch wieder an andern Stellen, und weiß dagegen weiter nichts einzuwenden, als daß die Theologen unter einander uneins, so dem Ansehen an sich selbst der H. Schrifft nichts benehmen kan.  
  Indem er keine Geheimnisse statuiret, so kan er auch nichts von dem Unterscheid wider und über die Vernunfft seyn, wissen, und fällt daher auf solche Extremitäten, daß er die wichtigsten Glaubens-Artickel für ungereimte Lehren ausgiebt. Das Gleichniß, welches er von dem leiblichen Auge brauchet, kan wieder ihn selbst gerichtet werden. Denn wie ausser Streit demselbigen gewisse Grentzen zu sehen fürgeschrieben sind, und zwar so wohl physice, daß der Mensch nicht mehr und nicht weiter, als das natürliche Vermögen zulässet, sehen kan; als auch moraliter, daß er sie zum guten anwende, und brauche; so hat auch unser innerliches Auge, der Verstand, seine gehörige Grentze.  
  Unter die Vortheile der Freyheit zu gedencken, setzet Col-  
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  linus insonderheit, daß die Macht des Teuffels dadurch könne unvergleichlich besser zerstöret werden, als durch alle Exorcismos, grosse Anzahl der Predigten, und andere dergleichen Mitteln. Durch den rechten und wahren Gebrauch dieser Freyheit kan in so weit dem Teuffel Abbruch geschehen, daß der Aberglaube seinen Abschied nehmen muß, woferne man aber selbige durch eine Freygeisterey mißbrauchet, sie allzuweit extendiret, Himmel und Hölle unter die Vorurtheile der Pfaffen oben an setzet, und wie Balthasar Bekker, die Würckung des Satans auf Erden gäntzlich leugnet, so wird wahrhafftig sein Reich nicht zerstöret, sondern vielmehr vermehret.  
  Es versichert Bayle in der continuation des penseès diverse sur les comètes ..., daß Bekker etlichemahl in Gesellschafft diese Worte von sich hören lassen: "Ich habe den gantzen Winter über mir angelegen seyn lassen, wider die Gewalt, die man den Teuffel zueignet, zu schreiben; hätte er die geringste Krafft, so würde er mich wohl darüber verstöhret haben, allein weil ers nicht gethan, so habe daraus den Schluß gemacht, daß seine Gewalt eine blosse Chimäre." Jedoch weil dem Teuffel an der Sicherheit der Menschen viel gelegen, so kan man mit bessern Grund also schliessen, weil der Teufel Bekkern gantz ruhig und ungestöret sein Buch wieder sich hat schreiben lassen, so hat er ihn dadurch wollen sicher machen, und ihn ehe in seine Stricke zu kriegen gesuchet.  
  In der andern Abtheilung will er darthun, daß man nicht allein wohl befugt frey zu raisoniren, sondern, daß man auch darzu verbunden sey, und zwar bey solchen Materien, die von der Natur und Eigenschafften Gottes, von der Wahrheit und Autorität der Schrifft, wie auch deren rechtmäßigen Erklärung handelen. Sobald einem die Freyheit zu gedencken genommen werde, sobald werde auch die Obligation aufgehoben, einem gewissen Systemati zu folgen, ja sobald werde dem unanständigen Aberglauben Thür und Thor aufgemacht.  
  Es hatten aber insonderheit diejenigen eine grosse Obligation der Freyheit im Urtheilen sich zu bedienen, welche eine göttliche Offenbahrung annehmen. Denn indem sich viele einer göttlichen Offenbahrung rühmten, so müste man ja mit gebührender Freyheit untersuchen, welche wahrhafftig, und welche auf eine Betrügerey hinaus lauffe, woraus auch sattsam erhelle, daß diejenigen Mißiones, so die Engelländer vornehmen, die Heyden zu bekehren, nothwendig eine Freyheit zu urtheilen von geistlichen Sachen, zum Grunde setzten, indem sonst die Heyden nicht erfahren könnten, ob ihre, oder der Mißionarien ihre Religion die beste sey, und wer den gantzen Endzweck des Evangelii ansähe, und die Art und Weise betrachte, deren sich Christus und die Apostel in ihren Lehren bedienten, werde sattsam erkennen, wie sehr er verbunden, die Freyheit im Urtheilen zu brauchen, ja endlich könne auch die Aufführung der Geistlichen, und ihre unterschiedene Meynung von Biblischen Sachen als eine sattsame Probe dieser Obligation angesehen werden, wobey er Gelegenheit nimmt, vieles von den Streitigkeiten unter den Theologen anzuführen.  
  Es wären welche unter ihnen, die gestünden, daß in der Christlichen  
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  Kirche solche Lehren vorgetragen würden, die einander selbst entgegen, und mit der gesunden Vernunfft stritten, anbey nicht in Abrede wären, daß in der Kirche viele Mißbräuche, Mängel und falsche Lehren anzutreffen, ingleichen welche die Freydenckenden gleich in die Rolle der Atheisten setzten, den Canonem der Heil. Schrifft selbst verdächtig machten, u.s.w.  
  Wer Collini Absicht nicht wüste, noch die erste Abtheilung gelesen, er solte fast auf die Gedancken kommen, daß er hier einen vernünfftigen Vortrag der Sache gethan. Allein erweget man seinen Concept von der Freyheit zu gedencken, und wie er die Geheimnisse verwirfft, so wird man bald sehen, wo er mit diesen Discours hinaus will. Es soll der Mensch über alles, auch Religions-Dinge, raisonniren, und nicht annehmen, was er nicht begreiffen kan, und indem er die Geheimnisse für solche Wahrheiten hält, die der Vernunfft entgegen, selbige als ungereimte und unvernünfftige Sachen verwerffen.  
  An sich selbst hat das seine Richtigkeit, daß man bey den Offenbahrungen prüfen müsse, welche unter ihnen göttliche, indem wir selbst in Heiliger Schrifft vermahnet werden, die Propheten, die Geister zu prüfen; es muß aber dieses in gehörigen Schrancken geschehen, und nothwendig voraus gesetzet werden, daß darinnen göttliche und die Vernunfft übersteigende Wahrheiten enthalten.  
  Was er von den Theologischen Streitigkeiten anführet, zeiget wohl seinen bittern Haß gegen dieselbigen sonderlich in Engelland; beweiset aber in der That nichts. Denn die Theologische Streitigkeiten, Irrungen und Spaltungen können an und vor sich die Wahrheiten der Christlichen Religion nicht umstossen, und rechtschaffene Theologen nehmen daran keinen Theil, dergleichen Unruhe gewiß noch weit ehe zu besorgen wäre, wenn man allen Leuten eine solche Freyheit, wie sich Collinus in Kopff gesetzet, verstatten wolte. Bey solchen Streitigkeiten muß man prüfen; sind es aber Glaubens-Artickel, so darff sich das Prüfen, Meditiren und Dencken nicht weiter als auf einen deutlichen und wahren Verstand der Heiligen Schrifft erstrecken.  
  In der dritten Abtheilung, worin er die Einwürffe wider die Freyheit zu gedencken beantworten will, giebt er nicht undeutlicher seine Absicht zu verstehen, wenn er unter andern fürgiebt, es stünde noch dahin, ob man speculativische Atheisten habe, wenigstens sey der Atheismus nicht so schädlich, als der Aberglaube, und daß er unter die Freydenckende auch den Salomo und die Propheten setzet, und zwar jenen deswegen, weil er seiner Meynung nach dem Prediger-Buch Cap. I, 4 u.ff. fast auf eben die Art, wie Manilius von der Ewigkeit der Welt raisoniret, Cap. III, 18 u. ff. die Unsterblichkeit der Seelen, Cap. VII, 14, Cap. IX, 5 u.ff. ihren künfftigen Zustand geleugnet habe, dergleichen Dinge aber dem Salomo niemahls in Sinn kommen, und haben die Ausleger schon längstens den rechten Verstand der angeführten Stellen gewiesen.  
  Die Propheten hält er deswegen für esprits forts, weil sie wieder die damahls bey den Juden eingeführte Religion geprediget und geschrieben hätten, und zwar auf eine solche Art, daß es schiene, wie sie selbige für blosse Betrügereyen geachtet, auch der  
  {Sp. 2015|S. 1021}  
  Priester und falschen Propheten Laster frey entdecket, welches abermahl in Tag hinein geschrieben ist. Denn die Propheten haben nicht die wahre Jüdische Religion, wie sie GOtt durch Mosen anordnen lassen, verworffen, sondern der Juden ihre Aufführung, dabey sie alles auf das äusserliche ankommen liessen, predigten auch wider das üble Verhalten der Priester und der falschen Propheten, woraus aber noch nicht folget, daß man aus Haß alle und jede Lehrer und Prediger durchzuziehen habe, wie etwa Collinus intendiret. Es ist eine grosse Verwegenheit und Gottlosigkeit, daß er dem Salomoni und denen Propheten solche Heyden an die Seite setzet, welche durch das freye Dencken sich zwar von dem Aberglauben loßgemachet, hingegen aber auf das andere Extremum, oder auf die Atheisterey verfallen sind, und solche Leute will eben Collinus haben.  
     

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Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries