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Zedler: Wahrheit [3] HIS-Data
5028-52-896-4-03
Titel: Wahrheit [3]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 52 Sp. 907
Jahr: 1747
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 52 S. 467
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Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel

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Übersicht
III. Die Logicalische Wahrheit (Forts.)
  Practische Betrachtung

  Text Quellenangaben
  Die Practische Betrachtung zeiget, wie wir uns gegen die Logische Wahrheit zu verhalten haben. Wir setzen zum Voraus, daß die Wahrheit an sich selbst ein Gut; Unwissenheit aber und Irrthum ein Übel sind. Es meynt zwar Thomasius in caut. circa praecogn. Jurisprud. … daß Wahrheit an sich selbst weder gut noch böse wäre; indem er also schreibet:  
  Ich sage im Gegentheil: Die Wahrheiten sind an sich selber weder gut, noch böse, daraus fliesset nothwendig, daß weder die Unwissenheit, noch der Irrthum an sich selber gut, oder böse sind. Und gleichwohl ist nicht zu leugnen, daß es viel schädliche und unnützliche Wahrheiten, und viel nützliche Unwissenheiten und Irrthümer gebe, dannenhero muß man sich um die Ursache solcher Benennung bekümmern, und sehen, warum eine Wahrheit, Unwissenheit und Irrthum nützlich oder unnützlich gut oder böse genennet worden. Und dieses giebet uns unsere Vernunfft, und die Exempel leicht zu erkennen; nehmlich die Wahrheit und Irrthümer werden in Ansehung dessen, nachdem sie einer gebrauchet, gut oder böse genennet. Dieser Gebrauch aber rühret  
  {Sp. 908}  
  von dem menschlichen Willen her.  
  Es hat aber Müller in denen Anmerckungen über Gracians Oracul Max. … wohl erinnert, daß wenn Wahrheiten was Böses; Unwissenheit und Irrthümer was Gutes würden, solches nur zufälliger Weise geschehe; an sich selbst aber, und nach der Absicht GOttes bliebe die Wahrheit ein Gut, und die Unwissenheit nebst dem Irrthum ein Übel. Er schreibet also:  
  So ist noch zu erwegen, das zwar also eine Wahrheit allerdings böse, eine Unwissenheit und ein Irrthum aber gut werden könne, in so ferne sie accidentaliter nehmlich in Ansehung eines gewissen specialen Gebrauchs betrachtet werden; nicht aber, wenn sie in abstracto, in Ansehung des natürlichen Zwecks, welchen GOtt intendiret, da er den Menschen zur Erkenntniß der Wahrheit fähig erschaffen, betrachtet werden.  
  Denn wenn wir erwegen, daß GOtt den Menschen zur Erkenntniß der Wahrheit eigentlich deswegen fähig erschaffen, daß er vermittelst derselben seine wahre Glückseligkeit willkührlich zu befördern möge fähig seyn, als welche Fähigkeit er ohne die Erkänntniß der Wahrheit nicht haben würde: so ist in Ansehung dieser Intention GOttes allerdings zu sagen, daß die Wahrheit an sich selbst ein Gut, Unwissenheit und Irrthum aber ein Übel sey; jene aber zu einem Übel, und diese zu einem Gute, nur zufälliger Weise, nehmlich in Ansehung eines specialen Gebrauchs der Menschen, werden könne.  
  Ist nun die Wahrheit ein Gut und zwar eines der wahren Güter, wodurch die wahre Glückseligkeit der Menschen befördert wird, so hat man sich um dieselbige allerdings zu bekümmern. Alle unsere Bemühungen, die dabey angestellet werden, kommen auf drey Stücke an:  
 
  • daß man solche erkenne:
  • selbige andern mittheile,
  • und sein würckliches Verfahren darnach einrichte:
 
 
1) Muß man die Wahrheit erkennen, wwelches auf zweyerley Art geschicht, indem man selbige entweder selbst erfindet, oder was andere bereits gesagt, prüfet und beurtheilet, davon die Art und Weise, wie solches geschehen kan, in der Logick gezeiget wird.
 
 
Es sind zwar alle Wahrheiten an sich was gutes; indem sie aber unmöglich alle von einem Menschen können erkannt werden, auch immer eine nützlicher und nöthiger ist, als die andere, so bekümmert man sich vor allen Dingen um die nöthigen, von denen die Beförderung unserer Glückseligkeit und Vollkommenheit grossen theils dependiret. Bey solcher Erkenntniß braucht ein Mensch seine Freyheit zu gedencken, soweit als sich selbige erstrecket, und vermeidet dahero zwey Abwege.
 
 
Der eine ist die sclavische Unterdrückung der Vernunfft, wenn man selber nicht nachdenckt, und sich in allen als ein Sclav nach anderer Leute Urtheil richtet; der andere hingegen ist die Frechheit zu gedencken, indem man solche Dinge auszugrübeln sich unterstehet, die doch mit unserer Vernunfft nicht könne erreichet werden, welches die Geheimnisse sind, die so wohl im Reiche der Natur als der Gnaden vorkommen,
wovon Walch mit mehrern in den Gedancken vom Philosophischen Naturell gehandelt hat:
  {Sp. 909|S. 468}  
 
2) Man muß die erkannten Wahrheiten andern mittheilen.
 
 
Denn wie wir überhaupt, dem Nächsten zu dienen, und seine Glückseligkeit zu befördern, verbunden sind; die Erkänntniß der Wahrheiten aber, wenn wir die Sache nur nach dem natürlichen Rechte ansehen, den Grund zu einem glückseligen und beqvemen Leben leget, so ist man auch mit seinen erkannten Wahrheiten den Unwissenden oder Irrenden an die Hand zu gehen verpflichtet.
 
 
Es kan dieses auf zweyerley Art geschehen, indem man einen entweder unterrichtet, oder man disputiret wider jemandem, man mag nun solches mündlich, oder schrifftlich thun.
 
 
Bey jenem erkläret man seine erkannte Wahrheiten, und beweist sie mit ihren Gründen, welches nach den Regeln der Klugheit muß eingerichtet werden, damit man den von der Wahrheit dependirenden wahrhafftigen Nutzen erhalten möge, und weil dieses nicht durch ihre blosse innerliche Krafft allezeit geschehen kan, und vieles dabey auf die Beschaffenheit der Leute, mit denen man zu thun hat, ankommt, so richtet man sich auch nach ihnen, und macht nicht gleich alle Wahrheiten ohne Unterschied gemein. Denn man muß wohl wissen, daß einige Wahrheiten nöthig; etliche aber nicht so nöthig sind, und wenn sie gleich alle an sich selbst was gutes, so können doch manche zufälliger Weise schädlich werden.
 
 
Die nöthigen, von denen die menschliche Wohlfahrt dependiret, trägt man Gewissens halber ohne scheu vor den Menschen für, und wenn sie Dinge betreffen solten, die eben nicht nach dem Geschmacke der Zeit wären, so beobachtet man dabey die gehörige Klugheit. Es sagt Gracian im Oracul Max. 20. sehr wohl:
 
 
  Leute von recht selten und ungemeinen Gaben müssen ihre Fata von den Zeiten, darinnen sie leben, erwarten. Nicht alle haben an ihrem Jahrhunderte eine Zeit gefunden, die sie wohl erlebt zu haben, verdienet hätten, und viele, die zwar dergleichen gefunden haben, haben doch nicht so glücklich seyn können, daß sie selbige sich recht hätten zu Nutze machen sollen. Viele wären eines bessern Jahrhunderts wohl würdig gewesen, immassen nicht alle Zeiten so beschaffen, daß das, was gut ist, darinnen solte durchdringen und empor kommen können.
 
 
Alle Dinge in der Welt haben ihre Zeit-Wechsel; sogar die grösten Unvollkommenheiten gelten nur so lange sie Mode sind. Jedoch ein Weiser hat bey dem allen das Glück, daß er sich verewiget. Ist demnach gleichviel gegenwärtiges Jahrhundert nicht seyn rechtes Jahrhundert, so können es doch viele folgende seyn. Indem die Wahrheit zufälliger Weise, nehmlich durch den Mißbrauch der Menschen schädlich; Unwissenheit und Irrthum aber nützlich werden können, so thut man nicht wohl, wenn man alle Wahrheiten allen und jeden entdecken, und alle Irrthümer benehmen wolte. Denn wegen der Bosheit ihres Willens würde ihnen die Erkenntniß der Wahrheit zufälliger Weise zur Ausführung gottloser und eitler Absichten dienen; gleichwie hingegen auch zufällig durch die Unwissenheit und Irrthümer die Gelegenheit beschnitten wird, manchen Schaden nach ihren verderbten Willen anzurichten.
 
 
Es gehet solches in Theoretischen Materien so wohl, als Practischen an. Denn in jenen herrschet manche Unwissenheit
 
  {Sp. 910}  
 
und mancher Irrthum bey vielen Leuten, als in Ansehung des Donners, der Cometen, der Sonnen-Finsternissen, der Erdbeben, u.s.w. die zufällig offt zu vielem Guten dienen, da hingegen an der Erkenntniß solcher Wahrheiten, zumahl bey gemeinen Leuten eben nicht viel gelegen, ja es stünde dahin, ob sie nicht mehr Schaden als Nutzen stifften würde.
 
 
In Practischen Dingen finden sich auch Wahrheiten, die accidentaliter mehr schaden als nutzen können, dergleichen wir in der natürlichen Rechts-Gelehrsamkeit antreffen, bey deren Gemeinmachung nicht weniger Behutsamkeit nöthig. Denn ein treuer Lehrer hat bey seiner Unterweisung nicht bloß auf die Gelehrsamkeit, die im Kopf sitzet, sondern auch offt das Leben und Wandel der Lernenden zu sehen, und eben aus dieser Absicht handelt er nicht wider sein Gewissen, wenn er ein und die andere Wahrheit verbirget, und einige Unwissenheit nebst etlichen Irrthümern mit unterlaufen lässet. Er thut dieses in Ansehung der Beschaffenheit der Leute und der Sache selbst nach den Regeln der Klugheit, und mithin sagt man nicht überhaupt, daß man der Unwissenheit und den Irrthümern nicht zu steuren habe,
wie Walch solches in den angeführten Gedancken vom Philosophischen Naturel … bereits angeführet.
 
Es ist nicht genug, daß man seine erkannte Wahrheiten andern vortrage; sondern man muß sie auch wider die Einwürffe der Gegengesinnten zu vertheidigen wissen, woraus das Disputiren entstehet;
 
 
3) Man muß sein würckliches Thun und Lassen nach den erkannten Wahrheiten anstellen.
 
 
solche würckliche Einrichtung seiner Handlungen setzet eine lebendigen Erkenntniß der Wahrheiten voraus, daß dadurch das Gemüthe regieret, und in ihm ein Vergnügen an der Wahrheit erwecket werde. Denn die blosse Theorie auch der allerbesten Wahrheiten nutzt an sich keinen Menschen etwas, worinnen Aristoteles einen grossen Fehler beging, als er ein zweyfaches höchstes Gut satzte, und das Theoretische dem Practischen vorzog.
 
  Indem wir also von der Logischen Wahrheit eine Theoretische und Practische Betrachtung angestellt, so haben wir voraus gesetzet, daß würcklich eine Wahrheit zu finden, welches, indem es auf der unmittelbaren Empfindung beruhet, keines Beweises bedarff. Wie unvernünfftig sich solche Sceptici, die alles ungewiß und zweifelhafft machen wollen, aufführen, haben wir oben in dem Artickel: Scepticismus, im XXXIV Bande, p. 585. u.ff. gewiesen.  
  Das göttliche Wesen besitzet die Logicalische Wahrheit auf das allervollkommenste, indem es in Ansehung seines Verstandes, alle Dinge auf das eigentlichste und vollkommenste ohne Fehl und Irrthum, erkennet, in Absicht auf den Willen aber, allezeit das Beste erwehlet.  
     

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Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries