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Zedler: Wesen [2] HIS-Data
5028-55-742-2-02
Titel: Wesen [2]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 55 Sp. 749
Jahr: 1748
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 55 S. 390
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Hinweise:
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Übersicht
Eintheilung des Wesens in ein gemeines und besonderes.
Eigenschafften des Wesens.
Ursprung des Wesens.
Willkührliches Wesen.
Das Wesen und die Natur der Dinge sind GOttes Mittel.

  Text   Quellenangaben und Anmerkungen
  Eintheilung des Wesens in ein gemeines und besonderes.  
  Gleichwie Geschlechte der Dinge sind, und zwar so wohl allgemeine als auch besondere; also giebt es auch in denen Dingen ein gemeines und auch besonderes Wesen. Ein gemeines ist, nach welchem ein Ding übereinkommt mit allen andern Dingen in seinem Geschlecht; da denn soviel allgemeiner das Wesen ist, je gemeiner hier betrachtet werden die Arten der Dinge. Hingegen ist ein besonderes Wesen, nach welchem ein Ding unterschieden ist von allen andern in seiner Classe; je besonderer nun eine Classe genommen wird, desto besonderer muß auch das Wesen angesehen und betrachtet werden.  
     
  Eigenschafften des Wesens.  
  Aus der Erklärung vom Wesen erhellet, daß es in einem Dinge seyn müsse das allererste. Nemlich die Natur eines Dinges enthält verschiedenes, alles aber gründet sich zuletzt in einem, so man das Wesen nennet. Da nun ohnfehlbar der Grund eines Dinges eher muß begriffen werden, als was darinn sich gründet, so muß auch das Wesen eines Dinges allen andern Stücken vorgesetzet, und als das erste betrachtet werden. Und das macht, daß eines jedweden Dinges seyn Wesen nur ein eintziges seyn kan: Denn wolte man mehrere davor in selbigen annehmen; so müste dennoch eines in dem andern sich gründen, oder sie müsten ausser einander seyn, und gehörten nicht zu eben demselbigen Dinge. Sind sie aber eins in dem andern gegründet; so bleibt dennoch eines nur übrig, so den Grund des andern enthält, und vor das erste kan gehalten werden.  
  Endlich, weil alles in dem Wesen eines Dinge gründet, dasjenige aber, was gegründet ist, nach Beschaffenheit seines Grundes muß eingerichtet seyn, so folgt, daß an einem gantzen Dinge alles nach Beschaffenheit des Wesens eingerichtet seyn müsse. Man muß aber dieses verstehen, soferne etwas entweder nothwendig oder nur zufällig in demselbigen sich gründet. Zimmermanns Natürl. Erkenntniß GOttes der Welt u. des Menschen, p. 97. u.ff.
  Der Herr  
  {Sp. 750}  
  Baron von Wolff im I Theile seiner vernünfftigen Gedancken von GOtt, p. 19. u.ff. leget dem Wesen folgende Eigenschafften bey, wenn er also setzet:  
  Was den Grund von dem übrigen in sich enthält, ist das erste, was sich von einem Dinge gedencken lässet. Dasjenige, was in ihm gegründet ist, kan nicht eher gesetzet werden, denn von dem muß der Anfang gemachet werden, daraus ich erkennen kan, warum das andere ist. Also ist das Wesen das erste, was sich von einem Dinge gedencken lässet.  
  Es lässet sich aber von einem Dinge nichts eher gedencken, als wie es möglich ist; Denn eben deswegen ist es ein Ding, weil es seyn kan, und deswegen kan es seyn, weil es möglich ist. Daher ist das Wesen eines Dinges seine Möglichkeit, und derjenige verstehet das Wesen, welcher weiß, auf was Art und Weise ein Ding möglich ist.  
  Man weiß aber, wie etwas möglich ist, wenn man verstehet, wie es in seiner Art determiniret wird. Wenn dasjenige was einem Dinge entgegen gesetzet wird, etwas widersprechendes in sich enthält, so ist dasselbe nothwendig. Da nun dasjenige, so etwas widersprechendes in sich enthält, unmöglich ist, so ist dasjenige unmöglich, was etwas notwendigem entgegen gesetzet wird; und wenn das, welches einem Dinge entgegen gesetzet wird, unmöglich ist, so ist dasselbe Ding nothwendig.  
  Auch ist klar, daß das nothwendige sich nur auf einerley Art determiniren lässet, und also auch nur auf einerley Art seyn kan. Was möglich ist, kan nicht zugleich unmöglich seyn, und, wenn etwas auf solche Art und Weise möglich ist, so kan es nicht zugleich auf eine solche Art und Weise unmöglich seyn, und ist demnach nothwendig möglich. Da nun die Möglichkeit an sich etwas nothwendiges ist, das Wesen aber eines Dinges darinnen bestehet, daß es auf eine gewisse Art und Weise möglich ist, so ist das Wesen nothwendig.  
  Was nothwendig ist, ist auch ewig, das ist, kan weder Anfang noch Ende haben. Denn wenn etwas nothwendig ist, so ist unmöglich, daß es nicht seyn kan. Hätte es aber einen Anfang oder ein Ende, so könnte es auch nicht seyn. Da nun das Wesen der Dinge nothwendig ist, so ist dasselbe auch ewig, das ist, man kan keine Zeit setzen, da ein Ding hat angefangen möglich zu seyn, und da es aufhören wird möglich zu seyn.  
  Wiederum was nothwendig ist, das ist unveränderlich. Denn wenn es könnte geändert werden, so könnte es auch nicht seyn; welches der Nothwendigkeit zuwiderläufft. Derowegen da das Wesen eines Dinges nothwendig ist, so ist es auch unveränderlich. Wenn ich mir aber eine mögliche Veränderung in dem Wesen eines Dinges gedencken kan; so ist dadurch das Wesen des Dinges nicht verändert worden, sondern ich bin nur durch dessen Erkänntniß zur Erkänntniß des Wesens eines andern Dinges kommen.  
  Z.E. das Wesen eines Dreyeckes bestehet darinnen, daß der Raum in drey Seiten eingeschlossen wird. Es ist möglich, daß man an statt drey Seiten vier Seiten nehmen kan, und ei-  
  {Sp. 751|S. 391}  
  nen Raum einschliessen; allein dadurch wird das Wesen des Dreyeckes nicht geändert. Denn wenn vier Seiten einen Raum einschliessen, so hat man ein Vierecke, und also ein anders Ding.  
  Dadurch, daß das Wesen eines Dinges unveränderlich ist, und nicht mehr dasselbe Ding bleibet, wenn etwas in seinem Wesen geändert wird, lässet sich begreiffen, daß das Wesen eines Dinges den andern nicht mitgetheilet werden kan, das ist, es ist nicht möglich, daß ein Ding ausser seinen Wesen noch das Wesen eines andern Dinges bekömmet, und doch daß einige Ding bleibet. Z.E. Es wäre ungereimt, wenn man sich einbilden wolte, es könnte ein Vierecke zugleich ein Dreyecke seyn; oder auch ein Cörper könnte zugleich ein Geist seyn.  
  Ja weil alles, was einer Sache beständig zukommet, und von ihrem Wesen unterschieden ist, seinen zureichenden Grund in ihrem Wesen haben muß: so kan auch einem Dinge nichts beygeleget werden, was nicht in seinem, sondern in dem Wesen eines andern Dinges gegründet ist. Z.E. Man kan einem Vierecke keinesweges die Eigenschafften eines Dreyeckes beyliegen, noch einem Cörper die Eigenschafft eines Geistes, oder einer Pflantze die Eigenschafften eines Thieres, als ein Gedächtniß.„¶  
     
  Ursprung des Wesens.  
  Von dem Ursprunge des Wesens handelt Herr Wolff an obangezogenem Orte, p. 601. u.ff. also, wenn er spricht:  
  Weil GOtt sich alle Welten durch seinen Verstand vorstellet, und dadurch alles was möglich ist, so ist der Verstand GOttes die Quelle des Wesens aller Dinge, und seyn Verstand ist es, der etwas möglich machet, als der diese Vorstellungen hervor bringet. Nemlich deswegen ist eben etwas möglich, weil es von den göttlichen Verstande vorgestellet wird. Und da oben erwiesen, daß das Wesen der Dinge ewig ist; so siehet man nun, wo das Wesen aller Dinge von Ewigkeit her gewesen, nemlich im Verstande GOttes. Unter solcher Gestalt kan man sagen, daß das Wesen aller Dinge allezeit würcklich vorhanden ist, und von Ewigkeit her zugegen gewesen, ob zwar die Dinge selbst nicht beständig zugegen sind, oder auch von Ewigkeit da gewesen, indem zu ihrem Wesen noch die Würcklichkeit kommen muß, wenn sie da seyn sollen.„¶  
     
  Willkührliches Wesen.  
  Von dem willkührlichen Wesen schreibet er p. 613. also:  
  Da der Wille GOttes bloß mit der Würcklichkeit der Dinge, nichts aber mit ihrem Wesen oder ihrer Möglichkeit zu thun hat, so irren sich diejenigen, welche ihnen einbilden daß GOtt das Wesen der Dinge nach seinem Gefallen eingerichtet, auch nach seinem Belieben darinnen ändern könne, was er wolle. Dieser Irrthum ist daher entsprungen, daß man nicht genung eingesehen, was es für eine Beschaffenheit mit dem Erfinden hat. Wenn wir etwas erfinden wollen, setzen wir der Sa-  
  {Sp. 752}  
  che erstlich ein gewisses Ziel vor, das sie erreichen sollen: danach untersuchen wir, wie sie müsse beschaffen seyn, damit sie es erreichet.  
  Z.E. Wenn einer sich vornimmt eine Planeten-Uhr zu erfinden, dergleichen Hugenius in Automato planetario in Operibus posthumis gethan, so setzet er voraus, die Maschine solle den Lauff der Planeten zeigen, wie er am Himmel observiret wird. Hernach bekümmert er sich, was er für Räder dazu nöthig hat, und wie sie müssen zusammen gesetzet werden, damit der Lauf der Planeten richtig gezeiget werde. Wenn er nun eine Zusammensetzung erdacht, und sie gefället ihm nicht in allem, so ändert er dieses und jenes, bis das Werck endlich so heraus kommet, als er es haben wollen.  
  Auf solche Weise stellen sich die Menschen auch GOtt vor, wie er das Wesen der Dinge herausbringet. Der Fehler hierbey ist, daß wir nicht bedencken, wie wir durch unser Erfinden und Ausbessern die Sache nicht möglich machen, sondern nur, dabey uns ein Gedancke aus dem andern kommen muß, uns determiniren zu erkennen, was schon von Ewigkeit her möglich gewesen, ehe wir daran gedacht haben.  
  Die Planeten-Uhr, welche Hugenius erdacht, ist nicht erst möglich worden, da er derselben nachgedacht; sondern schon von Ewigkeit her mit in dem göttlichen Verstande gewesen, der sie wie alle übrige Wahrheiten hervorgebracht. Und wenn wir an der Zusammensetzung derselben, oder einer andern Sache etwas ändern; so ändern wir nicht das Wesen des Dinges, obgleich dasselbe in der Art der Zusammensetzung bestehet, sondern weil wir nach und nach dencken müssen, so kommen wir von dem Wesen einer Planeten-Uhr, oder überhaupt eines Dinges auf das Wesen eines andern Dinges, das von ihm bloß darinnen unterschieden ist, was geändert wird.  
  Wüste ein Mechanicus, der eine Planeten-Uhr machen will, alle Planeten-Uhren, die möglich sind, und könnte alle insgesammt sich auf einmahl vorstellen; so dürffte er nur daraus diejenige erwählen, die zu seiner Absicht sich am meisten schickte. Und so muß man sich die Sache auch bey GOtt vorstellen, wenn man nicht von ihm auf eine seiner Vollkommenheit unanständige Weise dencken will.„¶  
     
  Das Wesen und die Natur der Dinge sind GOttes Mittel.  
  Endlich zeiget der Herr Baron von Wolff l.c. p. 636. Daß das Wesen und Natur der Dinge GOttes Mittel sind, wenn er spricht:  
  GOtt führet demnach durch das Wesen der Dinge in der Welt und ihre Natur seine Absichten aus: indem er diese und nicht andere Dinge hervor gebracht, damit diese und nicht andere Begebenheiten erfolgen. Derowegen da hierinnen der Grund enthalten ist, warum GOtt seine Absichten erreichet, so sind das Wesen und die Natur der Dinge das Mittel, welches GOtt brauchet seine Absichten in der Welt zu erreichen.„¶  
  {Sp. 753|S. 392}  
  In dem II Theile der vernünfftigen Gedancken von GOtt, erläutert Herr Wolff die Lehre von dem Wesen der Dinge, folgendermassen, und zwar p. 37 u.ff. wenn er spricht:  
  Ich behaupte, daß vermöge des Satzes des zureichenden Grundes in einem Dinge, darinnen man mancherley unterscheiden kan, etwas müsse gefunden werden, darinnen alle das übrige seinen Grund hat, das aber nicht hinwiederum seinen Grund im übrigen hat, sondern als nothwendig so, und nicht anders, angesehen werden muß, und dahero keinen weitern Grund, warum es ist, erfordert.  
  Ein einiges Exempel kan die Sache klar machen, und zur Gnüge zeigen, daß man keinen mehrern Beweiß fordern darf, als da gegeben worden. Wenn ich einen Triangel beschreibe, so kan solches geschehen aus zwey Seiten unter einem Winckel; denn die dritte Seite und die übrigen beyde Winckel geben sich, wie man zu reden pfleget, von sich selbsten. Hier habe ich in dem Triangel Seiten und Winckel, aber von zweyerley Art. Zwey Seiten und ein Winckel determiniren den Triangel, zwey Winckel und eine Seite werden durch die übrigen Theile determiniret. Also hat man hier in einem Dinge, nemlich in einem Triangel, mancherley, nemlich zweyerley Arten der Seiten und der Winckel, einige, dadurch der Triangel determiniret wird: Andere hingegen, die sich durch die vorigen geben. Weil nun jedes seinen zureichenden Grund haben muß, warum es vielmehr so als anders ist; so muß auch die Grösse der Seiten und der beyden Winckel ihren zureichenden Grund in den beyden übrigen Seiten und dem dritten Winckel haben, woraus der Triangel construiret worden.  
  Hingegen die Grösse der beyden Seiten und des Winckels, daraus der Triangel construiret wird, braucht keine fernere Raison, sondern wird als etwas mögliches nothwendig so angesehen, indem vermöge des Satzes des Widerspruches es keines weges angehet, daß es zugleich unmöglich seyn solte, durch zwey Seiten und einen Winckel einen Triangel zu determiniren.  
  Nemlich dasjenige, wodurch ein jedes Ding in seiner Art determiniret wird, ist es, darinnen der Grund von dem übrigen zu finden. Und da die Sache dadurch die Möglichkeit hat, so bestehet darinnen ihr Wesen, und derjenige verstehet das Wesen eines Dinges, welcher erkennet, wie eine Sache in ihrer Art determiniret werde. Ja, wenn er von dem übrigen, was er in ihr findet, Raison geben will, so muß er sie in demjenigen suchen, wodurch sie in ihrer Art determiniret wird.  
  Das Principium rationis sufficientis erfordert, daß in einem jeden Dinge etwas anzutreffen sey, woraus man also von dem übrigen geben kan, warum es in ihm ist: Hingegen das Principium contradictionis will haben, daß von demselben keines dem andern zuwider ist, sondern alles zugleich in einer Sache neben einander seyn kan.  
  Diejenigen, welche vorgeben, als wenn man das Wesen eines Dinges nicht erkennen könnte, verlangen ein Bild in der Einbildungs-Krafft, dadurch sie es vorstellen können, und verlangen also zu sehen, was nicht  
  {Sp. 754}  
  vor die Augen gehöret. Denn alle allgemeine Begriffe, die man in der Metaphysick erkläret, lassen sich nicht durch die Sinnen, sondern bloß durch den Verstand begreiffen.  
  Es geschiehet aber daher, daß, wenn man sich das Wesen als ein zusammengesetztes Ding unter einem Bilde vorstellen will, alles finster wird, wie es in einem zu gehen pfleget, wo man nichts siehet. Und dennoch solte man sagen, wir können das Wesen nicht sehen, noch uns einbilden; nicht aber, daß es sich nicht mit dem Verstande begreiffen lasse, was das Wesen sey. Es gehet in mehreren Fällen so her, daß man die Farben hören, und den Schall sehen will, und aus dem Unvermögen, daß man bey sich findet, dieses zu bewerckstelligen, schleust, es sey unmöglich solches zu erkennen.  
  Damit man nun dergleichen Vorurtheile vermeide, so muß man das Vermögen der Seele zu erkennen untersuchen, und den dabey befindlichen Unterscheid mit Fleiß anmercken, wozu in dem dritten Capitel von der Seele überflüßig Anlaß gegeben wird, und dabey insonderheit erwegen, was für Dinge sich durch jedes Vermögen der Seele erkennen lassen, damit keine Verwirrung zum Nachtheile der Wissenschafften geschiehet.„¶  
     
  Von der Nothwendigkeit und Unwandelbarkeit des Wesens, erkläret er sich p. 42 u.ff. cit. loc. folgendergestalt:  
  Die Lehre von der Nothwendigkeit des Wesens der Dinge, und daß es unveränderlich, ist von unsern Gottesgelehrten nicht aus einem Vorurtheile gegen die Scholastische Philosophie, sondern mit gutem Bedachte beständig vertheidiget worden: Denn sie ist der Haupt-Grund, daraus die gröste Schwierigkeiten in der Religion gehoben werden, und dadurch viele Lehren derselben einig und allein sich vernünfftig vorstellen lassen, wie zur Gnüge an vielen Orten der Metaphysick von der Religion erwiesen, und rechtschaffenen Gottesgelehrten auch von der Christlichen Religion insonderheit nicht unbekannt ist.  
  Die Lehre von dem willkührlichen Wesen ist der Vernunfft zuwider, und kan insonderheit bey den Lehren der Evangelischen nicht bestehen, ob sie sich gleich mit Fanatischen Lehren gar wohl zusammen reimet. Verständige erkennen gleich, daß man den Zusammenhang der Theologischen Wahrheiten nicht einsiehet, wenn man willkührliche Wesen einräumet. Am allermeisten aber siehet man, daß man ohne Gedancken redet, wenn man besorget, es komme von der Nothwendigkeit des Wesens eine Fatalität in die Welt, und benehme dem Schöpffer in der Schöpffung die Freyheit.  
  Wer weiß, daß man die Möglichkeit der Sache das Wesen nennet, und daß etwas nicht zugleich möglich und unmöglich seyn könne, auch daß hier von der Möglichkeit schlechterdings die Rede ist, ohne einige Absicht auf die Würcklichkeit, die es erreichen kan der muß über die Einfalt der Leute lachen, welche die Nothwendigkeit des Wesens für so gefährlich ansehen, und so vortreffliche Consequentien daraus ziehen können; zugleich aber  
  {Sp. 755|S. 393}  
  auch sie wegen ihres Hochmuths schelten, daß sie ihre Vorfahren, so brave und gründliche Theologen, für so dumm ansehen, daß sie aus Unverstande und Vorurtheile so gefährlichen Lehren beygepflichtet hatten, und ihnen verweisen, daß sie aus Liebe zum Fanaticismo das Ansehen eines Poirets mehr bey ihnen gelten lassen, als so viele rechtschaffener Lehrer der Evangelischen Kirchen.  
  Insonderheit ist merckwürdig, daß der Beystand meiner Feinde D. Budde in seinen Institutionibus Theologiae die Meynung von dem willkührlichen Wesen für die nächste Staffel zur Gottlosigkeit ausgiebet, weil dadurch mit Aufhebung aller Zufälligkeit und Freyheit eine Unvermeidlichkeit angeführet wird, und gleichwohl ihnen zu gefallen bey mir die Nothwendigkeit des Wesens für diese Quelle der Fatalität ausgiebet. Die Fatalität der Dinge kommet nicht von ihrem Wesen, sondern von ihrer Würcklichkeit her, wenn eine vorhanden seyn soll. Wenn gleich das Wesen eines Dinges nothwendig ist, so darf es deswegen doch nicht seine Würcklichkeit erreichen. Wer hat jemahls gelehret, oder wer getrauet es sich zu erweisen, daß ein Ding, dessen Wesen nothwendig ist, auch zur Würcklichkeit kommen muß. Es folget weiter nichts, als daß ein Ding, wenn es zur Würcklichkeit kommen soll, dieselbe nicht anders erreichen kan, als es seyn Wesen mit sich bringet, das heisset, als es möglich ist.  
  Wer hat sich aber jemahls träumen lassen, daß ein Ding anders würcklich werden kan, als es möglich ist? Und was ist das für ein schlechter Begriff von der Macht GOttes, wenn man sich überredet, es sey derselben entgegen, daß er die Sachen nicht anders hervor bringen kan, als er sie in seinem Verstande möglich befindet? Wer hat jemahls gelehret, daß die Allmacht GOttes sich auf unmögliche Dinge erstrecken müsse? Niemand als der nach seinen alten Schul-Ideen aus der Grammatick raisoniret, und vermeynet unter Alles gehöre auch das Unmögliche.  
  Ja wer will ferner behaupten, GOtt behalte in der Schöpffung keine Freyheit, weil er bloß etwas mögliches wählet, nicht aber durch seinen Willen das Unmögliche möglich machen kan? Niemand kan dieses thun, als der glaubet, er sey gezwungen worden seinen Ducaten, und keinen andern zu nehmen, weil er von denen, die vorhanden waren, denjenigen ausgelesen, der ihm am besten gefallen, er aber nicht durch seinen Willen auf den Ducaten etwas bringen können, so sich darauf nicht prägen lässet, z.E. einen Vogel, der würcklich flieget, oder sonst ein Bildniß, das in gewissen Bewegungen ist; oder auch der sich überredet, er gehe nicht freywillig, weil er nicht anders gehen kan, als das Gehen möglich ist. Freylich von dieser Gattung sind die vortrefflichen Lehrer unserer Kirchen, welche die Nothwendigkeit des Wesens der Dinge behauptet, nicht gewesen.  
  Hierbey erinnert er beyläuffig: Daß, da er in der Metaph. §. 39. erwiesen, was nothwen-  
  {Sp. 756}  
  dig sey, wäre ewig, man ihm seine Worte umgekehret und angenommen, als wenn er selbst zugestünde, was ewig sey, dasselbe sey nothwendig, um ihm aufzubürten, als wenn er die Selbstständigkeit der Welt behauptete, und folgends GOtt läugnete, weil er gesaget, die Schöpffung in der Zeit sey aus der Vernunfft schwerer zu beweisen, und ist daher noch nicht öffentlich demonstriret. Der Satz lasse sich nicht umkehren, sondern es sey so gar falsch, daß das Ewige nothwendig sey. Denn der Wille GOttes sey auch ewig; aber er sey deswegen doch nicht nothwendig: denn sonst wäre er nicht frey. Nicht die Ewigkeit mache die Nothwendigkeit, sondern diese, aus einem gantz andern Grunde her.  
  Von dem Wesen eines zusammengesetzten Dinges urtheilet er p. 55 u.f. also:  
  Damit man, sind seine Worte, was von dem Wesen eines zusammengesetzten Dinges gesaget wird, nicht unrecht verstehe, und wenn man es bey den Cörpern anbringen soll, entweder übersiehet, worauf man Acht haben solte, so ist zu mercken, daß die Compositio oder Zusammensetzung nicht allein die structuras, sondern auch die texturas und mixtiones oder Vermittlungen in sich begreifft. Als man verstehet das Wesen des Blutes wenn man begreifft, wie es durch Vermischung anderer einfachen Materien bestehet.  
  Nemlich structura wird denen organicis corporibus, denen Cörpern, die aus Gliedmassen zusammengesetzet sind, als dem menschlichen Leibe; textura denen corporibus inorganicis, oder denen Cörpern, die aus einerley Art der Theile zusammengesetzt sind, als den Steinen; mixtio, denen Cörpern, die durch Vermischung verschiedener Arten der Materie entstanden, als den kleinen Theilen der Metalle zugeeignet. In besondern Fällen demnach muß man das Wesen in der besondern Art der Zusammensetzung zu, und dieselbe ausführen, wenn man von dem Wesen reden will.  
  Von dem willkührlichen Wesen erkläret er sich p. 432. also:  
  Wer zugiebet, daß das Wesen der Dinge willkührlich sey, und durch GOttes Allmacht einem jeden eine jede Eigenschafft beygeleget werden könne, dergleichen Gedancken Locke gehabt, der wird diesen Zweiffel nicht haben können, ob nicht bloß der Leib die Krafft zu dencken erhalten. Man siehet demnach, daß die Lehre von dem willkührlichen Wesen und der willkührlichen Mittheilung der Eigenschafften der Dinge den Materialisten das Wort redet: Die gewöhnliche Lehre aber von der Nothwendigkeit des Wesens und seinen unveränderlichen Eigenschafften ihnen entgegen stehet.  
  Von dem Ursprunge des Wesens, und ob es ausser GOtt zu suchen, redet er p. 589 u.ff. cit. loc. also:  
  Es ist eben so eine unnöthige Furcht, die man bey dem Willen GOttes hat, als die bey einigen von dem Ursprunge des Wesens der  
  {Sp. 757|S. 394}  
  Dinge entstehet, wenn sie §. 21. Mor. lesen, das in Hypothesi impossibili athei, non dari Deum, oder, wenn man gleich die unmögliche Hypothesin, eines Atheisten annehme, daß kein GOtt sey, dennoch wegen des innerlichen Unterscheids der freyen Handlungen ein Recht der Natur seyn würde, und deswegen auf die Gedancken gerathen, es würde das Wesen der Dinge ausser GOtt gesucht, und demnach demjenigen widersprochen, was von dessen Ursprunge im Verstande GOttes erwiesen wird.  
  Wenn man einräumete als möglich, daß kein GOtt seyn könnte, so würde man das Wesen der Dinge ausser GOtt suchen. Da aber diese Hypothesis als unmöglich angenommen wird, indem man GOtt als ein nothwendiges Ding concipiret, und nur, wie man zu reden pfleget, ad hominem mit einem Atheisten disputiret, das ist, aus den Gründen, die er einräumet; so ist darinnen nichts widersprechendes, wenn man behauptet, daß ein Atheist ein Recht der Natur zugeben müsse, ob er gleich nicht zugeben will, daß ein GOtt sey, und dessen ungeachtet erweiset, daß ohne GOtt nichts möglich ist, sondern alle Möglichkeit von seinem Verstande herrühret, ja in der That weder etwas möglich noch würcklich seyn würde, wenn GOtt nicht wäre. Wenn GOtt nicht wäre, so wären keine Menschen, und auch kein Recht der Natur.  
  Aber es ist nicht die Rede von der Wahrheit der Sache an und vor sich selbst, sondern nur davon, was man ex supposita hypothesi einräumen muß, das ist, ob man einem Atheisten zugeben muß, er sey nach seiner Hypothesi nicht verbunden, eines zu thun, und das andere zu lassen, indem man ihn noch nicht von seinem Irthume hat bringen können, als wenn kein GOtt wäre.  
  Zu dem letztern haben Grotius mit denen Scholasticis und Theologis unserer Kirchen, die intrinsecam honestam actionum, oder eine innere Moralität der freyen Handlungen behauptet, nein gesaget, damit sie nicht denen Atheisten zu ihrem gottlosen Leben das Wort redeten, sondern ihnen vielmehr zeigen könnten, wie auch ihre Atheisterey sie in ihrem gottlosen Wandel nicht rechtfertige. Es ist demnach dieses kein Mann, der den Atheisten favorisiret, welcher behauptet, es könne die natürliche Verbindlichkeit eines zu thun, das andere aber zu lassen, von ihnen dadurch noch nicht über den Hauffen geworffen werden, weil sie vorgäben, es sey kein GOtt.  
  Über dieses hat diese Lehre von der natürlichen Verbindlichkeit, antecedenter ad voluntatem Dei, ehe man erweget, daß GOtt dieses zu thun, jenes zu lassen befohlen hat, noch verschiedenen andern Nutzen, um dessen Willen sie zu Besiegung der Atheisterey beybehalten worden.  
  Es hat Herr Wolff seine Meynung, die er von dem Wesen der Dinge behauptet, in seiner ausführlichen Nachricht von seinen eigenen Schrifften, p. 220. u.f. folgendergestalt verstehen gegeben.  
  Ich pflichte denen bey, spricht er, welche das Wesen von der Würcklichkeit unterscheiden, und jenes in der inneren Möglichkeit suchen, vermöge derer in dem ersten Begriffe eines Dinges nichts widersprechendes angenommen wird. Es ist bekannt, daß diejenigen unter denen Schola-  
  {Sp. 758}  
  sticis dieser Meynung gewesen, welche man Realisten genennet, da hingegen die Nominalisten die Würcklichkeit von dem Wesen nicht abgesondert. Unter jenen finden sich die beyde grosse Lehrer unter denen Scholasticis Thomas und Scotus.  
  Weil Jacob Thomasius Dilucid. Stahl. p. 33. mehr vor die Nominalisten ist und muthmasset, es hätten Thomas und Scotus aus Liebe zu dem Aristotele dieser Meynung beygepflichtet; so nehmen viele dieses für ein Evangelium an, und wollen es entweder für ein grosses Versehen auslegen, daß ich diese Meynung behauptet, oder auch andere gar mir eine Fatalität andichten, weil Poiret hierinnen die Quelle von einer unvermeidlichen Nothwendigkeit gefunden zu haben vermeynet.  
  Gleichwie aber für dem letztern keine Gefahr ist, wie denn die meisten unserer Theologen der Realisten Meynung angenommen; so sehe ich auch noch nicht, warum eben Thomas und Scotus aus alzu grosser Liebe für den Aristotelem darauf sollen gefallen seyn. Jedoch wie ich mich um andere wenig bekümmere, warum sie dieser, oder einer andern Meynung beygepflichtet ([1]mir es auch gleich viel gilt, wer es gesaget, wenn ich es nur in meiner Untersuchung als wahr gefunden; so habe ich auch hier weder aus Liebe gegen den Aristotelem, noch aus Liebe gegen den Thomam oder Scotum das Wesen und die Würcklichkeit von einander unterschieden, sondern weil ich es in meiner Untersuchung als wahr und diese Wahrheit im Fortgange sehr fruchtbar und nützlich gefunden.
[1] HIS-Data: schließende Klammer fehlt
  Wer meine Metaphysick mit den Anmerckungen darüber so durchlieset, wie ich es begehre; der wird die Fruchtbarkeit dieses Unterscheides einsehen und erkennen, in wie viele Verwirrungen man verfället, wenn man Möglichkeit und Würcklichkeit nicht genung von einander unterscheidet, oder, welches gleichviel ist, das Wesen und die Existenz nicht von einander absondert. Und wenn ich Gelegenheit finden werde, den Nutzen meiner Philosophie durch allerhand Proben zu zeigen, so wird sich dieses noch weiter zeigen.  
  Ich habe aber bey der Lehre von dem Wesen der Dinge hauptsächlich gezeiget, daß man die ersten Determinationes dazu nehmen müsse, wodurch das andere, was einem Dinge zukommet, zugleich determiniret wird, und hernach aus dem Begriffe des Wesens selber gewiesen, wie es die Raison oder den Grund von allem dem übrigen in sich enthält, was ihm zukommet. Ich habe aber auch hieraus gewiesen, woher die Veränderungen eines Dinges kommen, und warum diese ohne eine äusserliche Ursache nicht ihre Würcklichkeit erreichen können.  
  Es stehet freylich dieses alles nicht an einem Orte bey einander; denn wo man demonstrativisch verfahren will, gehet es nicht an. Derowegen wer meine Schrifften gantz durchlieset, und alles wohl erweget und sich bekannt machet, der siehet erst recht ein, was darinnen enthalten ist. Wer aber dasjenige, was ich von dem Wesen ausgeführet, und nicht aus den Scholasticis genommen, recht einsiehet; der wird noch mehreres daraus demonstriren können, als von mir in der Metaphysick nicht  
  {Sp. 759|S. 395}  
  geschehen, aber zu einer andern Zeit geschehen soll, wenn ich diese Materien ausführlicher abhandeln werde.  
  Weil ich aber zu dem Wesen die blosse Möglichkeit rechne und die Würcklichkeit davon abgesondert; so habe ich auch die Nothwendigkeit und die Ewigkeit desselben behaupten müssen, wie es auch von den meisten Theologis geschehen, und folgends es als unveränderlich ansehen müssen. Ich habe in meinem Tractate von der Vermehrung des Getreydes, und zwar im Anhange, schon einigen Nutzen der Lehre von dem Wesen und der Würcklichkeit gezeiget, und in der Erkänntniß der Natur muß man beständig dieselbe vor Augen haben, woferne man wohl zu rechte kommen will. Ja man kan zeigen, wie viele bloß deswegen nicht accurat verfahren, weil sie dieselbe nicht vor Augen haben. Anderen Nutzen will ich jetzt mit Stillschweigen übergehen.  
  Ich habe aber bereits auch daraus einen fruchtbaren Begriff von der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit hergeleitet, dergleichen man bisher nicht gehabt, und daraus der Herr von Leibnitz seinen erkläret, der nicht so verständlich ist, auch mit der Lehre von dem Wesen sich nicht so deutlich zusammen reimet. Und siehet man schon aus dieser Probe, daß ich mich an des Herrn von Leibnitz Autorität so wenig als an anderer ihre kehre, unerachtet ich von ihm sowohl als von andern angenommen, wenn ich was gutes bey ihm gefunden, aber anfangs niemahls weiter als eine Sache, die ich zu untersuchen hätte, ob und wie sie sich aus der mir bereits beywohnenden Erkänntniß herleiten liesse.„¶  
     

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Stand: 1. Mai 2012 © Hans-Walter Pries