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Zedler: Wissenschafft, Lat. Scientia [1] HIS-Data
5028-57-1346-4-01
Titel: Wissenschafft, Lat. Scientia [1]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 57 Sp. 1346
Jahr: 1748
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 57 S. 686
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Übersicht
Gedancken der Alten von der Wissenschafft, in so fern dieses Wort vor die Erkenntniß genommen wird.
Verschiedene Bedeutungen des Worts: Wissenschafft, so fern es vor die Erkenntniß genommen wird, zu unsern Zeiten.
Unterscheid der Wissenschafft von der Erfahrung.

Stichworte Text   Quellenangaben
  Wissenschafft, Lat. Scientia, Fr. Science, It. Scienza.  
  Es ist dieses Wort in einer zweyfachen Absicht gewöhnlich, in dem es entweder auf unserer Erkenntniß, oder auf die Lehre, die wir erkennen, gehet. Wir bleiben gegenwärtig nur bey der erstern Bedeutung, und von der andern Bedeutung handelt der Artickel: Wissenschafften.  
     
  Gedancken der Alten von der Wissenschafft, in so fern dieses Wort vor die Erkenntniß genommen wird.  
  Aristoteles hat unsere Erkenntniß in 5 Classen eingetheilet, nehmlich in Ansehung des allgemeinsten Unterscheides der Gegenstände, in denen die Geschicklichkeiten des Verstandes insonderheit der Beurtheilungs-Krafft und des Witzes sich zeigen; wenn er Analyt. Poster. L. I. c. 27. am Ende, ingleichen Ethic. Nicomach. L. VI. c. 3. sie eingetheilet in technēn, epistēmen, phronēsin, sophian, noun Kunst, Wissenschafft, Klugheit, Weißheit und Verstand.  
  Nemlich der menschliche Verstand hat entweder mit theoretischen oder mit practischen Wissenschafften zu schaffen: in den theoretischen wiederum entweder mit den Grund- oder Schluß-Sätzen. Die Geschicklichkeiten oder die Fertigkeit in Ansehung der Schluß-Sätze und ihrem Beweise nennet er epistēmēn Wissenschafft: Dahero  
  {Sp. 1347|S. 687}  
  er Ethic. L. VI. c. 3. spricht: [ein Satz griechisch], scientia est habitus demonstrandi, die Wissenschafft ist eine Fertigkeit zu demonstriren, und zwar, wie er L. VI. hinzuthut, [ein Satz griechisch], de universalibus ac necessariis, von allgemeinen u. nothwendigen.  
  Die Geschicklichkeit in Ansehung der unmittelbaren Grund-Sätze der Wissenschafften die durch sich selber wahr, und ohne Beweiß anzunehmen sind, nennet er noun, intelligentiam, Verstand indem er Analyt. Poster. L. I. c. 27. spricht: [zwey Zeilen griechisch], Voco autem intelligentiam principium scientiae: Ipsa enim scientia, cum indemonstrabilis haud sit, intelligentia e contrario est perceptio propositionum immediatarum. Ich nenne aber den Anfang der Wissenschafft Verstand. Denn die Wissenschafft geht jederzeit mit Beweisen um, da hingegen der Verstand nur eine Empfindung der unmittelbaren Sätze ist.  
  Die Geschicklichkeit in Ansehung der ersten oder obersten Grund-Ursachen der Dinge, die wir nur metaphysicalisch, das ist bloß nach ihrer Existentz zu erkennen fähig sind, nennet er sophian, Weisheit, [sechs Wörter griechisch], primorum principiorum causarumque speculatricem, eine Erforscherinn der ersten Gründe und Ursachen. Metaphys. L. I. c. 2.
Kunst In den Practischen Wissenschafften aber machet er einen Unterscheid, daß einige derselben zum Gegenstand haben ein poieton, factibile oder arte factum, was da soll gemacht oder durch Kunst zubereitet werden; einige hingegen ein prakton, agibile, oder was da soll gethan werden: Welcher Unterscheid darinnen beruhet, daß to poieton, factibile, ein Kunst-Stück ist, das durch menschliche Arbeit in einem natürlichen Cörper hervorzubringen ist; To prakton, agibile, hingegen, eine nach den Regeln der Sitten-Lehre zu prüfende That des menschlichen Willens.  
  Die Geschicklichkeit demnach in Ansehung der poieton nennet er techne, artem, Kunst; die Geschicklichkeiten hingegen in Ansehung der prakton, phronēsin, prudentiam, Klugheit. Seine Worte sind: [ein Satz griechisch]: i.e. Ars est habitus cum ratione veri effectivus: Die Kunst ist eine Geschicklichkeit etwas nach einer wahren und richtigen Regel hervorzubringen.  
  [Ein Satz griechisch]; Prudentia est habitus cum ratione veri recte agendi circa ea, quae homini bona sunt vel mala; Die Klugheit ist eine Geschicklichkeit sich nach einer gewissen und festen Regel wohl zu verhalten in Dingen, welche dem Menschen entweder gut oder schädlich sind. Ethic. L. VI. c. 4. 5.
  Diesen 5 Geschicklichkeiten, die seiner Meynung nach in gäntzlicher Gewißheit beruhen, setzet er Analytic. Poster. L. I. c. 27, tēn doxan, die Meynung, das ist die Geschicklichkeit der Wahrscheinlichkeit entgegen. Müllers Philosophische Wissenschafften I Th. c. 20. p. 601. seq.
  Die Schulweisen pflegten, nach Anleitung des Aristoteles, die Wissenschafft durch eine Geschicklichkeit des Verstandes zu erklären, welche man erlangt, indem man mit Gewißheit aus richtigen und  
  {Sp.1348}  
  wahren Ursachen einen Schluß-Satz einer Sache herleitet. (Scientia est virtus intellecualis, comparata ex conclusione certae rei per proprias et proximas causas). Sie behaupteten, daß die Wissenschafft (scientia) nur in Ansehung des Schluß-Satzes uns zukomme, und hingegen die Erkenntniß (intelligentia) in Ansehung der Förder-Sätze. Sie erfordern drey Dinge zur Wissenschafft:  
 
1) Einen Gegenstand welcher episteton, scibile, heißt, oder das, von dem man eine Wissenschafft erlangen will.
 
 
2) Eigenschafften, welche davon erwiesen werden.
 
 
3) Ursachen oder antion, um welcher willen die Eigenschafften von dem Gegenstande gesagt werden.
 
  In aller Wissenschafft war nach ihrer Meynung zweyerley:  
 
1) Gewißheit, daß man etwas ohne Zweifel erkennt: Und daher wird die Wissenschafft bey den Griechen ametaptōtos genennet, weil sie sich keines andern bereden läst.
 
 
2) Deutlichkeit und Klarheit, daß man etwas in seinem gantzen Licht einsehe.
 
  Sie theilten ferner die Wissenschafft  
 
  • in die beschauliche (SCIENTIAM SPECULATIVAM);
  • in die thätige (SCIENTIAM PRACTICAM)
  • und in die Poetische (SCIENTIAM POETICAM)
 
  ein: Desgleichen  
 
  • in diejenige, von welcher eine andere abhanget und deren Sätze in keiner vorhergehenden Wissenschafft erwiesen werden, welche sie SUBALTERNANTEM nennten;
  • und in diejenige, bey welcher das Gegentheil von der vorigen statt hat, und die SUBALTERNATA heißt.
 
  Sie machten folgende Stuffen der Wissenschafften:  
 
  • Der erste Grad, da man die Würcklichkeit eines Dinges (hoti) eben so gut einsieht, als ob man durch einen Beweiß davon wäre überzeugt worden;
  • Der andere Grad, da man vollkommen durch einen Beweiß von etwas überführt wird;
  • Der dritte Grad, da man selbst von der Materie des Beweises eines Satzes neue Beweise führen kan, welches sie die Weißheit nennten oder anypothetos epistemen.
Johannis Micrälii Lexicon philosophicum unter d. W. Scientia, p. 1242. seq.
     
  Verschiedene Bedeutungen des Worts: Wissenschafft, so fern es vor die Erkenntniß genommen wird, zu unsern Zeiten.  
  In unsern Tagen hat man dem Worte: Wissenschafft, in so fern es vor unsere Erkenntniß genommen wird, eine dreyfache Bedeutung beygeleget, als:  
 
I. Braucht man selbiges in weiterm Sinn vor eine jede Erkenntniß überhaupt, es mag selbige eine gemeine, oder gelehrte, eine gantz gewisse, oder wahrscheinliche seyn, daher, wenn man anzeigen will, man wisse von einer Sache nichts, so pflegt man auch zu sagen, man habe keine Wissenschafft davon.
 
 
II. Im engern Verstande vor eine solche Erkenntniß, die gantz gewiß, daß der Verstand dergestalt von etwas überzeuget, daß er nicht den geringsten Zweifel hat, und also zwischen ja und nein nicht mitten inne stehet. Eine solche Gewißheit hat einen dreyfachen Grund, als die Erfahrung, die Vernunfft und die H. Schrifft, die sich alle auf den
 
  {Sp. 1349|S. 688}  
 
  General-Grund, welches die Empfindung ist, stützen. Denn weiß man etwas aus der Erfahrung, so beruhet hier die Gewißheit darauf, daß man es empfindet; gleichwie man auch bey den Wahrheiten, die durch die Vernunft gewiß gemacht werden, das Verhältniß der Ideen; bey denen aber, die durch die Heilige Schrifft gewiß sind, das deutliche Zeugniß empfinden muß.
 
 
  Die Erfahrung macht eine Gewißheit, soferne wir empfinden, daß sich die Sache auf diese oder jene Art verhalte, welches aber nur an eintzeln Dingen geschicht, sie mögen nun ausser, oder in uns selbst (dergleichen die Würckungen der Seelen sind) geschehen, z.E. wir wissen gewiß, daß die Magnet-Nadel sich allezeit nach einem der Welt-Angel wendet; das eine lebendige Vorstellung den Willen in eine Bewegung bringen kan, indem wir dieses aus der Erfahrung haben, das ist, wir haben solches an eintzeln Sachen wahrgenommen. Indem aber bey solchen Dingen, die äusserlich empfunden werden, alles auf die äusserlichen Sinnen ankommt, so setzt man voraus, daß man sich auf selbige verlassen kan.
 
 
  Wie nun die Erfahrung mit eintzeln Sachen zu thun hat, die man unmittelbar empfindet; also ist die Vernunft mit Ideen beschäftiget, die sie betrachtet, und aus ihrer Natur einen Grund der Gewißheit an die Hand giebt. Denn sie machet Erklärungen der Dinge, und stellt sich deren Wesen und Beschaffenheit vor, daß, wenn sie weiß, wie sich eine Idee gegen die andere verhält, so urtheilet sie, und macht Sätze, welche sie wieder dazu brauchet, daß sie andere Wahrheiten daraus folgert, z.E. wenn ich sage, es ist gewiß, daß ein unvernünftiges Vieh nicht kan gestraft werden; so kan man solche Gewißheit nicht aus der Erfahrung, wohl aber aus der Vernunft, und zwar auf folgende Art leiten: Die Vernunft überführet davon einen Menschen, weil sie einen andern Satz: Die Strafen sind ein Übel wegen begangener Sünden, als eine Ursach vorstellet, zwischen welchen beyden man einen nothwendigen Zusammenhang empfindet. Daß sie aber so urtheilet, die Straffen sind ein Übel wegen begangener Sünde, oder Übertretung des Gesetzes, darzu hat sie diese Ursach, weil solches das Wesen der Straffe mit sich bringt.
 
 
  Auf solche Weise kommen bey der gewissen Erkenntniß durch die Vernunft vor die Definitio, das Principium und die Conclusio. So giebt auch die Heilige Schrifft, oder das göttliche Zeugniß einen Grund der Gewißheit ab, deren Ausspruch schlechterdings wahr, weil er von GOtt kommt, der nicht kan, noch will betrügen. Doch weil dieses Zeugniß schrifftlich abgefasset, so entsteht diese Gewißheit nicht ehe, bis man den richtigen Verstand von einem Spruche hat, z.E. das Christus wahrer GOtt und Mensch, ist gewiß war, nicht aus der Erfahrung, noch aus der Vernunfft; sondern aus der Heiligen Schrifft, aus welchem erhellet, daß die Theologie völlige Gewißheit hat. Eine solche gewisse Erkenntniß hat also ihre Gründlichkeit, indem dasjenige, was man behauptet, seinen gewissen Grund hat, darauf man sich verlassen kan.
Walchs philosophisches Lexicon.
 
III. Braucht man das Wort: Wissenschafft, in gantz engern Verstande, vor eine solche ge-
 
  {Sp. 1350}  
 
  wisse Erkenntniß, deren Gewißheit auf die Natur einer Sache gegründet, welches man sonst auch die DEMONSTRATIONEM A PRIORI zu nennen pfleget.
Walchs philosophisches Lexicon.
 
  Überhaupt ist die Wissenschafft in diesem Verstande eine Erkenntniß der Dinge, so wir durch die Demonstration aus gewissen Gründen erlangen; oder: es ist die Wissenschafft eine Fertigkeit, alles, was man behauptet, aus gewissen Gründen unumstößlich darzuthun. Also werden theils gewisse Gründe (principia certa) erfordert, aus welchen wir das bekannte herleiten, theils eine Demonstration, oder eine zusammengekettete Reihe der Schlüsse, woraus erhellet, daß das, was soll erkennet werden, auf den Gründen richtig bestehe. Weil die Dinge in der Wissenschafft nicht dürffen zugegen seyn, so können die Dinge ein Gegenstand der Wissenschafften seyn, welche niemahls durch die Erfahrungen können vorgestellet werden. Die Gewißheit der Demonstration beruhet auf der Gewißheit der Gründe und auf der richtigen Ableitung.
Siehe D. Sigismund Jacob Baumgartens Exercit. Theol. de scientiae, fidei et experientiae discrimine et nexu in theologia necessario, Halle 1742, und die Gründliche Auszüge aus denen Disputationibus XI Band, I St. p. 27.
  Es giebt Leute in der Welt, die wollen nicht Wissenschafft in denen Stücken leiden, wo sie nur eine Meynung haben. Die gehören unter die Zahl der Hartnäckigen, und sind die gefährlichsten in der gelehrten Welt. Denn sie hindern theils durch Schmähen und Lästern, theils, wenn sie Macht gewinnen, mit Verfolgungen die Aufnahme der Wissenschafften. Ihr Hochmuth leidet es nicht, daß andere etwas besser verstehen sollen, als sie. Und da sie hartnäckigt sind, ist nichts mit ihnen auszurichten. Man darf sich nicht wundern, daß dergleichen Leute so thörigt handeln, weil sie sich niemahls um die Wissenschafft bekümmert. Denn diese ist aus der Zahl der Fertigkeiten: nun wird aber alle Fertigkeit durch die Übung erlanget, welches die tägliche Erfahrung bestärcket, so muß nothwendig auch die Wissenschafft durch die Übung erlangt werden.  
  Weil auch die Beschaffenheit des Beweises deutlich in der Vernunft-Lehre erörtert wird, und diese Beschaffenheit ohne die Erkenntniß der Logick nicht kan erkannt werden; so muß derjenige, der nach Wissenschafft strebt, sich die Logicalischen Regeln wohl bekannt machen, die Beschaffenheit des Beweises deutlich einsehen und eine Logicalische Auflösung der Sache anstellen können. Weil die Philosophische Lehr-Art mit der Mathematischen einerley ist, und also auch die Philosophischen Sätze einerley Auflösung zulassen, als der Mathematicus: so ist, ohne vieles Erinnern, offenbar, daß man durch eine genaue und fleißige Übung in der Philosophie nach angeführter Methode zu der Wissenschafft gelange. Weil ferner der Beweis die Wissenschafft hervor bringt: so wissen wir dasjenige, was wir beweisen können; was aber von uns nicht kan bewiesen werden, von dem haben wir auch keine Wissenschafft.  
  Daher ist klar, daß man denenjenigen nicht die Wissenschafft eines Mathematici zueignen könne, die nur einige Lehr-Sätze und Aufgaben ins Gedächt-  
  {Sp. 1351|S. 689}  
  niß gefasst und sich derselben bey dem Feldmessen oder andern Vorfallenheiten bedienen. Denn sie besitzen alsdenn erst Wissenschafft, wenn sie sowohl die Lehr-Sätze, welche sie gemerckt, als auch die Aufgaben, die sie in die Ausübung setzen, beweisen können. Gleichergestalt ist der noch kein Logicus, der nur die Sätze der Vernunft-Lehre dem Gedächtniß eingeprägt, und dieselben öffters nicht unglücklich anwendet: sondern derjenige vielmehr wird diesen Nahmen verdienen, der die Regeln der Vernunft zu erweisen im Stande ist. Dahero diejenigen, die sich bemühen, die Logicalischen Regeln, die in der Ausübung grossen Nutzen schaffen, zu beweisen; die machen dadurch, daß man eine völlige Wissenschafft der Vernunfft-Lehre erlange.  
  Man hat die Einwendung derer nicht groß zu achten, die da glauben, daß die menschliche Wissenschafft in gar zu engen Schrancken eingeschlossen sey. Man muß hier wohl den Unterschied einer gewissen Erkenntniß der Sachen, welche der Wissenschafft zukömmt, von einer ungewissen in Acht nehmen. Was hat man also vor Schaden zu besorgen, daß wir die Wissenschafft denenjenigen absagen, die keine gewisse Erkenntniß der Sachen in den Wissenschafften haben? Es bleibt einem jeden seine Erkenntniß, die er besitzt, man mag sie nun wollen mit dem Titul der Wissenschafft beehren, oder mit einem andern Nahmen. Übrigens erkennet man daraus, warum man eine Demonstration einen scientifischen Beweis (probationem scientificam) nennet.  
  Hiernächst gilt auch bey der Wissenschafft, was von aller unserer Erkenntniß gesagt wird: wir wissen so viel, so groß unser Gedächtniß reichet. (Tantum scimus, quantum memoria tenemus). Denn gesetzt, wir haben etwas nicht im Gedächtnisse behalten: so sind wir auch nicht im Stande, eine Idee in unserm Gemüthe wieder hervorzubringen, und, nachdem sie hervorgebracht, davor zu erkennen. Dahero, weil wir dasjenige wissen, was wir beweisen können; dasjenige aber, dessen Begriff wir nicht bey uns wieder hervorbringen und erkennen können, daß wir ihn ehemahls gehabt, werden wir noch viel weniger beweisen können, weil man hier gantz besonders auf den Gegenstand der Erkenntniß sein Absehen richten muß: wir wissen also diejenigen Sachen keinesweges, deren Begriff wir nicht bey uns wieder hervorzubringen im Stande sind, und davon wir folglich keinen Begriff mehr haben.  
  Daraus ist klar, daß wir nur das wissen, was wir ins Gedächtniß gefasset, oder, welches einerley ist: Unsere Wissenschafft richtet sich nach unserm Gedächtniß. Weil auch derjenige, der eine Sache vergessen hat, derselben Begriff nicht wieder bey sich, vermöge seiner Einbildungs-Krafft, hervorbringen kan, und sie also nicht weiter im Gedächtnisse behält: so ist ausgemacht, daß wer etwas, was er gewust hat, vergißt, desselben Wissenschafft nicht weiter hat.
  • Wolfs Logica Latina Disc. Praelim. §. 30. p. 14. Part. II. Sect. I. c. IV. §. 594-598. p. 444. seq.
  • Ebend. Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes, Vorber. §. 2 p.1. und Cap. VII p. 144 u.f.
  • Ebend. Psychol. Empyrica P. I. Sec t. III. c. IV. §. 451. 452. p. 354. seq.
  • Ebend. Gedancken von GOtt der Welt, der Seele des Menschen, etc. Th. II. §. 124. p. 198 seq.
  • Baumeisters
  {Sp. 1352}  
   
  Institutiones Philosoph. Rationalis, Cap. Praelim. §. 27. p. 17.
  • Reuschens Systema Metaphys. c. III. §. 419. p. 292 §. 920 p. 658 seq.
  • Ebend. Systema Logicum c. I. §. 50. p. 30. c. XI. §. 658. 659 p. 751 seq.
  • Johann Jacob Syrbii kurtze Anweisung zur Weisheit p. 5.
  • Johann Christoph Gottscheds Gründe der Weltweisheit, Theoret. Th. §. 4 p. 4 seq. §. 159 p. 98.
  • Meißners Philosophisches Lexicon.
  • M. Johannis Andreä Fabricii Logick §. 9 p. 5. §. 328. p. 102 seq.
  • Johann Friedrich Rübels Recht der Natur §. 31 p. 13.
     
  Unterscheid der Wissenschafft von der Erfahrung.  
  Weil die Empfindung der Sinnen und die daher entstehende Gedächtniß-Wissenschafft nur der erste Grund vernünftiger Einsicht ist, als welche letztere durch die Würckungen des Witzes und die Beurtheilungs-Kraft aus jener allererst erwachsen muß; so folget, daß das Gemüth bey der erlangten Erfahrung der Dinge nicht stille stehen, und dieselbe etwa vor die scharffsinnige Erkenntniß selbst, die wir in der Gelehrsamkeit suchen, ansehen, sondern selbige nur als einen Grund, aus welchem durch scharfsinniges Nachdencken eine rechtschaffene Wissenschafft entstehen solle, betrachten müsse.  
  Wissenschafft oder Einsicht erfodert zwar Erfahrung, und setzet sie zum Theil voraus, so weit nehmlich die Erfahrung der Grund der Erfindung und Erkenntniß aller menschlichen Wissenschafften ist: Sie ist aber ein weit mehrers als blosse Erfahrung, nemlich eine scharffsinnige Erkenntniß der Wahrheiten, die aus dem Grunde der sinnlichen Empfindungen und also dessen, was die Erfahrung lehret, in einer an einander hangenden Ordnung aus einander zu schliessen sind.  
  In dessen Erwegung theilet man auch die Erfahrung in eine bloß Empyrische oder gemeine, und in eine gelehrte Erfahrung. Jene ist eine blosse Erfahrung ohne gründliche Wissenschafft: diese ist eine mit gründlicher Einsicht in die Wissenschafften verbundene Erfahrung. Die erstere lässet sich nicht leicht anders, als sehr unvollkommen, und offt an statt des gesuchten Nutzens mit Schaden anwenden und gebrauchen. Die andere ist weit reichlicher, auch weit klüger und vorsichtiger anzuwenden und zu nutzen.  
  Zu Erlangung solcher Geschicklichkeiten zwar, deren Regeln und Kunstgriffe auf blosser unmittelbar sinnlicher Erkenntniß beruhen, und die sich also bloß durch Zusehen und fleißige Übung erlangen lassen, ist die erstere der beyden angeführten Arten der Erfahrung genug, wie wir an der Art spinnen, weben[1], kochen oder ein Handwerck treiben zu lernen wahrnehmen: nicht aber auch zur Erlangung gelehrter Geschicklichkeiten, z.E. in der Theologie, Rechts-Gelehrsamkeit, Medicin, als deren Regeln und Kunstgriffe auf einer Einsicht in diejenigen Wahrheiten, die aus dem Grunde der Erfahrung in einer an einander hangenden Ordnung aus einander zu schliessen, und scharfsinnig zu begreiffen sind, und also nebst der Erfahrung auf gründlicher Wissenschafft beruhen.
Müllers Philosophische Wissenschafften Th. I Cap. V. §. 21. p. 158 u.f.
[1] HIS-Data: korrigiert aus: neben
     

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Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries