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Zedler: Wissenschafften [2] HIS-Data
5028-57-1399-1-02
Titel: Wissenschafften [2]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 57 Sp. 1404
Jahr: 1748
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 57 S. 715
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Hinweise:
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Übersicht
Ob zwischen allen Wissenschafften eine so genaue Verbindung, daß keine ohne die Erkenntniß der übrigen gehörig begriffen werden könne?
Eintheilung der Wissenschafften in die Haupt-Wissenschafften und Instrumental-Wissenschafften.
Das Hohe in den Wissenschafften.
Die Ungewißheit der Wissenschafften.

  Text   Quellenangaben
  Ob zwischen allen Wissenschafften eine so genaue Verbindung, daß keine ohne die Erkenntniß der übrigen gehörig begriffen werden könne?  
  Es stehen etliche, und unter andern Toland in dem ihm zugeeigneten Discurs von der Freyheit im Dencken in den Gedancken, als wenn alle Wissenschafften und Künste so genau mit einander verknüpfft wären, daß man unmöglich in einer vollkommen seyn könne, ohne von den andern einige Kenntniß zu haben: Es möge auch kein Buch gefunden werden, daß nach ihrer Art vor vollkommen zu halten sey, davon der Verfasser nicht in allen Künsten und Wissenschafften unterrichtet ge-  
  {Sp. 1405|S. 716}  
  wesen. Man führet zum Exempel den Homer an, in dessen Jliade man mit den Patronen dieses Poeten, aller Künste und Wissenschafften Grundrisse zu finden vermeynet, und von ihm saget, daß er nimmermehr einen Wagen so gut würde haben beschreiben können, wenn er nicht gewust wie selbiger zu bauen wäre. Desgleichen hält man auch die Bibel vor so ein Buch, in welches alles hineinlauffe, was nur die Menschen wissen könnten, und wäre nicht zu gedencken, daß GOtt in allen diesen Dingen unvollkommener geschrieben, als ein blosser Mensch würde gethan haben; Woraus man den folgert, daß man zu dem Erkenntniß der Heil. Schrifft nicht gelangen könne, ohne die Freyheit zu haben, über alles zu dencken.  
  Allein es redet obbesagter Autor, und die mit ihm einerley Meynung hegen, unstreitig zu reichlich. Denn daß keine Kunst und Wissenschafft ohne die andere seyn könne, ist eine angenehme Phantasie, die in einem Panegyrico scientiarum et artium noch mitlauffen möchte. Die Wahrheit aber zu sagen, so ist nicht zu sehen, warum einer z.E. nicht eine vollkommene Sitten-Lehre schreiben könne, ohne von der Poesie Wissenschafft zu haben. Ein Schneider, der ein gut Manns-Kleid macht, bleibt nach seiner Art vollkommen, wenn er gleich keinen Weiber-Rock in seine dreyfache Falbula abtheilen kan. Homer würde vielleicht vor keinen schlechten Poeten zu halten seyn, wenn er sich gleich nicht um die Wagner-Arbeit gekümmert. Ein jeder entdeckt seine Blösse alsdenn, wenn er sich von etwas zu schreiben vornimmet, daß er nicht verstehet. Läßt er aber das weg, was ihm verborgen ist, bleibt er in seiner Art vollkommen. Petersquentz hätte wohl ein nützlicher Schul-Meister seyn können, wenn er nicht, wie er spricht, vor einen Universalem gehalten seyn wollen. Und so kan man zwar sagen, daß es erlaubt sey, alles zu wissen; allein nicht, wie es einige zu thun scheinen, einem jedem dieses als eine Nothwendigkeit aufbürden wollen.
  • Discours sur la liberté de penser (Londen 1714 in 8) p. 11. u.ff.
  • Deutsche Acta Erudit. XXVIII Theil, p. 232 u.f.
     
  Eintheilung der Wissenschafften in die Haupt-Wissenschafften und Instrumental-Wissenschafften.  
  Es giebt Wissenschafften, welche zum Wesen der Gelehrsamkeit gehören, und ihrer Natur nach die Glückseligkeit der Menschen befördern; es sind aber auch andere, welche an und vor sich selbst nicht zur Wohlfahrt der Menschen beytragen, doch aber zu denen übrigen Wissenschafften dienen, und derselben Erlernung ungemein erleichtern. Jene könnte man die Haupt-Wissenschafften, diese aber die Instrumental-Wissenschafften nennen. Zu diesen gehören die so genannten schönen Wissenschafften, davon der Artickel: Humaniora, im XIII Bande, p. 1155 u.f. aufzuschlagen.  
     
  Das Hohe in den Wissenschafften.  
  Durch das Hohe (Sublime) wird dem Nahmen  
  {Sp. 1406}  
  nach dasjenige verstanden, was an den Cörpern die so wohl von Natur, als durch der Menschen und der Künstler Hände bereitet sind, der Empfindung derer Menschen unterworffen ist. Wenn man ein wenig Acht hat, so muß man verstehen, daß Hohe sey dasjenige, wozu man nicht ohne viele Stuffen kommen kan. Dieser Begriff, sofern er bey den Cörpern angenommen wird, ist deutlich. So bald aber eben dieser Begriff auf einen Theil der Gelehrsamkeit, oder auf die Wissenschafften überhaupt gezogen wird, so bald wird er verwirret.  
  Denn es ist nicht klar, was vor einen Zugang zu denen Wissenschafften, die wir hoch nennen, sey, oder was vor Stuffen sind, durch welche man hinauf steigen müsse. Weil von den Menschen um keiner andern Ursache Willen geirret wird, alsweil diejenigen welche irren, nicht wissen, was das Hohe in der Erkenntniß der Wahrheiten sey; So siehet man leicht, wie viel daran gelegen sey, daß man das Hohe in denen Wissenschafften unterscheide; vornehmlich da die Ordnung in dem Studiren nicht beobachtet werden kan, wo man nicht einen deutlichen Begriff von den hohen Sachen hat.  
  Durch die Wissenschafft verstehen wir die gantze Menge der demonstrirten Wahrheiten, welche auf einerley Vorwurff zielen. Was wir nun von dem Hohen sagen werden, das kan alles auf die Welt-Weißheit, und auf die andern Disciplinen, in welchen die Demonstration statt findet, gedeutet werden. Vor allen Dingen müssen wir die Beschaffenheiten derer Wissenschafften und derer Cörper mit einander vergleichen. Bey denen Cörpern wird das Hoch genannt, zu welchem man nicht anders, als durch viele Stuffen, kommen kan. In allen Wissenschafften wird etwas gefunden, daß diesem ähnlich ist. Denn in denselben lehret man gewöhnliche Wahrheiten und Begriffe, welche leicht zu verstehen sind, und nur eine gemeine Erkenntniß bey dem Leser oder Zuhörer, erfordern; Es sind aber auch andere, welche nicht verstanden und begriffen werden können, woferne man sich nicht viel andere Wahrheiten, die noch nicht gelernet worden, bekannt gemacht hat.  
  Es sind also hier gleichsam gewisse Stuffen wahrzunehmen. Daher kan man leicht verstehen, daß das Hohe in den Wissenschafften dasjenige sey, welches, wo man nicht zuvor viel andere Sachen verstanden, nicht begriffen werden kan. Weil nun denen Sachen, die sich demonstriren lassen, daß Hohe zugeeignet wird, dieses aber entweder Begriffe, oder Sätze, oder endlich Schlüsse sind; So wird die Beschaffenheit des Hohen in den Wissenschafften überhaupt besser bekannt werden, wenn wir erklären, was das Hohe in einem jedem Stücke sey. Auch in den Begriffen findet sich eine Hoheit; Dieweil offt viele, oder andere Begriffe, oder Sätze zuvor verstanden werden müssen, ehe der Begriff von dieser, oder jener Sache uns erweckt werden kan, oder man verstehen kan, ob er möglich sey.  
  Das Hohe  
  {Sp. 1407|S. 717}  
  so in den Begriffen der obern Arten ist, wird aus der Weise dieselben zu machen, welche die Vernunfft-Lehre uns vorschreibet, bekannt. Wenn wir zu den obern Arten, oder Geschlechtern hinauf steigen wollen, so müssen wir eine Art (Genus) mit andern allgemeinen Begriffen vergleichen, und mercken, was darinnen gleiches, oder ungleiches vokömmt; Das gleiche müssen wir abstrahiren, und mit einem besondern Worte benennen, auch durch öfftere Vorstellung der abstracten Sache uns also bekannt machen, daß, so bald der Begriff des Wortes in Gedancken ist, auch die Vorstellung der Sache uns bald in den Sinn kommt. Dieses alles muß so offt wiederholt werden, so offt ein Begriff einer obern Sache von dem Begriffe des Geschlechts, den wir uns gemacht haben, formiret werden soll.  
  Es ist eine doppelte Weise, allgemeine Begriffe, und folglich Begriffe der obern Arten zu machen; Die eine geschiehet durch eine Abstraction, die andere durch eine willkührliche Verbindung unterschiedener Begriffe. Die letzte scheinet uns auf kürtzere Manier zu den Begriffen der obern Arten zu führen; Allein die Sache befindet sich nicht also: Denn die Möglichkeit und Realität der freywillig angenommenen Begriffe wird uns nicht so leicht bekannt, als dererjenigen, die wir uns durch die Abstraction gemacht haben; Weil die Würcklichkeit in diesen durch die Formirung selbst offenbahret, in jenen aber entweder durch eine Demonstration, oder durch die Erfahrung, endlich erwiesen wird.  
  Die Hoheit, die den Begriffen der obern Arten zukommet, muß ferner auch in den Begriffen, welche gegen jene als Theile anzusehen sind, gefunden werden. Es ist aber nicht zu leugnen, daß einer zu den hohen Begriffen eher, als der andere gelanget. Denn einige müssen sich bey der Formirung der eintzelen mittlern Begriffe länger aufhalten; Andere aber sehen die abstracten Begriffe leichtlich, wenn sie nur die Sache empfinden. Die Ursache hiervon ist in der Schärffe, allgemeine Dinge in eintzeln, und mehr allgemeine in nicht so allgemeinen Sachen zu sehen, zu suchen.  
  Wir können aber, vermöge der Abstraction, auf unterschiedene Weise zu dem Hohen kommen. Wie wir von den Begriffen unterschiedener besonderer Arten (Specierum) auf einerley Geschlecht hinauf steigen können; So können wir auch von unterschiedenen niedrigen Geschlechten auf eben das obere hinauf kommen. Der Begriff von dem, was natürlich ist, welchen wir einen Hohen nennen, kan gemacht werden, wenn wir von den Dingen, die in den Cörpern vorgehen, den Begriff desjenigen, was natürlich in den Cörpern ist, abstrahiren, dabey, den Begriff der Cörper fahren lassen, und allgemein erklären, was natürlich sey. Dieser Begriff aber wird auch bekannt, wenn wir von dem, was in unserer Seele vorgehet, ordentlich philosophiren.  
  Den allerweitesten Begriff von der Vollkommenheit schöpffen wir  
  {Sp. 1408}  
  aus den Vollkommenheiten, die in den Cörpern gefunden werden; Doch kan eben derselbe auch aus moralischen Sachen, aus der Psychologie, und so weiter, abgesondert werden. Weil man von Zwey untern Begriffen zu einem höhern steigen kan, so kan es geschehen, daß einer von derjenigen Erkenntniß weit entfernet ist, welche durch gemeine und schlechte Aufmercksamkeit erlanget wird, der andere aber nichts, als vulgäre Aufmercksamkeit erfodert. Daher kommt es, daß ein Begriff bald mehr, bald weniger hoch zu seyn scheinet.  
  Der Begriff des Natürlichen wird viel leichter aus der Betrachtung der Cörper, als aus den Psychologischen Gründen, die schon höher sind, hergeleitet. Weil dasjenige, worinnen gleiche Sachen von einander unterschieden sind, ihre Gradus, oder Stuffen ausmacht; So wird eine unterschiedene Menge der Begriffe und Sätze, welche zu dem Verstande eines Begriffes erfodert wird, den Grund derer Stuffen, welche in dem Hohen derer Wissenschafften unterschieden werden können, darstellen. Den Begriff, welchen die Römischen Rechts-Gelehrten von der Obligation gemacht haben, zählen wir billig zu den höhern in der Rechts-Gelehrsamkeit, weil er aus der Erkenntniß der Römischen Gesetze nicht unmittelbar gefasset werden kan, sondern viel Begriffe, z.E. von dem Kauffen, und der Verbindlichkeit, die daraus folget, von Verträgen, u.s.w. nöthig sind.  
  Ein Begriff kan in einer Disciplin hoch seyn, und in der andere gantz keine Hoheit haben. Der Begriff der Obligation, die aus den Römischen Gesetzen entstehet, ist in der Jurisprudentz hoch; Der Philosoph, da er die Exempel der Obligation sich vorstellen und abstrahiren solte, kan von dieser Römischen Obligation nachzudencken anfangen, dadurch zu dem Begriffe der bürgerlichen Obligation, und durch diesen zu dem philosophischen Begriffe von der Obligation kommen. Daher haben auch die scharffsinnigen Welt-Weisen, die diesen Begriff behalten, die Obligation durch eine Nothwendigkeit, etwas zu thun, oder zu unterlassen, die aus der Verbindung der Belohnung und Straffen mit den Handlungen entstehe, beschrieben.  
  Das Hohe findet sich auch in denen Urtheilen und Schlüssen. Wenn die Urtheile hoch seyn sollen, so wird bey den, der sie machet, eine grosse Fertigkeit zu schliessen erfordert. Die Urtheile, welche von einem höhern Geschlechte gefällt worden, haben etwas hohes. Wir wollen aber vielmehr von der Hoheit der Urtheile, die aus der Demonstration der Sätze kommt, reden. Es ist aus der Vernunfft-Lehre bekannt, daß einige Urtheile unmittelbar aus dem Begriffe der Sache gemacht, und leicht verstanden werden können; Und das andere sind, welche man beweißliche Wahrheiten nennet, die ohne andere Urtheile und Schlüsse nicht verstanden werden können, oder ob sie wahr sind, erkannt werden. Offt sind die Urtheile, die man als Grund-Sätze annimmt,  
  {Sp. 1409|S. 718}  
  wiederum demonstrabel; Daher muß man in dergleichen Weise zu beweisen so weit gehen, bis man zu solchen Urtheilen kommt, die nicht demonstriret werden können. Wenn die Kette der Schlüsse länger wird, als daß sie ein jeder leicht begreiffen kan, so zeiget sie eine Hoheit des Urtheils an. Daher ist klar, daß die Höhe der Urtheile in der Menge der Urtheile und Schlüsse, die dieselben zu beweisen, oder zu verstehen erfordert werden, bestehe. Weil ein Satz mehr oder weniger Urtheile erfordert, so ist auch ein Unterschied des Hohen.  
  Wenn wir die Stuffen des Hohen recht beurtheilen und ausmachen wollen, welcher Satz unter zweyen höher sey; So müssen wir uns die gantze Gestalt der Demonstration von beyden Sätzen vor Augen stellen, oder einen, der von Beweis-Gründen nichts weiß, von der Wahrheit eines Satzes zu überführen suchen. Keines von beyden kan geschehen, wo nicht alle Sätze in richtiger Ordnung vorgestellet werden; Wodurch die Menge, oder die Höhe der Sätze bekannt wird. Gesetzt, es soll einer, der von der Philosophie nichts weiß, überzeuget werden, daß diese Welt die beste sey. Da muß er durch Ontologische, Cosmologische und Theologische Wahrheiten zuvor gleichsam mit der Hand geführet werden, ehe er weiß, daß diese Welt die beste ist. Diejenigen, welchen die Gründe, so zu dem Beweisen gehören, schon bekannt sind, mercken die Hoheit der Sätze, und die Stuffen der Hoheit nicht so leichtlich.  
  An den systematischen Büchern hat man zu loben, daß alles vorgetragen wird, wie es aus voranstehenden Sätzen verstanden und bewiesen werden kan, und daß zugleich die Stellen angewiesen werden, daher man die Erklärungen oder Beweise zu nehmen hat. Aus der Beschaffenheit dieser Bücher fliesset dieser Nutzen, welchen man insgemein nicht wahrnimmt, daß zugleich mit der Wahrheit auch die Hoheit der Sätze dem Leser bekannt wird.  
  Es kan auch in einer eintzeln Sache etwas Hohes seyn. Denn die eintzeln Sachen dienen ebenfalls hohe Urtheile zu machen; Welches daraus zu erkennen, daß so bald ein ander hohes Urtheil mit denselben, verbunden wird, dergleichen Schluß nothwendig folget. Solches geschiehet, weil eine jede eintzele Sache mit einem höhern Geschlechte einige Ähnlichkeit hat, und deswegen desselben Prädicata in sich fasset. Die Exempel hiervon sind nicht seltsam: Seneca beschreibet den Cato, der berühmte Wolff die Philosophie des Confutius.  
  Das Hohe wird in den Disciplinen gelehret, wenn aus bereits bekannten Wahrheiten andere hergeleitet werden, deren Erkenntniß jener Bekanntschafft voraussetzet. So offt aber dieses geschiehet, so wird die Anzahl der erfundenen Wahrheiten vermehret. Weil die Wissenschafften ein Zusammenhang bewiesener Wahrheiten, die auf einerley Vorwurff gehen, so kan keine andere Vollkommenheit in denselben seyn, als welche entweder aus der Menge der demonstrirten Sachen, oder aus der angewandten Strenge zu beweisen, entspringet. Diese Hoheit sehen Unwissende vor eine Unvollkommenheit an. Man erzehlet, Clericus habe die von Leibnitzen erhaltenen Gedancken von der bestimmten Harmonie seinen  
  {Sp. 1410}  
  Diariis nicht einverleiben wollen, weil sie dergleichen Stelle wegen ihrer Undeutlichkeit nicht verdienten. Der sonst gelehrte Clericus aber hat das, was Leibnitz aus der Psychologie, Cosmologie und andern Lehr-Sätzen in seinem Sinne gehabt, nicht verstanden. Wer von der Hoheit einer Disciplin, oder der darinnen enthaltenen Wahrheit urtheilen will, der muß die ersten Begriffe, oder Lehr-Sätze derselben Disciplinen wohl zu beurtheilen wissen.
  • Chladenii Disp. philos. de sublimi in scientiis, Wittenb. 1734.
  • Gründl. Auszüge aus Disput. B. III, p. 651 u.ff.
     
  Die Ungewißheit der Wissenschafften.  
  Daß in denen Wissenschafften viele Ungewißheit herrsche, ist durch die Erfahrung mehr als zu bekannt. Wir machen billig den Anfang von denen Sprachen, bey welchen man so wohl den grossen Unterscheid, als auch die vielfältigen Veränderungen, denen dieselben unterworffen sind, bedauren muß. Man hält insgemein die Arabische vor die älteste, weil sie die ärmste, die Arabische und Griechische aber vor die gelehrtesten, wiewohl sie auch wegen ihres Reichthums die schwersten, wie denn in der erstern mehr als 500 Wörter sind, welche das Wort Schwerdt, und bey nahe 1000, welche das Wort Löwe ausdrücken.  
  Bey dem Schicksal der Sprachen ist sonderlich von der Griechischen anzumercken, daß heut zu Tage um keine Gegend elender Griechisch geredet werde, als um Athen. Die Dictionaria sind viel zu unzulänglich, diesen Schwierigkeiten abzuhelffen, wovon das Exempel der Academie Francoise zeugen kan, welche in die 40 Jahr daran gearbeitet, und doch nach so langer Arbeit noch genug an demselben zu verbessern gewest ist. Des Bischoffs Wilkins seine Erfindung, welcher eine besondere Philosophische Sprache durch Characteres aussinnen wollen, scheinet gleichfalls nicht thunlich zu seyn, weil die Philosophen doch unter sich nicht einig sind, und also bey so unterschiedenen Begriffen sich an einerley Characteres nicht werden binden lassen.  
  Gehet man weiter fort, und kommet auf die Grammatick; Was vor Ungewißheit wird man dann nicht antreffen? Man hat sich hier insonderheit über den Eigensinn der Criticorum zu beschweren, welche öffters ein Wort, das die Sache doch gut ausdrucket, z.E. Ingratitudo, incertitudo etc. bloß deswegen verwerffen, weil es nicht bey den reinesten Autoribus zu finden, wiewohl auch diese selbst sich ihrer Censur als wie Cicero des Erasmi und Vallä seiner unterwerffen müssen. Ja Atticus hatte diesem schon in einem Briefe vorgeworffen, es sey des Terentii Schreib-Art weit netter als seine.  
  Wenn man die Rhetorick betrachtet, so kan man zwar freylich ihren Nutzen nicht in Zweifel ziehen, doch kan man gleichfalls den grossen Schaden, den sie verursacht, nicht leugnen. Wie denn alle die innerliche Unruhen zu Rom und zu Athen den Verwirrungen der Redner zuzuschreiben, als welche durch ihre weitläufftig Geschwätze den Pöbel lencken können, auf welche Seite sie gewolt,  
  {Sp. 1411|S. 719}  
  da es hingegen zu Lacedämon, wo man kurtz geredet, so viele Empörungen nicht gegeben. Wie denn die Redekunst nicht so wohl mit bündigen Schlüssen, als scheinbaren Erfindungen umgehet, womit man bey den Zuhörer Leidenschafften zu erregen suchet. Wie denn, nach dem Zeugniß des Malebranche, bey dem Seneca mehr Wörter-Pracht, als gültige Folgerungen anzutreffen.  
  Die heutige Beredsamkeit will vielen nicht gefallen, und ist mancher mit Einsicht begabter Mann mit der Academie Françoise übelzufrieden, weil sie durch ihren Eckel und Behutsamkeit ihre Sprache allzuweibisch gemacht, welches gleichsam dadurch vorbedeutet worden, daß sie den ersten Preiß der Redekunst an ein Frauenzimmer, nemlich an Madelle Scuderi gegeben. Es ist hier auch zu erwegen, wie vielerley der Geschmack der Völcker in dieser Sache, und wie sonderlich die Morgenländischen hierinnen von den Europäern unterschieden seyn, endlich aber ist doch nach einiger Meynung den Italiänern und Frantzosen der Preiß zu lassen, da sie die meiste Mühe angewendet, diese Kunst recht hoch zu treiben, wiewohl doch immer eine Nation der andern ihre Fehler vorwirfft.  
  Die Logick, von der wir nunmehro reden, ist die erste Disciplin der Real-Philosophie. Zeno hat dieselbe erst als eine Disputir-Kunst gehandelt, Aristoteles aber ihr besser ins Maul gegrieffen. Obgleich Aristoteles in seiner Logick auch nicht vielmehr gethan als die Leute gelehret, wie sie Schluß-Reden machen, das heist auf Deutsch, wie sie nach den Arten und Figuren disputiren sollen, so muß man ihm den Ruhm doch lassen, daß er die Sache mit besserer Ordnung angefangen, als die Stoici, welche bloß schwatzten, und wundert man sich, wie hernach Ramus sich Aristoteli entgegensetzen können, da er doch nichts anders auf die Bahn gebracht, als was Aristoteles an der Eleatischen Logick vorher zu schanden gemacht.  
  Bey den Römern ist die Logick mehr eine Rhetorick gewesen, weil sie die Römer mit der Stoischen Secte von den Griechen angenommen. Dem Baconi muß man zwar zugestehen, daß er seiner Vorgänger Fehler eingesehen, doch scheinet sein modus ratiocinandi per inductionem nicht thunlich, weil dazu mehr als eines Menschen Wissenschafft erfordert wird. Cartesio ist Schuld zu geben, daß er diese Disciplin gar nicht tractirt, indem sein Buch de methodo mehr einer Metaphysick als Logick gleich siehet. Die Ars cogitandi, vor deren Verfasser einige Arnaulden, andere den Nicole halten, hat nach vieler Meynung vor Aristotele wenig zum voraus, und halten einige die Exempel, die darinnen angetroffen werden vor einem, der erst von der Logick zu studieren anfängt allzuschwer, indem sie schon eine Wissenschafft der andern Disciplinen voraus setzen. Tschirnhausens medicina mentis wird von vielen aus dem Grunde getadelt, weil sich derselbe allzuviel Unbetrüglichkeit zueignet. Kurtz es giebt mit Einsicht begabte Männer, die die meisten bisher bekannten Logicken tadeln, ohne eine zu nennen, welche ihnen angestanden.  
  Bey der sittlichen Weltweißheit muß man billig von Socrate anfangen, der an statt der Stern-  
  {Sp. 1412}  
  kunde, welche bis dahin Mode gewesen, die Sitten-Lehre aufgebracht, wie man denn auch deswegen von ihm gesagt: Quod coelo deduxerit philosophiam. Es ist nichts an ihm zu tadeln als seine Undeutlichkeit und Unordnung seiner Regeln, und daß er alles als ob er selbst noch daran zweifelte, vorgebracht. Plato soll den Socratem meist ausgeschrieben und mehr Furchtsamkeit gehabt haben, da er gesehen, wie es dem Socrati gegangen. Das ist auch eben die Ursache warum Socratis Regeln so ungewiß scheinen. In den Lebens-Beschreibungen der alten Weltweisen ist keines seine Meynung auf eine Systematische Art vorgetragen, daß wenige ausgenommen, was man bey dem Plutarcho davon findet. Von Socrate insonderheit hat man nichts als was man aus Platone rathen kan. Wir sagen Rathen. Denn wer weiß wie viel Socrates in diesen Schrifften Platoni zu gefallen reden muß. Zum wenigsten ist gewiß, daß dieser allen Dingen seine Farbe angestrichen. Er war aber ein Mann, der immer was artiges sagen wolte, und es steht dahin wie viel Zusammenhang er selber im Kopfe gehabt.  
  An Aristotele muß man zwar die Ordnung des Vortrags loben, doch sind seine Gedancken nicht so artig, als des Platonis und Socratis. Die Stoicker haben allzu harte Aufsätze; und der Scepticismus kan einem noch weniger anstehen, wie denn Pyrrho, der Urheber dieser Secte, sich allezeit besann, ob er einem Wagen oder dem Pferde ausweichen wolte, aber ein Hund, der ihn gähling anlieff, konnte ihn aus seiner Sceptischen Gelassenheit setzen. Zu Zeiten Varronis sollen nur über der Materie vom höchsten Gut mehr als 288 unterschiedene Meynungen gewesen seyn, aus welcher Uneinigkeit der Weltweisen gar leichte der Schluß zu machen, wie viel Ungewißheit in der vernünfftigen Sitten-Lehre herrsche, daß wir also keine bessere, als in der Heil. Schrifft finden können.  
  Bey der Physick, deren Ungewißheit zwar wohl ohnedem von niemand in Zweiffel gezogen wird, ist zu erinnern, daß Aristoteles hierbey mehr Vernunfft-Schlüsse als Erfahrung gehabt, da doch durch diese letztere die meisten Geheimnisse der Natur müssen erforschet werden. Derer andern alten Natur-Lehrer Grundsätze sind von den neuern wieder hervorgesucht worden. Copernicus hat gleichwie Pythagoras die Sonne zum Mittel-Punct der Natur gemacht; die Seelen-Wanderung hat Bulstrode vertheidigt; und des Platonis seine Meynungen von der Seele der Welt ist in einem Englischen Buche, Lux orientalis genannt, wieder aufgewärmt worden.  
  Die cörperliche Philosophie (Philosophia corpuscularis) des Democrits und Epicurs, welchen Cartesius gefolgt, leitet nach der Meynung der meisten zum Atheismo, oder stößt zum wenigsten die göttliche Fürsehung über den Hauffen. Es scheinet zwar kein Grundsatz in der Natur-Lehre besser zu seyn als das principium attractionis, welches Keil, wie aus den Lateinischen Act. Erud. Supp. T. IV. p 272 seq. erhellet, angenommen. Dennoch, wenn man die Sache hin und her reiflich überlegt, so kan man doch lieber bey der Allmacht  
  {Sp. 1413|S. 720}  
  Gottes beruhen, als sich mit ungewissen Muthmaßungen verwirren wollen.  
  In der Astronomie muß man billig den Chaldäern den ersten Ruhm lassen, weil die Lage ihres Landes und ihr Aberglauben sie zuerst darzu angeleitet. Die Chineser haben zwar auch diese Wissenschafft ehe als wir gehabt, es ist ihnen aber damit gegangen, wie mit ihrem Schieß-Pulver, Buchdruckereyen und andern Erfindungen, welche sie eher als die Europäer gehabt, aber schlecht ausgearbeitet, wie denn, als die Mißionarien nach China gekommen, ihre Mathematici nicht einmahl so geschickt gewesen, einen Calender zu verfertigen. Ptolemäo und Copernico muß man ein Systema zugestehen, keinesweges aber dem Tycho de Brahe. Des Ptolemäi seines ist allzu künstlich und sind allzuviel Phänomena, welche daraus nicht können erkläret werden. Copernicus scheint zwar wahrscheinlich zu philosophiren, man kan aber nicht begreiffen, auf was vor Art eine flüßige Materie, wie diejenige so die Welt umgiebt seyn soll, so eine ordentliche Bewegung würcken könne. Man muß nicht wenig lachen, daß Hevelius eine Geographie von dem Monde geschrieben; Ricciolus aber gar einem jeglichen Astrologo einen Theil desselben anweisen wollen.  
  In der Metaphysick ist des Cartesii Grundsatz: Ego dubito ergo sum, vielfältig angefochten worden; doch muß man gestehen, daß schon Aristoteles, ob gleich seine Metaphysick nicht viel taugt, die menschliche Erkenntniß auf diesen Grund gebaut. Poiret kan man mit Recht einen begeisterten Weltweisen nennen, und des P. Malebranche seine Recherche de la Verité ist allzu abstract, sein mundus idealis aber zu fanatisch.  
  Von der Metaphysick kommen wir auf die Historie, da man denn, was die älteste Profan-Historie anlangt, sich nicht unbillig über den Mangel glaubwürdiger Nachrichten beschweret. Die älteste Griechische Historie müssen wir aus den Poeten, unter denen Homerus der erste ist, nehmen, aus welchen ihre Historici hernachmahls das meiste abgeschrieben, wie denn dem Herodoto so wenig als dem Thucydidi und Diodoro Siculo wegen der untermengten Fabeln Glauben beyzumessen ist. Die Römischen Geschichtschreiber sind zwar in grössern Ehren zu halten als die Griechischen; dennoch muß man gestehn, daß sie die erforderte Vollkommenheit auch nicht haben. Doch ist nicht zu begreiffen, woher Livius die ältesten Nachrichten von der Stadt Rom gekriegt, da er zumahl derselben Auferbauung auf die Fabeln der Poeten gründet. Die Tradition scheinet vor einem Geschichtschreiber ein allzu schlüpfriger Weg zur Wahrheit zu seyn, und alles dasjenige Lob, welches sich die Römer in ihren Historien zueignen, läst sich nicht besser als aus den Schutz-Schrifften derer in der ersten Kirche von ihnen verfolgeten Christen widerlegen. Man hätte können zum voraus sehen, was die Historie, welche Cicero in Willens gehabt zu schreiben vor Mängel würde gehabt haben.  
  {Sp. 1414}  
  Die neuen Historici widersprechen sich selbst allzu offte, als daß man auf ihrem Bericht fußen könnte. Man hat sonderlich hier die Prahlerey der Spanier zu verachten, welche bey Entdeckung der neuen Welt, lauter Ungeheuer darinnen wolten angetroffen haben, da sich doch die Sache gantz anders ausgewiesen, wie sie denn z.E. ein Volck, da die Männer langer Haare auf den Haupte, aber wenig in Barthe haben, vor den Rest des Amazonischen ausgegeben. Die so genannten Histoires secretes scheinen mehr Romane, als wahrhafte Geschichts-Beschreibungen zu seyn.  
  Die Historie leitet uns auf die Chronologie, und wir finden bey den alten Griechischen Zeit-Rechnungen eben so viel Schwierigkeit als bey den Römischen. Bey den letztern muß man den Fleiß des Numä loben, den Unfleiß aber der Pontificum schelten, welche den Calender in solche Unordnung gerathen lassen, das zu Zeiten des Jul. Cäsaris der Winter im Herbst u.s.f. eingefallen. Cäsar brachte die Zeit-Rechnung mit Hülffe des Sosigenes wieder in Ordnung, muste aber um in die Schnurre zu kommen, ein Jahr von 15 Monaten machen, welches man dieserhalben annum confusionis genennet; und dennoch war zu Zeiten Pabst Gregorii XIII das Jahr nach dem Sonnen-Lauff um 10 Tage unrichtig, wiewohl dieses Pabsts Calender vielen Tadeln unterworffen gewesen und daher der alte und neue Stilus gekommen. Unter den neuern Chronologisten haben Scaliger und Petavius viel Streit gehabt, und beyde seynd endlich von dem Pagi gleiches Irrthums beschuldiget worden. Endlich muß man auch die Zeit-Rechnung die man aus Müntzen herleitet, tadeln, und kan man weisen, was sich hierbey vor Ungewißheit mit eingemischet, wenn man sich insonderheit auf Harduins Exempel berufft, der durch Müntze alle Historische Wahrheit hat umstossen wollen.  
  Bey der Geographie ist zu mercken, daß der Alten ihre sich nicht weiter als bis an die Meer-Enge Gibraltar erstrecke und daß sie diejenigen Länder deren Lage ihnen unwissend gewesen, mit dem Nahmen Indiens bezeichnet; bis endlich Strabo zu erst diese Fehler angemerckt. Ptolemäus weil er Mathesin verstanden, ist zwar noch weiter gekommen, hat aber dennoch die gröbsten Fehler begangen, da er zum Exempel: Scandinaviam vor eine gantz kleine Insul gehalten, da es doch vielmehr eine grosse Halb-Insul ist. Die neuen haben zwar durch Entdeckung West-Indiens einen grossen Vortheil vor den Alten, es ist aber doch noch mehr als der vierte Theil von der Welt-Kugel gegen Süden noch unentdeckt, und wegen der Longitudinem noch grosser Zweiffel.  
  Was das Römische Recht anbetrifft, so kan man zeigen, daß unter den LL. XII. Tab. von welchen uns doch nur einige Stücke übrig geblieben, viele unbillige Satzungen  
  {Sp. 1415|S. 721}  
  geweßt. Z.E. daß die Glaubiger befugt waren ihren Schuldner in Mangel der Zahlung zuzerschneiden und sich in die Stücken zu theilen. Bey dem weltlichen Recht kan man wahrnehmen, daß Justinianus nach dem Zeugniß des Svidä nichts weniger als ein gelehrter Fürst gewesen, indem er nicht einmahl das Alphabet recht gekonnt. An Triboniano ist zu tadeln, wo nicht die Betrüglichkeit, doch die Unachtsamkeit, und allzu grosse Übereilung bey einem so wichtigen Wercke. In den Pandecten sind viel unnütze Grillen eingeschlossen, die im menschlichen Leben keinen Nutzen schaffen können. In dem Codice, kan man deutlich sehen, wie Tribonianus die Verordnungen der vorhergehenden Kayser verfälscht hat, und ist kein Zweifel, daß wir dieses auch würden an den Digestis bemercken, wenn wir nur die Schrifften der alten Rechtsgelehrten noch hätten. Der Codex Theodosianus scheinet besser zu seyn, und man kan muthmassen, es würde auch bey dessen Beobachtung das Justinianische Recht wieder verlohren gegangen seyn, wo es nicht zu Pisa und Florentz aufgehoben gewest, und hernach unter dem Lothario wieder hervor gesucht worden. Die Glosse des Accursii scheinet allzu elend und die Entschuldigung: Graeca sunt non intelligio, allzu aufrichtig. Des Bartoli Axioma: De verbis non curat JCtus kan uns noch weniger gefallen. Ob man ihn also gleich den Titul eines Gelehrten absprechen muß, so kan man ihn doch vor einen guten Rechtsgelehrten gelten lassen: Wiewohl einige hier einwenden werden, daß dieses letztere ohne daß erstere schwerlich seyn könne. Alciatus, Cujacius und Budäus haben, weil sie mehr die schönen Wissenschafften verstanden, auch mehr leisten können, als ihre Vorgänger, und sind dahero zwar wohl vor gelehret, aber nicht vor Rechtsgelehrte zu halten.  
  Kurtz, ob man gleich alle Hochachtung vor die Römischen Rechte hat, so ist doch solches durch die Chiquane und Unwissenheit seiner Ausleger so verderbt, daß es den Italiänern nicht vor übel zu halten, wenn sie es vor nicht allzu langer Zeit mit unter die drey grossen Übel gerechnet, um deren Abwendung sie täglich beteten, und also das et caetera der Notarien, der Raserey der Bauern und den Glücksgriffen der Mediciner an die Seite gesetzet.  
  Bey dem Geistlichen Recht muß man sich über die Unwissenheit des Gratians verwundern, welcher öffters ein Concilium vor einen Patrem, ja wohl gar einen Ketzer als einen Kirchen-Lehrer angeführet. Diese Unwissenheit war schuld, daß er so wenig Gunst vor die Studien hegte, wie er denn den Geistlichen überhaupt die Lesung heydnischer Scribenten untersagt. Die Stelle in der 34 Distinct. Ne quis ob Concubinatum a Communione repellatur, ist nicht weniger zu tadeln, wie solche denn auch vom Luthero bey Verbrennung des Päbstlichen Rechts vorgeschützt worden. In den Decretalibus wird die unumschränckte Gewalt des Pabsts vollends bekräfftiget, weswegen sie auch von den Frantzosen, welche solche wegen der Freyheit ih-  
  {Sp. 1416}  
  rer Kirche nicht vortragen können, meists verworffen worden.  
  Was die Medicin betrifft, so ist zu bemercken, daß solche vor den Zeiten des Hippocratis, nur von dem Marcktschreyern getrieben worden, bis sie Hippocrates in förmliche Regeln gebracht, weswegen ihn denn die Alten, sonderlich Macrobius vor gantz unbetrüglich gehalten, welches sich doch in den neuern Zeiten gantz anders gewiesen. Galenus hat seines Vorfahrens Meynung in den meisten gefolget, nur daß dieser allzu weitläufftig, Hippocrates aber allzu kurtz ist. Paracelsus, welcher die principia Chymica aufgebracht, und mit Verachtung der Alten gleichsam die Unsterblichkeit versprochen, ist selbst in der Helffte seiner Jahre gestorben, da es hingegen Galenus über 100 Jahr gebracht, daraus zu muthmassen, daß die Chymischen Artzeneyen zwar geschwinde Würckungen haben, aber auch desto gefährlicher seyn.  
  Bey den Chinesern soll die Medicin in grossen Werthe stehn, wie denn der König Chiohamti, da er alle Bücher in seinem Reiche verbrennen ließ, dennoch die Medicinischen davon ausgenommen. Jedoch die Unwissenheit in der Medicin hat gemacht, daß sich dieses Volck seiner Wissenschafft nicht sonderlich gebrauchen können. Doch scheinet auch die Anatomie überhaupt eine sehr ungewisse Sache zu seyn, weil eben ein so vielfältiger Unterscheid, unter den innerlichen, als den äusserlichen Gliedmassen des Menschen ist, daher leichtlich zu schliessen, daß keine eintzige Disciplin so unsicher ist als die Medicin.  
  Bey der Arte Critica finden einige zu erinnern, daß dieselbe heut zu Tage meists in Kleinigkeiten bestehet. Zu Erasmi Zeiten ist es ein anders gewesen, denn der hatte wegen der Unwissenheit der vorigen Zeiten genug auszumisten, aber jetzund werden aus den Criticis Grammatici. Von der Betrüglichkeit dieser Wissenschafft zeigen die Exempel des Herrn Clerici und Simons.  
  Kömmt man auf die Schrifften der Jüden und Araber, so bemerckt man bey den ersten, daß ihr ausgegebenes Alterthum eine Unwahrheit ist. Von ihrem Talmud findet man, wie Mornäus geglaubt, nicht ältere Zeugnisse, als von den Zeiten Justiniani, da der Misna in der 146 Nov. gedacht wird, die andern Bücher derselben müssen folglich noch jünger seyn, und über dieses würde einem die Mühe schlecht belohnet werden, wenn man ihre mühsamen Possen mit grossen Kopff-brechen durchstudiren wolte. Was ihre Rabbinen noch etwan gescheites haben, das ist entweder von der Philosophie oder von den Arabern entlehnet, diese aber hätten ihre Künste den Griechen abgelernt, als sie die Provintzen dieses Kayserthums überschwemmet. Das, was die Araber noch am besten getrieben haben, ist die Medicin und Philosophie. Ihre Historie hingegen ist fabelhafft, und ihre Geographie abgeschmackt.  
  Bey der Theologia Scholastica bemer-  
  {Sp. 1417|S. 722}  
  cket man, daß die Erfinder derselben kein Griechisch verstanden, und also weder den Aristotelem, noch die Patres, aus welchen sie doch seltsamer Weise ein Systema zusammen geflickt, recht eingesehen, sonst würden sie wahrgenommen haben, daß die Lehren der Patrum, welches Platonici gewest, sich schwerlich zu den Grundsätzen des Aristotelis schickten. Die allzugrosse Spitzfindigkeit, welche sie recht mit Fleiß angenommen, hat sie unverständlich gemacht, und ist darnach zu denen meisten Ketzereyen in der Kirche Anlaß gegeben worden. Doch sind Thomas und Peter Lombard noch vor die deutlichsten unter den Theologis Scholasticis zu halten.  
  Aus diesem hier angeführten nun ist wohl der Haupt-Endzweck und beste Rath dieser, daß man andere Wissenschafften, so unvollkommen sie auch sind, zwar lernen, aber doch selbe zu desto besserer Verstehung der Heil. Schrifft, als der allervollkommensten Wissenschafft, anwenden, und sie unter diese setzen soll.
  • Traite de l'Incertitude des sciences. Amsterdam 1715 in 12.
  • Deutsche Acta Erudit. 34 Theil, p. 749 u.ff.
     

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Stand: 24. August 2016 © Hans-Walter Pries