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Zedler: Zufriedenheit [2] HIS-Data
5028-63-1115-4-02
Titel: Zufriedenheit [2]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 63 Sp. 1123
Jahr: 1750
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 63 S. 575
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Übersicht
VI. Mittel, die Zufriedenheit zu erlangen.
 
(1) Die gemeinen Mittel zur Zufriedenheit.
 
(a) Die allgemeine Klugheit, als das erstere gemeine Mittel zur Zufriedenheit.
(b) Die Tugend oder Gerechtigkeit, als das zweyte gemeine Mittel zur Zufriedenheit.

  Text Quellenangaben und Anmerkungen
  VI. Mittel, die Zufriedenheit zu erlangen.  
  Die Mittel der Zufriedenheit sind zweyerley:  
  1) Gemeine, das ist, welche nicht allein zu Erlangung des höchsten Gutes, eines eintzelen Menschen, sondern auch zu Erlangung des entgegen gesetzten höchsten Gutes der Gesellschafft der Menschen dienen; und  
  2) Eigene, welche nur allein zu der Zufriedenheit gehören.  
  Derer gemeinen sind zwey, nehmlich die allgemeine Klugheit, und die Tugend oder Gerechtigkeit. Derer eigenen findet man überhaupt nur dreye, als  
  1) den rechten Gebrauch der Furcht und Hoffnung;  
  2) Die Vergleichung des Guten und Bösen; und  
  3) den Vorschmack der Seeligkeit.  
     
  (1) Die gemeinen Mittel zur Zufriedenheit.  
  Was wir gemeine Mittel zur Zufriedenheit nennen, ist bereits in dem vorhergehenden angezeiget, und zugleich angemercket worden, daß derselben nur zweye seyn, nehmlich  
  1) die allgemeine Klugheit, und  
  2) die Tugend oder Gerechtigkeit, nehmlich weil bey jeder Begebenheit viele Lust und Unlust in  
  {Sp. 1124}  
  der Welt sich zutragen, so sind Klugheit und Tugend zwey hinlängliche Mittel, damit, wenn nicht etwa GOtt der HErr mit einem Menschen was sonderliches vor hat, man Lust und Unlust vergleichen kan.  
  Darum kan niemand ohne Klugheit und Tugend die Zufriedenheit erlangen. Denn er hätte entweder durch des Glücks wunderbahren Eigensinn, auch ohne Klugheit und Tugend, mehr Lust als andere Menschen, so würde er ohne Tugend damit nicht zufrieden seyn, sondern Glückseeligkeit haben wollen, welche vergebliche Begierde auch die Zufriedenheit verhindern würde; oder wenn ihn das Glück nicht ohngemein beystünde, müste er nothwendig mehr Unlust als Lust haben.  
  Denn er hätte vors erste alle der Lust wesentliche Unlust, hernach so müsten auch Thorheit und Boßheit dieselbe häuffen: Also hätte er nicht allein mehr Unlust als Lust, sondern er auch mehr Unlust als ein Mensch nothwendig haben muß.  
  Wollte er nun gleich mit sothaner mehren Unlust zufrieden seyn, so wäre es doch eine närrische Zufriedenheit, weil sie eine Übereinstimmung wäre mit seinem thörichten Willen, durch welchen er sich diese vergebliche Unlust zuwege gebracht.  
  Wenn aber ein vernünfftiger und Christlicher Mensch alle Klugheit und Tugend angewendet, Lust zu erhalten und Unlust zu vermeiden, und dieser findet sich, nach GOttes Willen, doch noch mehr, so ist er billig damit vergnügt, weil diese Zufriedenheit eine Übereinstimmung ist mit dem göttlichen Willen, und dieser entweder vor sich selbst, das ist, also zu reden vor die Gottheit selbst, etwas suchet, so ist ein jedweder billig erfreuet ein Werckzeug GOttes zu seyn; oder er suchet damit etwas das zu unsern eignen Nutzen und Seeligkeit gereichet, so hat ein jedweder auch Ursache, dieses sich gefallen zu lassen.  
     
  (a) Die allgemeine Klugheit, als das erstere gemeine Mittel zur Zufriedenheit.  
  Obwohl der allweise GOtt Lust und Unlust in allen Sachen dieser Zeitlichkeit also gemischet, daß sie beyderseits an und vor sich selbst einander ziemlich gleich kommen, so kan doch Thorheit und Boßheit, wenn man das Gute nicht zu nutzen und zu vermindern weiß, hingegen das Böse toller Weise häuffet, den Menschen, der da könnte in Zufriedenheit leben, in wahrhafftes Elend stürtzen. Darum muß man wissen, derer Dinge dieser Zeitlichkeit Gutes und Böses zu nutzen, jenes zu vermehren, dieses zu vermindern.  
  Die Geschicklichkeit solches zu thun, heist die Klugheit. Denn die Mittel der Zufriedenheit gehören überhaupt alle zur Klugheit, so gar, daß auch die Gerechtigkeit oder Tugend selbst, welche sonst der Klugheit entgegen gesetzet werden, soferne sie die Zufriedenheit mit befördern, vor Arten der Klugheit, in diesem Absehen zu achten.  
  Weil demnach die Klugheit eine Geschicklichkeit der Mittel ist, die zu einem vernünfftigen Zwecke erfordert werden, und drey solche Haupt-Zwecke, Zufriedenheit, Freundschafft und Seeligkeit, wie oben erwiesen, sind, so sind auch so viel Arten der Klugheit, davon die erste, welche Zufriedenheit suchet, die Vergnügnis- Klugheit, Prudentia ethica; die andere, welche unter denen Unterthanen Freundschafft einzuführen, oder sie doch vor Feindschafft und feindseligen  
  {Sp. 1125|S. 576}  
  Thaten zu bewahren, bemühet ist, die Staats-Klugheit, Prudentia politica; Die dritte, welche zur ewigen Seeligkeit anweisen, davon die Vernunfft keine hinlängliche Mittel, sondern nur die Christliche Lehre solches zu zeigen weiß, die Christliche Klugheit, Prudentia Christiana, genennet werden.  
  Es ist aber auch eine allgemeine Klugheit, welche so wohl zu Erhaltung der Zufriedenheit, als Freundschafft, ja auch einiger massen der Seeligkeit, kan gebrauchet werden, und weil sie am meisten in dem Umgange mit andern Menschen zu gebrauchen ist, so hat man sie insgemein Prudentiam conversandi genennet, man kan im Deutschen das Wort der allgemeinen Klugheit behalten.  
  Jetzt wollen wir von der allgemeinen Klugheit reden, und zwar weil sie, allhier eingerücket zu werden, allzu weitläufftig ist, nur überhaupt anzeigen, aus was vor Lehren sie bestehe. Nehmlich die Allgemeine Klugheit bestehet darinne, daß man wisse, derjenigen Dinge, die in dieser Zeitlichkeit uns vorkommen, Annehmlichkeit zu geniessen, und zu vermehren; die Verdrießlichkeit aber loß zu werden, oder zu vermindern. Zu diesem Zweck dienet, daß man die Vernunfft-Lehre sich wohl bekannt mache. Es sind aber hier vornehmlich zu diesem Zweck drey Lehren nöthig:  
  1) Die Lehre von den Kräfften und deren Würckungen richtige Gedancken zu haben (ratiocinatio causalis);  
  2) Die Lehre, Mittel und Absichten wohl zu überlegen (ratiocinatio practica); und  
  3) die Lehre von der Wahrscheinlichkeit.  
  Die Haupt-Regel der Lehre von den Kräfften und deren Würckungen richtige Gedancken zu haben (Ratiocinatione causali) ist, daß man sich bey allen, auch den kleinesten Begebenheiten die Kräffte der Dinge (nehmlich in natürlichen Sachen die würckenden Ursachen, und in sittlichen Dingen die Endzwecke) wohl zu erkennen bemühe, und was von ihnen, wenn sie hier und dar angebracht werden, vor Würckungen erfolgen, zu betrachten angewöhne. Denn ohne dieses kan man von den Mitteln, welche allezeit solche Kräffte sind, nicht urtheilen, ob sie uns die Absichten zubringen werden oder nicht.  
  Wer hierinne wohl geübet ist, hat in der Lehre, Mittel und Absichten wohl zu überlegen (ratiocinatione practica) einen ungemeinen Vortheil vor denenjenigen, so diese Geschicklichkeit nicht haben: jedoch kan er hier noch nicht völlig zu rechte kommen, wenn er nicht auch weiß, wie er Mittel erfinden soll. Davon kan folgende Haupt-Regel zur Nachricht dienen:  
  „Man stelle sich seine Absicht als eine künfftige Würckung vor, und bemühe sich, alle Kräffte, von welchen diese Würckung könnte hervorgebracht werden, auszudencken, so werden ihm in vielen Begebenheiten derselben eine grosse Menge beyfallen: unter diesen sehe er, welche Krafft oder Kräffte (: Denn bißweilen wird mehr als eine erfordert:) in seiner Gewalt sind, und dieselben gebrauche er, um seinen Zweck zu erhalten.  
  Ist keine zu finden, die in seiner Gewalt sey, so nehme er eine davon, die er vor sich die leichteste zu seyn erachtet, und sehe sie von neuem als eine Absicht an, darzu er, nur gemeldeter massen, wiederum sich  
  {Sp. 1126}  
  so lange Kräffte ausdencke, bis er einige gefunden, die er zu Erhaltung seines Zwecks anzuwenden fähig ist. Solte sich noch keine dergleichen finden, so nehme er, zum andernmahl, die leichteste heraus, und verfahre wie zuvor, und lasse sich nicht verdriessen, wenn er auch zum dritten, vierdten und fünfften mahl, ansetzen solte.  
  „Er vergesse aber die Verbindung dieser unterschiedenen Absichten nicht, damit wenn er Z.E. Bey den fünften Versuch seinen Zweck erhalten, er hernachmahls durch denselben den vierdten, durch diesen den dritten, und so ferner den andern und ersten erlange. Auf solche Art erhält man offt den Zweck, der uns anfänglich ohnmöglich zu seyn schiene.  
  Was endlich die Lehre von der Wahrscheinlichkeit betrifft, so lese man, was der berühmte Herr D. August Friedrich Müller in des Gracians Oracul hier und da eingestreuet.  
  Und so viel muß man zu der allgemeinen Klugheit aus der Vernunfft-Lehre nicht allein wissen, sondern auch in guter Übung haben. Weil man aber seine meiste Lust und Unlust in dieser Welt von Menschen hat, und deren Kräffte ursprünglich von Verstand und Willen entstehen, so muß man auch diesen Ursprung wohl kennen lernen: Das ist, man muß von dem, mit welchem man zu thun hat, und von dem man klüglich Lust erhalten, und Unlust vermeiden will, wissen, wie die Kräffte seines Verstandes sich verhalten, ob die Urtheilungs-Krafft, oder Erinnerungs-Krafft, oder Dichtungs- Krafft bey ihm die stärckste sey: Denn nach der stärcksten ist er am besten zu gebrauchen, und am meisten zu fürchten. Ferner, wie die Kräffte seines Willens beschaffen sind, ob der Geldgeitz regieret, oder Ehrgeitz, oder Wollust: Denn nach der herrschenden Gemüths-Neigung wird ein jedweder am leichtesten im Bewegung gesetzet. Man sehe Thomasii Sitten- Lehre.
  Und dieses muß man wissen, ehe man die allgemeine Klugheit verstehen, und nach derselben Annehmlichkeit gewinnen und Verdrüßlichkeit vermeiden kan.  
  Nun solten wir diese allgemeine Klugheit selbst zeigen; wegen der Menge aber ihrer merckwürdigen Regel müssen wir unsern Leser auf des Gracians Oracul verweisen, so wie es oben gelobter Hr. D. Müller übersetzet hat, und zwar die Regeln oder Maximen  
  1) von der Klugheit, Verstand und Willen wohl zu gebrauchen,  
  2) von der Klugheit, wieder die wollüstige Gütigkeit,  
  3) von der Klugheit wider die Ehrsucht,  
  4) von der Klugheit wider die Geldsucht,  
  5) von der Klugheit, mit ehrsüchtigen, wollüstigen und geldgeitzigen Gemüthern wohl umzugehen,  
  6) von der Klugheit des Glücks, u.s.w.  
  Siehe übrigens den Artickel: Klugheit, im XV Bande, p. 981 u.ff.  
     
  (b) Die Tugend oder Gerechtigkeit, als das zweyte gemeine Mittel zur Zufriedenheit.  
  Das Wort Gerechtigkeit wird in zweyerley Verstande genommen, indem es entweder eine Fertigkeit, (Gewohnheit) bedeutet, dasjenige, was GOtt von uns vor sich selbst, und vor unsre Neben-Menschen for-  
  {Sp. 1127|S. 577}  
  dert, also zu thun, daß das geringste nicht ermangele: In diesem Verstande ist die Gerechtigkeit mehr zu wünschen, als hier in diesem Leben, unter denen Menschen zu finden; oder es wird gedachtes Wort vor eine Gewohnheit göttlichen Willen, so viel es möglich, nach zuleben, ob wohl immer noch einige Schwachheit-Sünden begangen werden, genommen; In dieser andern Bedeutung, ist es ein mit der Tugend gleichgültiges Wort, und also nehmen wir es allhier, indem wir es nicht ausdrücklich der Gottseeligkeit entgegen setzen, da es denn nur die Gerechtigkeit gegen die Menschen bedeutet.  
  Die Tugend thut vornehmlich drey Würckungen,  
  1) machet sie uns bey GOtt einiger massen angenehm, und bereitet uns also zu, daß wir von GOtt, (aus Gnaden durch Christum) der ewigen Seeligkeit theilhafftig gemachet werden können, wovon unser Christenthum ein mehrers lehret:  
  2) machet sie Friede in unserm Hertzen, indem sie den Streit der sich widerstrebenden Gemüths-Bewegungen tilget, und uns solchergestalt einen Theil der Zufriedenheit bringet, welchen kein ander Mittel geben kan:  
  3) macht sie Freundschafft unter denen Menschen, und hebet die Feindschafft auf:  
  Und wenn sie könnte in aller Menschen Hertzen eingebracht werden, wäre sie allein schon ein zulängliches Mittel der Zufriedenheit; Da dieses aber nicht ist, so würcket doch deren Befliessenheit unter denen Menschen gar sehr viel Gutes, und verhindert eben so viel Böses, wodurch denn die Menschen desto eher die Zufriedenheit ihrer Gemüther erlangen können.  
  Die sich gelassene Vernunfft bedienet sich, zu der Erlangung der Tugend, zweyer Veränderungen:  
  1) Des Verstandes, welcher von der Gerechtigkeit muß besser unterrichtet werden, denn was seine aufgewachsene Art vor Recht und Unrecht hält, ist es gar offt am allerwenigsten; und  
  2) des Willens, dessen Gemüths-Bewegungen gemäßiget, und denen Gesetzen der Gerechtigkeit müssen unterworffen werden.  
  Sodann äussert sich erst die Tugend, und bringet uns die zwey vortreffliche Würckungen, des Friedens mit uns, und des Friedens mit andern Menschen, ja auch mit GOtt: Jedoch zeiget unsere Christliche Lehre, daß zu diesem letzten Zweck die Tugend allein nicht hinlänglich sey.  
  Zu der Veränderung des Verstandes gehöret erstlich, was wir oben von der Vernunfft-Lehre angeführet haben; ferner eine genaue Erkenntnis des Rechts der Natur, damit man erst gründlich verstehen lerne, was würcklich recht und unrecht sey.  
  Die Veränderung des Willens kommet nicht darauf an, daß man, wie vor Zeiten die Stoicker und Platonicker wolten, die Gemüths-Bewegungen gar dämpffe und austilge, sondern, wie ein alter Pythagoreer Archytas schon vor jenen gar wohl erkennet, daß man sie mäßige.  
  Ein jeder siehet demnach wohl, wenn wir jetzo den rechten Gebrauch der Begierden zeigen wollen, was wir verstehen, nehmlich wir wollen weisen, nicht allein, wie man die Gemüths- Neigungen, und Gemüths-Bewegungen, sondern auch die natürlichen Begierden gerecht und klüglich regieren solle: gerecht, daß man sich an GOtt und seinen  
  {Sp. 1128}  
  Neben-Menschen nicht versundige; klüglich, daß man sich an seinem höchsten Gut in dieser Welt selbst nicht hinderlich seye.  
  Um nun den rechten Gebrauch der Begierden zu erkennen, müssen wir vor allen Dingen den Unterscheid wohl beobachten, daß zu einigen guten Thaten derer Menschen vornehmlich ein guter Wille, und muntere Bewegung derer Glieder erfordert werden; zu andern aber nur Verstand, Worte und Feder. Denn ob diese zwey letzteren zwar auch Bewegungen der Glieder sind, so bestehet doch ihre Vortrefflichkeit nicht, wie jener ihre, in Kräfften des Leibes, sondern in der Richtigkeit, so von Verstand kommet.  
  Bey der ersten Art können auch die hefftigsten Gemüths-Bewegungen nicht leicht schaden, denn je hefftiger sie sind, je thätiger machen sie den Willen und die Glieder: Allein bey der andern Art verdüstert eine allzuhefftige Gemüths-Bewegung den Verstand, und bringet offt unvernünfftige Worte in Mund und Feder.  
  Nun es nicht zu leugnen, daß uns die Natur zwar Triebe, aber keine Gemüths-Bewegungen gegeben (denn was wir etwan von Ehrgeitz, Geldgeitz und Wollust mit auf die Welt bringen, kommet nicht von der Natur, sondern von der Verderbniß); jedoch ist daraus keinesweges zu erfolgern, daß gedachte Gemüths-Bewegungen deßhalben zu verwerffen wären: Weil, ob sie wohl von GOtt und der Natur nicht gegeben sind, so sind doch die Triebe darzu gegeben, daß wir darnach handeln und thun, und durch öffters Thun uns gute Fertigkeiten, oder Gewohnheiten, zuwege bringen sollen.  
  Darum, wenn auch gleich die Gemüths-Bewegungen entweder hefftig, oder zur Gewohnheit worden sind, muß man doch deswegen nicht glauben, daß sie der Natur zuwider sind, so ferne sie hefftig und gewöhnlich sind, sondern nur so ferne sie den zu Ausführung einer Sache nöthigen Verstand hindern, oder auf unrechte oder thörichte Absichten gehen, oder nach ihrer Natur den Absichten selbst zu wider sind.  
  Zum rechten Gebrauch der natürlichen Triebe muß man wissen, daß deren zwey Arten sind: thierische, so nur auf den Leib gerichtet sind, und die wir deswegen mit den unvernünfftigen Thieren gemein haben; und menschliche, die dem menschlichen Geschlecht allein zukommen.  
  Jene gehen entweder auf die Erhaltung eines jeden insonderheit: Dahin gehöret  
  (1) die uns mit den Thieren gemeine Eigenliebe;  
  oder sie sind zur Erhaltung des Geschlechts gegeben, und deren sind zweye, als  
  (2) die Begierde der Fortpflantzung (libido), und  
  (3) die Begierde der Auferziehung (storgē).  
  Zu der Eigenliebe sind noch zwey Triebe zu rechnen, als die Begierde desjenigen, was dem Leibe angenehm ist (prosecutio grati), und Abscheu dessen, was ihm verdrüßlich ist: Zu den erstern gehöret unter andern mit, die Begierde zu essen, zu trincken, und zu schlaffen. Und dieses alles sind natürliche thierische Triebe.  
  Derer menschlichen sind dreye:  
  In Ansehung des Verstandes (4) die Begierde der Wahrheit;  
  in Ansehung des Willens (5) die Begierde der Glückseligkeit;  
  und in An-  
  {Sp. 1129|S. 578}  
  sehen der menschlichen Gesellschafft (6) die Menschen-Liebe, woraus die Begierde in Gesellschafft zu leben, fliesset.  
  Die göttlichen Absichten sind hierbey, in Ansehen der ersten die Erkenntniß der Wahrheit, in Ansehen der andern die ewige Seligkeit, und denn bey der dritten die Freundschafft, als das höchste Gut menschlicher Gesellschafft. Hieraus siehet man, was GOtt und die Natur dem Menschen gegeben, und was der Mensch an sich selbst zu thun habe. Nehmlich die Natur hat Kräffte und Triebe gegeben, und keine Fertigkeiten (habitus), sondern dem Menschen kommet es zu, aus besagten Kräfften und Trieben Fertigkeiten zu machen.  
  Dieser Grund-Satz weiset uns nicht allein den rechten Gebrauch der Begierden, sondern hebet auch eine sonst wichtige Schwierigkeit, nach welcher man, da man gesehen, daß die bösen Begierden mit dem Menschen gebohren werden, in Sorge gestanden, daß GOtt, unser aller Vater und Schöpffer, schiene gedachte Begierden uns gegeben zu haben, und also eine Ursach der Sünden zu seyn. Und ob man wohl sonst auf allerhand Art diesen Zweiffel zu beantworten suchet, so wird doch vielleicht keine Antwort das Gemüth so von aller Sorge befreyen, als wenn wir durch unsern Grund-Satz versichert werden, GOtt habe dem Menschen keine Fertigkeiten (habitus) gegeben; sondern nur Triebe, und folglich alle Fertigkeiten ein Menschen-Werck und nicht ein Werck Gottes sind.  
  Es wird aber ein Trieb eine Fertigkeit, wenn er sich in eine Gemüths-Bewegung verwandelt; in diese aber wird er verwandelt, wenn er durch guten oder übeln Gebrauch der Vernunfft auf gewisse Mittel fällt, und denselben nachtrachtet: Endlich wird die Gemüths-Bewegung durch offt wiederhohlten Gebrauch zur Gewohnheit, welche Gewohnheit den Nahmen der Fertigkeit eigentlich führet.  
  Es muß aber bey Auferziehung eines Menschen hauptsächlich darauf gesehen werden, daß derselbe aus denen oben angegebenen sechs Trieben zweyerley Fertigkeiten erlange: Eine Fertigkeit der Klugheit, da er auf die, bey vernünfftiger Stillung der Triebe von GOtt beygefügte Lust siehet; und ferner eine Fertigkeit der Gerechtigkeit, da er der Triebe göttlichen Zweck vor Augen hat, und darnach handelt, es mag ihm solche Handlung Lust oder Unlust bringen. Denn ob es wohl eine Stoische Thorheit wäre, die Lust zu verachten, so muß sie doch, so offt sie mit der Tugend nicht bestehen kan, derselben aufgeopffert werden. Und weil durch den Fall des ersten Menschen aus denen Trieben Eitelkeiten worden sind; bey solchen Eitelkeiten aber der Mensch ohnmöglich zur Zufriedenheit gelangen kan: So muß man solche auszutilgen um so mehr bemühet seyn.  
  Derer meisten Gelehrten vorgeschlagene Mittel zur Austilgung gedachter Eitelkeiten kommen darauf hinaus, daß man durch die Krafft der Vernunfft denen Würcklichkeiten gedachter Begierden widerstehe, und ihre böse Fertigkeiten dadurch austilge. Allein dieser Vorschlag und Rath ist eben so, als wenn man einem riethe, daß er mit einem Thee-Köpffgen voll Wasser eine Feuers-Brunst löschen möge.  
  Es ist nehmlich die arme Vernunfft viel zu schwach, daß sie der  
  {Sp. 1130}  
  so grossen Hefftigkeit gedachter Gemüths-Bewegung widerstehen könnte. Es ist aber allzu gewiß, daß eine schwächere Krafft eine stärckere nicht überwinden kan. Darum zeiget uns unsere Religion mehr als natürliche Kräffte. Weil wir aber in diesem Artickel nur von den Kräfften der Vernunfft reden, und zu Regierung der Gemüths-Neigung gleich starcke Kräffte haben müssen; so können wir solche nirgends als in denen Gemüths-Neigungen selbst finden. Denn bey dem Unglück dieser Fertigkeiten findet sich dieses Glück, daß eine Gemüths-Neigung der andern widerstrebet, und eine also durch die andere gemäßiget, und regieret werden kan.  
  Nun sind zwar diejenigen, so allgemeine Fertigkeiten sind, überhaupt entweder böse oder eitel, daß also eine böse mit der andern zu vertreiben, ein schlechter Vortheil zu seyn scheinet; aber nur unter denen eiteln sind etliche Schein-Tugenden, oder Tugend-Ähnlichkeiten (simulacra virtutum) welche in der Sache selbst, auf welche sie gehen, wenig, und offt keinen Fehler haben, nur sind sie eitel in Ansehen der Absicht, welche nicht Tugend, sondern Eitelkeit ist. Also die unbedachtsame Wäscherey der Wollust wird zurück gehalten von der Verschwiegenheit des Ehr- und Geld-Geitzes; diese, ob sie zwar eine Schein-Tugend ist, thut sie doch in vielen Begebenheiten gäntzlich einerley mit der Tugend selbst; aber in der Absicht bleiben die Geldgeitzige, Ehrgeitzige und tugendhaffte Verschwiegenheit unter einander allezeit unterschieden.  
  Wenn man demnach die uns angebohrne, und durch üble Auferziehung verstärckte eitele Gemüths-Neigungen wieder verlernen, und dadurch ein Mittel der Zufriedenheit sich erwerben will; so müssen dieselbe in tugendhaffte Fertigkeiten verwandelt werden.  
  Die Tugend aber muß zwey Richtigkeiten haben, eine Richtigkeit der Sache, auf welche man gehet, (bonitatem materialem) und die Richtigkeit der Absicht selbiger Sache, (bonitatem formalem). Die Vernunfft stellet uns zwar beyde vor, ist auch kräfftig genung, unser Gemüth, wo noch keine widerstrebende Fertigkeit, (in welchem glücklichen Zustande die ersten Menschen ohne Zweiffel gewesen) vorhanden, zu regieren; hingegen vermag sie wider eine sothane widrige Fertigkeit niemahls aufzukommen.  
  Von denen nur gedachten zwey Theilen der Tugend aber kan die Richtigkeit der Absicht zwar nirgend anders herkommen, als von der Vernunfft, die Richtigkeit aber der Sache selbst kan auch von andern Fertigkeiten des Gemüths erhalten werden. Nun haben Fertigkeiten gegen Fertigkeiten gleiche Krafft, oder können doch gleiche Krafft haben: Fertigkeiten, welche der Tugend ähnlich sind, das ist, welche die Richtigkeit der Sache, obwohl nicht der Absicht haben, werden von der Vernunfft verstärckt, darum überwinden sie, Krafft dieser Verstärkung, diejenige Fertigkeit, welche keine von denen zweyen Richtigkeiten der Tugend haben.  
  So hat nun der sich selbst gelassene Mensch kein ander Mittel, gedachte eitele Fertigkeit loß zu werden, als daß er dererselben Sache, worauf  
  {Sp. 1131|S. 579} [1]
[1] HIS-Data: Spaltenzahl korrigiert aus: 1031
  sie gehen, (materiale) durch Beyhülffe anderer Schein-Tugenden erst verbessere, (als die Plauderhafftigkeit der Wollust, durch die Verschwiegenheit des Ehr- und Geld-Geitzes), und also alle Eitelkeiten und Laster seiner bisherigen Fertigkeiten, in Schein-Tugenden verwandele (als an statt der Unbarmhertzigkeit eine von Ehr-Begierde und Wollust herrührende Barmhertzigkeit) und also ferner, verwandelt man alle Unart der vorigen Gemüths-Neigungen in dergleichen Schein-Tugenden.  
  Wenn nun dieses alles geschehen, so fehlet gedachten Schein-Tugenden, an dem, daß sie wahrhafftige Tugenden sind, nichts mehr, als noch die Richtigkeit der Absicht: Dieses ist ein Werck der Vernunfft und Erkenntnis, und wenn ein Mensch seine Pflicht wohl verstehet, so kan die Gemüths-Neigung die Erkenntnis der Vernunfft nur so wenig hindern, wie diese die Fertigkeiten des Gemüths, nehmlich sie richten zwar etwas gegen einander aus, aber sie überwinden nicht leicht; sondern die Erkenntnis einer nur ein wenig muntern Vernunfft verwirfft allezeit die Eitelkeit und Boßheit, aber sie kan sie nicht hindern; Darum können auch Eitelkeit und Boßheit selbst, bey eitel und boshafften Menschen, daß ihnen widrige Urtheil des Verstandes nicht ersticken.  
  Und also ist es hernach zwar nicht so leicht, jedoch auch nicht unmöglich, die Schein-Tugenden in wahrhafftige Tugenden zu verwandeln, und sich dadurch ein grosses Mittel der Klugheit und Gerechtigkeit, einfolglich auch der Zufriedenheit zu erwerben. Denn nunmehro stimmet Eitelkeit mit der Tugend, in Ansehen der Sache, darauf der Mensch gehet, überein, in Ansehung der Absicht, ist die Vernunfft mächtiger, als Eitelkeit, gleichwie diese, in Ansehung des Thuns mächtiger ist als die Vernunfft: Darum kan der Mensch auch sodann die Richtigkeit der Absicht, und folglich die wahre Tugend erlangen.  
     

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Stand: 8. April 2013 © Hans-Walter Pries