HIS-Data
Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-2-135-7
Erste Section > Zweiter Theil
Werk Bearb. ⇧ 2. Th.
Artikel: AFFECT
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
Siehe auch: HIS-Data Af
Hinweise: Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Bearbeitung
Inhalt:
⇦ Affe
Affectation ⇨

     
Forts. S. 135 Sp. 1 AFFECT (anthropologisch), heißt die Fähigkeit des Gemüths, eine solche Lust oder Unlust zu fühlen, welche das Subject derselben übereilt, (die Überlegung,
S. 135 Sp. 2 AFFECT
  ob es sich ihm überlassen soll, sehr schwer oder gar unmöglich macht); es heißt aber auch diese Lust oder Unlust selbst ein Affect. In der letztern Bedeutung sollte man dafür das Wort Gemüthsbewegung, so wie im Lateinischen nicht affectus, sondern perturbatio, commotio animi (pathos, psyche kinesis) gebrauchen. So ist z. B. die Furcht als Gemüthsfähigkeit ein Affekt, als Produkt der Einwirkung auf diese Gemüthsfähigkeit, eine Gemüthsbewegung, nämlich der Gemüthszustand des sich fürchtenden Menschen.♦
  Alle Menschen haben dieselben Affecten, aber nicht alle werden von den nämlichen Affecten öfters bewegt, sind ihnen allen unterworfen, und haben die nämlichen Gemüthsbewegungen. Der Affect ist die Naturanlage, welche die Gemüthsbewegung möglich macht, diese aber erschwert es dem Subject, sich nach Grundsätzen zu bestimmen und nach denselben zu handeln; denn dazu gehört Überlegung, und zu dieser ist das Gemüth, wenn es im Affect ist, d.i. die Gemüthsbewegung wirkt, nicht frei genug. Daher sagt man auch, der Mensch handelte im Affect, seine Gemüthsbewegung hatte Einfluß auf seine Handlung.
  Der Affect ist von der Leidenschaft wesentlich unterschieden, denn der erstere ist die Fähigkeit zu einem mit Begierde oder Verabscheuung verknüpften Gefühl, oder auch dieses Gefühl selbst, und ist, als Fähigkeit, in allen Menschen, die Leidenschaft aber ist ein herrschender Gemüthszustand, eine fortdauernde sinnliche Begierde; der Affect geht, als Gemüthsbewegung, vor der Überlegung her, und macht sie schwer oder gar unmöglich, macht daß das Subject desselben unbesonnen handelt; die Leidenschaft hingegen, wenn sie auch heftig ist, läßt dennoch ruhige Überlegung und Besonnenheit zu, nämlich ob und wie sie zu befriedigen sey, der Affect ist plötzlich und hält gemeiniglich nicht an, die Leidenschaft aber entsteht nach und nach, durch öftere Befriedigung der Neigung, so daß diese dadurch bleibend wird, und dann eben herrschende Neigung oder Leidenschaft heißt; der Affect ist stürmisch, oder er überrascht doch, und hebt die Gemüthsfassung wenigstens für einen Augenblick auf, die Leidenschaft läßt das Gemüth in Ruhe; der Affect (sagt Kantz Anthropol. S. 205. 1. Ausg.) wirkt wie ein Wasser, welches den Damm durchbricht, die Leidenschaft wie ein Strom; der sich immer tiefer eingräbt; der Affect wirkt auf die Gesundheit, wie ein Schlagfluß, die Leidenschaft wie die Schwindsucht oder Auszehrung; der Affect ist wie ein Rausch, den man ausschläft, obgleich Kopfweh darauf folgt, die Leidenschaft wie ein anhaltender Wahnsinn, an dem der Arzt lange heilen muß; Affecten sind ehrlich und offen, Leidenschaften hinterlistig und versteckt. Wo viel Affect ist, da ist gemeiniglich wenig Leidenschaft.♦
  Der Affect hat übrigens, wie jedes Gefühl, stets einen bestimmten Grad der Stärke, über und unter welchem größere oder kleinere möglich sind. In der Jugend sind die Affecten am stärksten, im Alter werden sie schwächer, weil dann der Eindruck auf die Organe minder lebhaft ist, auch die Reizbarkeit der Nerven und die Beweglichkeit im Organismus abnimmt.
  Die Gemüthsbewegung im Affect entsteht so wenig aus einer dunkeln und verworrenen Vorstellung des Gu-
S. 136 Sp. 1 AFFECT
  ten und Bösen, des Nützlichen und Schädlichen, als die Begierde; denn derjenige, welcher einem Affekt unterworfen ist, kann eine ganz richtige und deutliche Vorstellung des Werths des Gegenstandes haben, der ihn in Affect setzt. Nicht der Verstand, das Princip der Erkentniß, sondern die Überlegung, ein Act der Urtheilskraft, gehemmt. Den Affekten unterworfen seyn ist eine Krankheit des Gemüths, die aber ein Jeder in seiner Gewalt hat zu heilen, weil es sonst unmöglich seyn müßte sich zu bessern, oder die Herrschaft über den Affekt zu erlangen. Der Mensch soll aber in jedem gegebenen Falle seiner Meister seyn, d.h. seine Affecten im Zaum halten. Die Vernunft kann und soll die Affecten nicht ausrotten, aber sie fodert als Pflicht, und wir vermögen es folglich, uns auch im Affect zu fassen, und ihn nicht zum Meister über uns werden zu lassen.♦
  Sich den Affecten so überlassen, daß sie uns in vorkommenden Fällen übermannen, ist etwas Böses; der Gemüthszustand selbst aber, in welchem man sich alsdann befindet, ist mehr etwas Schwaches und Kindisches, als etwas Böses, dieser Zustand ist nämlich eine Schwäche im Gebrauch der Vernunft, welche aus Gewohnheit und ohne Überlegung der Gemüthsbewegung unterliegt. Man kann daher diesen Gemüthszustand, daß man ein Sklave der Affekten ist, nur eine Untugend, aber nicht eigentlich ein Laster nennen.
  Es gibt zweierlei Arten von Affekten, die des Gefühls der Lust, und die des Gefühls der Unlust. Beide Arten kann man wieder eintheilen nach ihrer Einwirkung auf die Lebenskraft, die sie entweder erregen und anspannen, oder erschöpfen und abspannen. Die erstern sind demnach sthenische, oder Affecten von der wackern Art, die letztern asthenische, oder Affecten von der schmelzenden Art. Der Zorn gehört zu den erstern, die Scham zu den letztern. Die sthenischen Affecten wirken nach außen, und sind stürmend, die asthenischen wirken nach innen, drücken, nagen und verzehren. Die ersten gehen aber eher vorüber.
  Es ist eine Aufgabe, die noch nicht gelöset ist, ein Princip aufzufinden, nach welchem alle Affecten vorstehender vier Arten könnten erschöpfend aufgezählt werden. Wir wissen die eigentliche Anzahl der Affecten immer noch nicht. Auch gibt es einfache oder Grundaffecten, und zusammengesetzte, oder abgeleitete. Allen Affecten möchten vielleicht vier Hauptaffecten zum Grunde liegen, so dass man alle übrigen nur als so viel Modificationen dieser vier Grundaffecten zu betrachten hat. Diese sind: Freude, Traurigkeit, Furcht und Hoffnung. Sie ergeben sich so: der Affect treibt das Subject an, entweder sich in seinem gegenwärtigen Zustand zu erhalten, oder ihn zu verlassen. Im erstern Falle heißt der Affect Freude, im letztern Traurigkeit; oder er treibt das Subject an, einen zukünftigen Zustand zu fliehen, oder zu suchen, d.i. er ist entweder Furcht oder Hoffnung. Alle Gefühle gehen nämlich auf den Zustand des Subjects.♦
  Der vergangene Zustand aber kann das Subject nur durch die Erinnerung in Affect setzen, entweder wenn es sich diesen Zustand als gegenwärtig denkt, dann erfüllt er dasselbe mit Freude oder Traurig-
S. 136 Sp. 2 AFFECT
  keit; oder wenn es sich denselben denkt, als er ihm noch bevorstand, und dann erweckt er im Subject Furcht oder Hoffnung. Folglich gibt es für das Vergangene keine besondern Affecten.
  Die Affecten haben einen großen Einfluß auf den Körper, sie wirken auf die Nerven, und dadurch auf das Herz und den Umlauf des Bluts, so daß sie denselben oft plötzlich hemmen oder schneller machen. Sie treiben oft das Blut ins Gesicht, oder machen daß das Subject erröthet, oder treiben es aus dem Gesicht und machen, daß es erblaßt. Die Organe werden empfindlicher, und das Subject wird entschlossener und thätiger. Zuweilen wirken sie so stark, daß der Mensch plötzlich stirbt, entweder durch Erstickung oder das Zerreißen eines der zum Leben unentbehrlichen innern Gefäße. Wie aber das Gemüth diese Einwirkung auf den Nerven hervorbringt, wird wol immer ein Geheimniß bleiben. Und eben so unbekannt ist es bis jetzt, wie der Nerve das Blut in Bewegung setzen kann. Im Zorn erblaßt oder erröthet man, der Schweiß bricht aus, besonders am Kopfe, die Muskeln schwellen an, das Gesicht und die Geberden ändern sich, jedoch nicht bei allen auf gleiche Weise. Schreck und Freude haben oft genug auf der Stelle getödtet.
  Die Affectlosigkeit, ohne daß dadurch die Stärke der Triebfedern zum Handeln vermindert wird, ist das Phlegma, im guten Sinne des Worts. Sie ist die Eigenschaft, sich durch die Stärke des Affects nichgt aus der Überlegung bringen zu lassen. Aber den Affect so in seiner Gewalt zu haben, daß man kaltblütig (ruhig) überlegen kann, ob man z. B. zürnen solle oder nicht, scheint ein Widerspruch zu seyn. Die Stoiker hatten dieses Princip der Apathie. Der Weise, meinten sie, sey niemals im Affect. Sie hatten recht, wenn der stoische Weise als Ideal der Moralität betrachtet wird. Da nun aber die Natur die Anlage zu den Gemüthsbewegungen (den Affect) eingepflanzt hat, so bringen wir es nie bis zu dieser erhabenen moralischen Apathie.♦
  Die Affectlosigkeit ist demnach eine bloße relative Beschaffenheit, sie kann nämlich nur in Vergleichung mit Andern Statt finden, und darin bestehen, daß ein Mensch weniger den Gemüthsbewegungen unterworfen ist, als viele andere Menschen. Die Affectlosigkeit ist entweder natürlich oder erworben. Im erstern Fall ist es eine Neigung zur Trägheit. Orientalische Völker, z. B. die Chinesen, sind, weil sie von Kindheit an dazu gewöhnt werden, sich zu mäßigen und zu beherrschen, ohne merkliche Gemüthsbewegungen: Zorn, Erbitterung, grimmige Entrüstung ist unter den Chinesen selten, besonders unter dem gemeinen Mann. Heftig ist der Chinese nie, er scheint daher langsam, kalt und phlegmatisch zu seyn, aber es fehlt ihm nicht an Munterkeit und natürlichem Feuer.
 
  Affecte hat die Diätetik zu betrachten, zuvörderst inwiefern man sich vor denselben zu hüten hat. Der Affecte überhaupt sich entäußern zu wollen, wäre ein zum eigenen verderben gereichendes Streben der Natur, denn durch sie wird ein höheres Aufschlagen der Lebensflamme bewirkt, Stockung und Fäulnis vom Leben abgehalten und dem selben Reiz und Kraft ertheilt. Die Diätetik rät nur,♦
  1) sich nicht einem Affect ausschließlich hinzugeben, denn dadurch erst wird jene Störung des
S. 137 Sp. 1 AFFECT
  Gleichgewichts, welche sonst augenblicklich uns dadurch eben wohlthätig ist, anhaltend;♦
  2) überhaupt nicht zu viel in Affectcn zu leben, sondern der zu großen Neigung zu denselben Grenzen zu setzen ; denn unter fortdauernden Affecten wird die Selbständigkeit des Willens vermindert, alles Wirken hastig, unsicher und schwankend, und das Leben aufgerieben.♦
  3) Zuträglicher für den Organismus sind die sogenannten erregenden Affecte, d.h. diejenigen mit kräftigem Selbstgefühl und daraus hervorgehender lebhafter Bestrebung, als die sogenannten niederschlagenden, welche bei beschränktem Selbstgefühle mehr in leidentlichen Empfindungen verharren, als Gegenwirkungen erregen, und die daher am Lebensmarke zehren. So ist Ärger verderblicher als Zorn, Groll verderblicher als Haß u. s. w.♦
  4) Es kommt ferner auf den Gegenstand des Affectes an: je mehr derselbe mit unserer wahren und höhern Natur übereinstimmt, desto mehr befördert der Affect die Einheit mit uns selbst, und desto wohlthätiger ist er in seinen Wirkungen: die Begeisterung für irgend einen höhern Zweck, für irgend eine Idee, ist ein Affect, der allein in den Stand setzt, Großes zu leisten. Affecte, die aus gemeiner Selbstsucht hervorgehn, und blos auf unsre sinnliche Natur sich beziehen, machen den Menschen einseitiger und sklavischer, wirken aber zu gleicher Zeit verderblicher, nagen mehr am Leben und verwüsten mehr das Gemüth. —♦
  Das allgemeine Verfahren aber, sich gegen Affecte zu sichern, besteht darin, a) daß man den Geist mehr bildet, Verstand und Vernunft mehr übt, damit die Gegenstände klar angeschaut werden, und nicht allein das Gefühl ergreifen; b) daß die thätige Kraft des Gemüths mehr gestärkt werde, damit der leidentlich empfangene Eindruck nicht übermächtig sey. —♦
  Was das Verhalten während des Affectes anlangt, so setzt jede diätetische Vorschrift hier voraus, daß man schon seine Selbständigkeit dagegen zu behaupten strebe.♦
  a) Das Wichtigste ist das Bewußtseyn des Affectes, und der feste Wille, in demselben uns treu, mit uns selbst einig zu bleiben, uns dem Affecte nicht unbedingt dahin zu geben, noch an ihn unsre Freiheit zu verlieren; denn solch ein höherer Grad desselben ist ein wirklich krankhafter Zustand. Aber nur ein höherer Gedanke kann des Affectes Meister werden; je mehr daher ein solcher herrschend wird, um so mehr ist die Sele in sich gegründet, um so mehr erhält sie ihren Gleichmuth bei Gegenständen von minderer Wichtigkeit, und um so mehr behauptet sie auch Besonnenheit im Affecte.♦
  b) Der plötzliche, unvorbereitete Eintritt eines sehr starken Affectes erschüttert den gesamten Organismus, oft zum Heil, oft zum Verderben. Wenn einem Menschen mit lebhaftem, reitzbarem Gefühl und geringer Kraft und Selbständigkeit ein starker Affect bevorsteht; so bereite man ihn dadurch vor, daß man ihn in die entsprechende gleiche Stimmung versetzt, und ihn das, was ihn erschüttern wird, als möglich sich denken läßt.♦
  c) Ist aber der Affect einmal entstanden, so schone man nicht weichlich sein Gefühl durch sogenannte Zerstreuung, sondern man blicke tief in das Ereigniß, welches uns erschüttert hat, man übersehe es in seinem ganzen Umfange; denn diese muthige Selbstverwundung des Gemüthes gibt schon ein erhöhtes Kraftgefühl, der Schmerz wird erschöpft, und der Phantasie bleibt nichts
S. 137 Sp. 2 AFFIDAVIT
  übrig, um ein die Wirklichkeit überfliegendes Schreckbild zu schaffen.♦
  d) Der Affect wird durch ein Besondres erregt, daher auch niedergehalten durch das Allgemeine. Wo also eine höhere Ansicht der Dinge in der Sele stehend geworden ist, wird der Affect nie die Selbständigkeit derselben überwältigen.♦
  e) Übrigens ist bei allen Affecten allgemeine körperliche Ruhe zu empfehlen. Die selbstthätigen Affecte werden durch Bewegung noch mehr aufgeregt, und verlieren sich leichter beim Sitzen oder Liegen. Bei niederschlagenden Affekten ist dagegen die Bewegung noch mehr schwächend, zumal die hastige. Speisen oder Getränke während eines Affectes, oder kurz nach demselben genossen, werden nicht gehörig verdaut, und geben zu verschiedenem Übelbefinden Anlaß.
HIS-Data 5139-1-2-135-7: Allgemeine Encyclopädie 1. Sect. 1. Th.: AFFECT HIS-Data Home
Stand: 1. November 2017 © Hans-Walter Pries