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CHARAKTER, nach der etymologischen
Bedeutung des Worts (vom griechischen charakter, Stämpel,
Gepräge) die Summe der Merkmale, durch die ein Ding sich
von anderen Dingen, oder eine Klasse oder Gattung von
anderen Gattungen unterscheidet.♦ |
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Ein sehr fruchtbarer Begriff in mehren
wissenschaftlichen Beziehungen, besonders in Beziehung auf
die moralischen Eigenschaften eines Menschen, oder einer
Klasse von Menschen. Daß man in einigen Sprachen auch die
Buchstabenzeichen Charaktere, und in Teutschland zuweilen
gar den Titel eines Menschen seinen Charakter nennt, geht den
eigentlichen Begriff von Charakter nichts an. |
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Der Klassen- und Gattungscharakter
muß zuerst unterschieden werden von dem individuellen
Charakter. In der Naturgeschichte ist gewöhnlich nur von
Klassen- und Gattungscharakteren die Rede. Das |
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CHARAKTER |
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Individuelle wird da als etwas bloß
Zufälliges betrachtet. Der Botaniker, der nach dem
Linné'schen System eine Pflanze beschreibt, gibt die
Merkmale an, nach welchen die Pflanze zu dieser oder jener
Klasse, Gattung und Art- (species) von Gewächsen gehört.
Auf dieselbe Art kann man in allen Theilen der
Naturgeschichte verfahren, wobei dann natürlicher Weise
Vieles darauf ankomt, nach welchem Princip man die Dinge
entweder ihrer ganzen natürl. Beschaffenheit nach, oder aus
noch besonders ausgewählten, die Anwendung erleichternden
Merkmalen oder, wie man es nent, künstlich klassificirt. Aber
durch genauere Kentniß eines natürlichen Körpers lernt man
auch nicht selten, daß solche Körper, z. B. Mineralien,
bis dahin irrig als zu einer Species gehörend betrachtet
wurden, weil man einige ihrer wesentlichen Merkmale nicht
kante, oder sie für bloß zufällig ansah.♦ |
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In moralischer Beziehung ist es oft noch
viel schwerer, die Klassen- und Gattungscharaktere genau zu
bestimmen, z. B. den Charakter einer Nation, eines
Standes. Die teutsche Nation hat sich nur zu oft eine
charakterlose Nation nennen lassen müssen, weil ihr
Eigenthümliches, besonders von der vortheilhaften Seite, nicht
so leicht ins Auge fällt, wie das Eigenschaftliche mehrer
andern Nationen. Leichter ist es schon, die moralischen
Eigenschaften einer Klasse von Menschen in Beziehung auf
einen aus der allgemeinen Moral besonders hervorgehobenen
Begriff zu bestimmen, z. B. den Charakter des
Geizigen, des Gecken, des Schmeichlers. Vortrefflich sind die
Charakterzeichnungen dieser Art von Theophrast, die auch in
mehre Sprachen, unter andern ins Französische von La
Brüyère gut übersetzt sind. Ähnliche, vorzüglich gelungene
Charakterzeichnungen finden sich in der Moral von Platner,
im zweiten Theile seiner philosophischen
Aphorismen.♦ |
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Aber man muß von solchen allgemeinen
Charakterzeichnungen nicht erwarten, daß sie in einzelen
Fällen genau zutreffen sollen; denn jeder wirkliche Charakter
eines Menschen ist zugleich ein individueller; daher benimt
sich z. B. jeder Geizige allerdings im Allgemeinen wie
alle Geizige sich benehmen, aber jeder auch auf seine eigene
Weise; und diese kann so viel Eigenthümliches haben, daß er
andern Geizigen wenig ähnlich erscheint, während er doch
nicht weniger geizig ist.♦ |
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Auf dem Theater wird das Bestreben des
Schauspielers, einen Charakter im Allgemeinen zu
repräsentiren, leicht zur falschen, nämlich unnatürlichen,
Repräsentation. Der Schauspieler soll, wie der dramatische
Dichter, nie vergessen, daß er ein bestimtes Individuum mit
einer bestimten Individualität darzustellen hat. Wo diese fehlt,
ist die Darstellung frostig, und auf dem Theater gewöhnlich
übertrieben. |
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Individuelle Charaktere richtig zu
zeichnen, ist eine besondere Aufgabe für den epischen und den
dramatischen Dichter, aber auch für den Geschichtschreiber.
Unter allen älteren und neuern Dichtern möchte wol
Shakspeare der größte Meister in dieser Kunst zu nennen
seyn. Daher haben alle Charaktere in seinen Schauspielen eine
innere Wahrheit und Lebendigkeit, die nur bei wenigen andern
Dichtern ihres Gleichen findet. Die in den Lustspielen so oft
wiederkehrenden dramatisirten Allgemeinheiten, z. B.
der Alte (Vejete) in den |
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CHARAKTER |
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spanischen Komödien, oder die Gertruden
und Valere auf dem französischen Theater, sind nur matte
Abdrücke der menschlichen Natur. Ein wahrhaft individueller
und natürlicher Charakter in einem Schauspiele kann darum
doch auch ein idealer seyn, z. B. die Iphigenie von
Goethe. Aber selbst großen Dichtern kann begegnen, daß ihre
idealen Charaktergemälde in das Unnatürliche fallen, wenn
der dichterischen Phantasie nicht eine wirkliche Individualität
lebendig vorschwebt. Gegen Schiller's bewundernswürdige
Jungfrau von Orleans läßt sich in dieser Hinsicht Vieles
einwenden. |
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Die Historiographie gewint durch
treffende Charakterzeichnungen eben so sehr an Belehrung für
den Verstand, als an ästhetischem Interesse. Aber historische
Charakterzeichnungen sollen wahre Bildnisse seyn; und um
dieß zu seyn, müssen sie so angelegt und ausgeführt werden,
daß das Individuelle, ganz der historischen Wahrheit gemäß,
sprechend in ihnen hervortritt. Nun gehört schon ein seltenes
Talent dazu, das Individuelle eines Charakters, den man
persönlich kent, treu aufzufassen und in einer Beschreibung
auszudrücken, etwa so, wie es dem La Brüyère, dem
Übersetzer der Charaktere des Theophrast, in seinem eignen
geistvollen Werke, gelungen zu seyn scheint, ob man gleich
die Originale zu seinen Bildnissen selbst gekant haben müßte,
um zu wissen, ob sie getroffen sind.♦ |
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Aus historischen Nachrichten die Züge zu
einem solchen Bildnisse zusammenzusetzen, kann nur einem
Schriftsteller von sehr hellem psychologischen Blicke und
einem eben so feinen, als ruhigen Beobachtungsgeiste
gelingen. Daher erscheinen auch dieselben Personen, in den
Werken verschiedener Geschichtschreiber die aus denselben
Quellen schöpften, so sehr verschieden. Sehr wenige
Geschichtschreiber verstehen, wie Tacitus, mit wenigen
Zügen uns ein ganzes Bild, sogar von dem Äußern einer
merkwürdigen Person, vor das Auge zu rücken, z. B. in
der Beschreibung des liebenswürdigen Imperators Titus durch
die Züge: Decor oris cum quadam majestate.♦ |
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In der Phantasie eines idealisirenden
Geistes werden leicht auch historische Charaktere zu idealen.
Als Schiller seine Geschichte des Abfalls der Niederlande von
der spanischen Regirung schrieb, suchte er den Dichter in
seiner Person zu verläugnen; aber so ernstlich es ihm auch um
historische Wahrheit zu thun war, verwandelte doch seine
Phantasie ohne sein Wissen, den König Philipp II., den
Prinzen Wilhelm von Oranien, und einige andere, in dieser
Geschichte hervorragende Charaktere in Ideale. |
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Je nachdem man einen individuellen
Charakter entweder im Ganzen, oder nur von gewissen Seiten
ins Auge faßt, unterscheidet man auch wol den öffentlichen
Charakter eines merkwürdigen Mannes von seinem
Privatcharakter, weil Mancher im öffentlichen Leben sich
anders, zuweilen viel würdiger, benimt, als im Privatleben. In
demselben Sinne kann der literarische Charakter eines
Schriftstellers sich sehr von dem eigentlich wesentlichen
Charakter dieses Schriftstellers unterscheiden. Aber auch diese
Unterscheidungen hören auf, genau zu seyn, wo das
Privatleben in das öffentliche Leben übergeht, oder wo auch
der eigentlich persönliche Charakter eines Schriftstellers, oder
eines Künstlers, unverkenbar in seinen Werken erscheint. |
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CHARAKTER |
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Der allgemeine Begriff von
Charakterlosigkeit ist eben so schwankend. Denn ganz
charakterlos kann kein menschliches Individuum seyn. Aber
wie die Züge und die ganze Form eines Gesichts so matt und
unbedeutend seyn können, daß sie fast nichts ausdrücken: so
hat auch der individuelle Charakter mancher Menschen sehr
wenig Hervorstechendes oder Bemerkenswerthes, wodurch er
sich von Andern ihres Gleichen unterscheidet. Eben so wenig
zeichnen mehre Menschen sich durch das Ganze ihrer
eigentlich moralischen Eigenschaften weder von der guten,
noch von der bösen Seite, sehr merklich aus. In demselben
Sinne, wie man solche Menschen charakterlos nent, spricht
man auch von charakterlosen Kunstwerken und
Schriften.♦ |
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Solche Menschen können gleichwol einen
festen Willen und eine beharrliche Geistesrichtung, also
dasjenige haben, was man noch in einer besondern Bedeutung
des Worts Charakter nent. Aber Menschen, in deren Charakter
mehre Züge scharf hervortreten, haben gewöhnlich auch von
Natur eine bestimtere Geistesrichtung und, weil der Wille
gewöhnlich der natürlichen Richtung folgt, einen bestimtern
und beharrlichern Willen. Deßwegen heißt dieser Zug in
einem Charakter, das bestimte und beharrliche Wollen, auch
wenn es in Starrsinn übergeht, vorzugsweise Charakter, und
wird mit Recht geschätzt, weil auf Menschen, die, wie man zu
sagen pflegt, selbst nicht wissen, was sie wollen, wenig zu
rechnen ist. |
(Bouterweck.) |
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