HIS-Data
Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-19-86-3
Erste Section > Neunzehnter Theil
Werk Bearb. ⇧ 19. Th.
Artikel: CONJUGATION
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum 94 : 86
Siehe auch: HIS-Data Con
Hinweise: Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Bearbeitung
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Forts. S. 86 Sp. 1 CONJUGATION ist die von den Römern eingeführte Bezeichnung für die Abwandlung des Verbums oder Vollworts nach den verschiedenen Formen, die es zur Andeutung besonderer Verhältnisse in den Sprachen anzunehmen pflegt.♦  
  Nicht jedes Volk hat von Anbeginn dieselben Verhältnisse zu bezeichnen für gut gefunden, und nicht jedes Volk hat zu dieser Bezeichnung dieselben Mittel gewählt. Darum ist die Conjugation des Verbums sowol in Hinsicht der zu bezeichnenden Vorstellungen, als in Hinsicht der zur Bezeichnung gewählten Mittel in den verschiedenen Sprachen sehr verschieden. Alle diese Verschiedenheiten aufzuzählen, würde, wenn es auch bei unserer noch sehr beschränkten Sprachkentniß möglich wäre, viel zu weit führen in einer viel umfassenden Encyclopädie, in welcher es nicht sowol um eine erschöpfende Lehre der verschiedenen Conjugationssysteme zu thun seyn kann, als um eine Betrachtung der Verfahrungsweise in einzelnen Mustersprachen.♦  
  Dergleichen Mustersprachen sind in Hinsicht auf die Umgangssprache die französische, in Hinsicht auf die Kunstsprache des Verstandes die teutsche, der Einbildungskraft die griechische, und in Hinsicht auf die zwischen der teutschen Denker- und griechischen Dichtersprache in der Mitte liegende Rednersprache die lateinische. Da jedoch die französische Sprache sich vermittelst der Provençalsprache, worüber Raynouard genügende Belehrungen gegeben hat, erst aus der lateinischen herausgebildet hat, und eigentlich als eine Sprache mit lateinischem Stoffe und teutscher Form zu betrachten ist; so reicht hier die Betrachtung der griechischen, lateinischen und teutschen Sprache hin, um die theils gleiche, theils verschiedene Verfahrungsweise der ausgebildetsten Kunstsprachen kennen zu lernen.♦  
  Es gehören diese Sprachen aber zu denjenigen , welche die verschiedenen Verhältnisse, unter welchen die Bezeichnungen von Gegenständen und Erschei-  
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  nungen sich denken lassen, nicht sowol durch besondere Wörter, als durch Flexionen oder Wortbiegungen bezeichnen, und dadurch zu einer für den Verstand und das Ohr gleich wohlgefälligen Vielsylbigkeit der ursprünglich einsylbigen Wurzelwörter gelangt sind. Von diesen Flexionen mögen viele ursprünglich besondere Wörter gewesen seyn; diese haben sich aber im Verlaufe derzeit so abgeschliffen, daß sie von den ursprünglichen Flexionslauten, die für sich allein keine Bedeutung hatten; kaum noch zu unterscheiden sind. Daß jedoch die Verbalflexionen ursprünglich so wenig lauter Flexionslaute, als Wörter von besonderer Bedeutung waren, wird sich aus den nachfolgenden Bemerkungen ergeben, wenn wir zuvor die Verhältnisse namhaft gemacht haben, welche durch sie bezeichnet zu werden pflegen.  
  Das Verbum führt mit Recht den Namen eines Vollwortes, weil es den wesentlichen Theil eines Satzes bildet, und jeder Satz als unvollkommen oder abgekürzt erscheint, welchem das Verbum fehlt, das Verbum selbst aber allein schon einen Satz zu bilden vermag. Bei ihm müssen also auch alle Verhältnisse bezeichnet werden, unter welchen etwas im Satze ausgesagt werden kann. Das Verbum spricht das eigentliche Urtheil eines Satzes aus, und muß daher so vielerlei Verhältnisse zu bezeichnen im Stande seyn, als es verschiedene Arten des Urtheiles gibt. Da nun das Urtheil sich nach den vier Momenten der Qualität und Quantität, der Relation und Modalität unterscheidet, so sollte auch die Conjugation eben so vielerlei Flexionen oder Formationen des Verbums enthalten, wenn man von einer Sprache als allmählichem Erzeugnisse des Bedürfnisses fodern dürfte, daß sie den Vorschriften der Vernunft durchaus auf gleiche Weise entspräche.♦  
  Hier tritt aber die Bemerkung ein, daß fast keine Sprache, indem sie sich anfangs nur mit der Bezeichnung des Nothwendigsten begnügt, und bei ihrer allmählichen Ausbildung immer zu andern Mitteln der Bezeichnung schreitet, sich durchaus in Allem gleich bleibt, und gerade die vielsylbigen Sprachen die mannigfaltigsten Mittel der Bezeichnung wählen. So hat auch unsere Sprache, die sich doch sonst als eine Sprache des Verstandes auszeichnet, zur Bezeichnung der Qualität des Urtheils als eines bejahenden oder verneinenden keine besondern Formen des Verbums eingeführt; sondern jedes Verbum an sich als bejahend betrachtend, bezeichnet sie die Verneinung des Satzes, wie die Verneinung eines Begriffes, durch ein besonderes Wort, dem sie überdies eine solche falsche Stellung gibt, daß sich die limitirenden Sätze (Deus est non mortalis) von den regirenden (Deus non est mortalis) nur durch eine verschiedene Betonung unterscheiden lassen. Nur in dem altteutschen nist für ist nicht verschmolz der Verneinungslaut mit dem Verbum ist zu einer solchen Zusammensetzung, als wir sie in mehren lateinischen Wortgebilden, wie nescio, nequeo, nolo, finden.♦  
  Besondere Flexionen der Verneinung sind uns aber nicht bekant; es bleiben mithin für die durch die Conjugation zu bezeichnenden Verhältnisse nur die Flexionen zur Bezeichnung der Quantität oder des Numerus, der Relation oder des Tempus der im Verbum bezeichne-  
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  ten Erscheinung, und der Modalität oder des Modus loquendi übrig. Wenn man zu diesen einerseits noch die Bezeichnungen der Person, andererseits der Species verbi zählt, so muß bemerkt werden, daß jene, so wie die Bezeichnungen des Geschlechtes in manchen Sprachen, und selbst die Bezeichnungen der Zahl, eigentlich dem Subjecte des Satzes angehören, und daher im Verbo nur als Congruenzmerkmale der imTeutschen auch noch besonders bezeichneten Subjectsperson zu betrachten sind, diese aber sich als Verbalformen von den Flexionen unterscheiden.  
  Nicht alle Arten der Bezeichnungen von Verhältnissen eines Verbums gehören der Conjugation an, sondern nur die, nach welchen sich das Verbum im Satze abändert, ohne seinen Grundbegriff zu verändern, weil alle Verhältnisse des durch das Verbum bezeichneten Begriffes, welche außer der Bildung eines Satzes dem Worte für sich angehören, durch abgeleitete oder zusammengesetzte Verbalformen bezeichnet werden, die derselben Conjugation fähig sind, welche wir bei den einfachen Stammverben zu betrachten haben.♦  
  Als solche Verbalformen sind auch die sogenanten Species verbi anzusehen, wenn sie gleich in der Conjugation als besondere Arten oft wesentlich von einander abweichen: denn wer mag es leugnen, daß ein hebräisches Niphal, Hiphil und Hithpaël u. s. w. sich zum Kal verhalte, wie die Inchoativa, Intensiva, Meditativa, Deminutiva, Iterativa, Factitiva u. dergl. in andern Sprachen zum Stammverbum; und selbst die hebräischen Unterscheidungen einer activen, passiven, und intransitiven Bedeutung durch Veränderung der Vocale lassen sich mit einem griechischen ἴζω und ἔζω, einem lateinischen sido und sedeo, oder einem teutschen sitzen oder setzen vergleichen. Wollte man die Unterscheidung solcher Begriffe zur Conjugation rechnen, so gehörten dahin auch die Bezeichnungen der Grade, welche man als dem Begriffe des Prädicates zukommend, durch besondere Wörter, wie mehr und minder, meist und mindest, bezeichnet.  
  Eben weil die sogenanten Species verbi nur willkürliche Verbalformen sind, werden sie in den verschiedenen Sprachen entweder gar nicht oder auf eine sehr verschiedene Weise durch Flexionen bezeichnet; und gerade hierin zeigt sich der große Fehler, in welchen die meisten unserer Sprachlehrer dadurch verfallen sind, daß sie die Grammatik der lateinischen Sprache als die Norm betrachteten, nach welcher alle Sprachen zu beurtheilen seyen, und darüber die Eigenthümlichkeiten des Geistes jeder Sprachgattung verkanten, welche nur die höhere Ansicht der Vernunft-Sprachlehrer rein aufzufassen vermag.♦  
  Weil die lateinische Sprache bei den meisten Verben eine active und passive Species durch besondere Formen und Flexionen unterscheidet, so hat man diese Unterscheidung auch in andern Sprachen zum Grunde gelegt, und darüber die wesentlichen Unterschiede übersehen, welchen andere Sprachen den Vorzug gaben. Wie man wegen eines solchen Verfahrens die wahren Bedeutungen der hebräischen Verbalformen in Niphal, Hiphil und Hithpaël verkant, hat der freiforschende Geist  
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  eines Ewald gezeigt; aber auch auf die Grammatiken unserer und der griechischen Sprache hat ein solches Verfahren nachtheilig eingewirkt, ungeachtet schon die Bemerkung, daß die lateinische Sprache ihr Passivum unabhängig von der griechischen bildete, darauf hätte führen sollen, daß die griechische Sprache so wenig ursprünglich ein Passivum kante, als die teutsche, welche es nur durch Umschreibung zu bilden vermag.  
  Befragen wir die Vernunft, in welche Gattungen und Arten ein Verbum sich theile, so ergeben sich als Hauptabtheilungen desselben der intransitive und transitive Begriff, welcher letztere wieder den reflexiven und reciproken erzeugt; jeder derselben aber zerfällt in eine active und passive Unterart. Denn jedes sogenante Activum und Passivum hört auf, transitiv zu seyn, sobald kein Gegenstand genant ist, auf welchen oder von welchem gewirkt wird, und wird entweder als Neutrum zum intransitiven Activ, wie schlagen, oder als Neutro-Passivum zum intransitiven Passiv, wie vapulare, Schläge leiden.♦  
  Das Reciprocum, sich (einander) schlagen, vereinigt freilich in sich selbst schon den activen und passiven Begriff, und läßt keine Veränderung des Begriffes weiter zu; aber das Reflexivum sich (selbst) schlagen, welches als ein auf sich selbst einwirkendes Transitivum activum erscheint, läßt auch noch ein Passivum, sich schlagen lassen, zu.♦  
  Es läßt sich nun kaum erwarten, daß irgend ein Volk in seiner Sprache gleich anfangs alle die angeführten Gattungen und Arten des Verbums zu unterscheiden gesucht habe; sondern je nachdem seine geistige Ausbildung diese oder jene Richtung nahm, je nachdem hat das eine Volk, welches, wie das teutsche, den Verstand vorwalten ließ, zuerst nur den intransitiven und transitiven Begriff unterschieden, während der griechische, alles auf sich beziehende Dichter auch noch den reflexiven Begriff auszuscheiden bemüht war, und der lateinische, gerichtliche Redner, welcher uns zum Accusative oder Klagefalle auch den Ablativ oder Nehmefall geliefert hat, die Unterscheidung eines activen und passiven Verhältnisses hervorhob.♦  
  Die Beweise hievon liegen in der Formation, welche jede der angeführten Sprachen für die Bildung ihrer Verbe gewählt hat. Wenn Ulfila im V. U. weihnan für geheiligt werden, von weihan für heiligen bildet, so wähne man nicht, daß seine Sprache eine passive Form gehabt, in deren Ermangelung sich die ärmere Sprache eines Tatian und Otfried mit Umschreibungen geholfen habe. Nein! so wie die hebräische Sprache, welcher ebenfalls die passive Form und Construction entfernter liegt, als die reflexive, intransitive Verbe, in den Fällen gebraucht, wo die lateinische Sprache eine passive Wendung vorzieht; so läßt auch Ulfila ein aus dem Transitive weihan gebildetes Intransitiv an die Stelle eines seiner Sprache mangelnden Passivs treten. Denn daß weihnan nur ein Intransitiv sey, erkent man aus den wenigen Formen dieser Art, welche sich noch aus der alten Sprache erhalten haben, wie lernen von lehren, und auch unabhängig von einem Verbo gebildet werden, wie weinen von wehe,  
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  oder eine causative Bedeutung annehmen, wie warnen von wahren.  
  Die teutsche Sprache, welche weder ein Passivum, noch Reflexivum, anders als durch Umschreibung zu bilden vermag, hält die Unterscheidung eines transitiven und intransitiven Begriffs so fest, daß sie diese selbst in der später erfundenen Umschreibung eines Passivs trent, obwol den Sprachlehrern mit lateinischer Brille der wesentliche Unterschied zwischen geliebt seyn und geliebt werden so sehr entgangen ist, daß nicht einmal die französische und englische Sprache sie auf das frühere Daseyn der intransitiven Form bei Franken und Sachsen aufmerksam zu machen vermochte.♦  
  Das teutsche Activ scheint zwar die intransitive Form von der transitiven nur in den ebenfalls erst durch Umschreibung später gebildeten Praeteritis zu unterscheiden; aber die Betrachtung, daß sich erschrack zu erschrocken seyn, wie erschreckte zu erschreckt haben verhält, zeigt doch, daß der Teutsche gleich anfangs zwei verschiedene Arten zu conjugiren zur Unterscheidung des transitiven und intransitiven Begriffes benutzte, nach welchem wir auch frug von fragte, wie jug von jagte, zu unterscheiden haben, wenn auch schlagen und tragen die eine, klagen und wagen die andere Conjugationsart ohne Unterschied gebrauchen.♦  
  Denn einerseits heben einzelne Fälle vom Gegentheile, weil selten die Spracherfinder sich durchaus gleich blieben, eine Regel nicht auf; andererseits dachte sich doch der Teutsche, wenn er einen wozu bewog, oder sein Herz bewegte, einen Umgang mit Kindern pflog oder Waisen pflegte, und sonst etwas, wie Voß sich ausdrückt, zu thun pflog, einen ähnlichen Unterschied dabei, wie wenn er einen schweigte, der nicht schwieg.♦  
  Der ältere Teutsche unterschied gebronnen und gebrannt, wie wir jetzt wieder geschmolzen und geschmelzt unterscheiden lehren; und wenn die Neuern wägen und wiegen auf gleiche Weise behandeln, so ist das nicht dem Geiste des Alterthumes gemäß, in welchem sagte, das ohne ausdrücklich hinzugefügten oder doch vertretenen Accusativ nicht gebraucht werden kann, anders conjugirt werden mußte, als sprach, und ein von Plage und Wiege abgeleitetes plagte und wiegte eben so wenig die Form eines Stammwortes annehmen konte, als peinigte von Pein, und schaukelte von Schaukel. Ob hier die intransitive oder transitive Form die ältere sey, ergibt sich aus dem Umstande, daß abgeleitete und fremde Wörter der Regel nach nur die transitive Form gestatten, und daß bog für beugte, schrieb für scripsit, eben solche Ausnahmen sind, als wenn man backte für buk eingeführt hat, oder Luther auch preisete für pries, wie scheidete für schied, zu schreiben sich erlaubte.  
  Daß die griechische Sprache ursprünglich von gleichen Begriffen ausging, zeigt die eben so auffallende, als noch wenig erkante Ähnlichkeit ihrer sogenanten activen Conjugation mit der unsrigen. Auch sie hat doppelte Tempusformen,, welche sich, wie die unsrigen, ursprünglich als intransitive Stamm-, und transitive Sproßform unterschieden, z. B. βῆ, βῆσε δῦ, δῦσεν; aber auch, wie die unsrigen, allmählich diesen Unterschied so verlo-  
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  ren, daß die meisten Verbe ohne weitere Unterscheidung ihres transitiven oder intransitiven Begriffes nur diese oder jene, ja einige beiderlei Form in völlig gleichscheinender Bedeutung gestatten, obwol eine sorgfältigere Beobachtung lehrt, daß ἔτραπε und ἔτρεψε sich doch, wie jug und jagte, unterschieden: und der gleiche Unterschied zwischen πλαγῆναι und πληχϑῆναι zeigt, daß die Griechen eben so gut, wie die Teutschen, die Unterscheidung des intransitiven und transitiven Begriffes auf das sogenante Passivum mit solcher Regelmäßigkeit übertrugen, daß man nicht leicht in alten Verben einen Aoristus I. mit intransitiver, oder einen Aoristus II. mit transitiver passiver Bedeutung finden wird.♦  
  Daß auch bei den Griechen die intransitive Form die ältere war, zeigt nicht nur der Umstand, daß sie den abgeleiteten und fremden Wörtern, wie ἀγγαρεύω, nur die transitive Form gaben, sondern noch mehr die Bemerkung, daß Homer wol schon ein Perfect πέποιϑα, ich bin überzeugt, aber noch kein πέπειϰα, ich habe überzeugt, kante, und selbst sein χέχοιϰα, mit χοῖδα verglichen, als die jüngere und vollkommenere Form erscheint.♦
  Die Ähnlichkeit der griechischen und teutschen Sprache in dieser Hinsicht steigt, wenn wir in beiden ein gleiches Princip der Formation erkennen, sofern in beiden die Stammform der umlautenden, die Sproßform dagegen der umendenden Conjugation angehört. Umlautende Conjugation heißt nämlich die, welche zur Unterscheidung der Tempusformen den Vocal der Stammsylbe umlautet, z. B. liege, lag, gelegen, λείπω, ἐλιπον, λέλοιπα; umendende die, welche zu demselben Zwecke einen Consonanten zu der Endung fügt, z. B. liebe, liebte, geliebt, φιλέω, ἐφίλησα, πεφίληϰα.♦  
  Die Art, wie beide Sprachen umlauten und umenden, ist zwar verschieden; auch werden in beiden Sprachen mit den angegebenen Umlauten noch andere verbunden, wie grabe, gräbt; grub, grübe, εἰδὼς, ἰδυῖα von οῖδα; doch war die altgriechische Sprache der altteutschen wieder darin gleich, daß ein eingeschaltetes n die transitiv-active Bedeutung in die intransitiv-passive umänderte, z. B. δύω, δύνω τίω, τίνω; wenn gleich zuweilen auch die Bedeutung unverändert blieb, z. B. φϑίω, φϑίνω.  
  Wenn nun bei dieser auffallenden Ähnlichkeit der Verfahrungsweise beider Sprachen die umlautenden Formen im Griechischen nur als Tempora secunda einer und derselben Conjugation mit den umendenden als Temporibus primis, sofern sie vorhanden sind, verbunden werden, während man sie im Teutschen als unregelmäßige Conjugation von der regelmäßigen absondert; darf man dann wol behaupten, daß man beide Sprachen nach gleichen Principien lehre? Zwar hat Buttmann die Verba der ältern Form auch in einem Verzeichniß von Anomalen aufgeführt; es frägt sich aber, ob man Anomal oder unregelmäßig nennen dürfe, was zwar nicht unter Eine Regel gebracht werden kann, aber doch gewisse Analogien befolgt, nach welchen einer der neuesten Schriftsteller die griechischen Verbe zu ordnen versucht hat.♦  
  Lernt ein Fremder die teutschen Verbe wol leichter conjugiren, wenn er sie in einem alphabetischen Verzeichnisse, das noch dazu selten ganz vollständig zu seyn pflegt, in bunter Reihe durch einander aufgezählt findet? oder wird ihm  
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  nicht das Erlernen derselben erleichtert, wenn er sie nach gewissen Analogien, mögen deren auch noch so viele angegeben werden, und hin und wieder eine kleine Abänderung erleiden, geordnet sieht?♦  
  Die teutsche Sprache hat eigentlich nur vier anomale Verbe, nämlich die Hilfswörter seyn und haben für Intransitive und Transitive, thun und werden für Active und Passive, welche nach Maßgabe ihres häufigen Gebrauches mehr oder weniger unregelmäßig geworden sind, und schon als Hilfswörter zur Bezeichnung gewisser Verbalformen besonders gelernt werden müssen.♦  
  Diesen folgen als zweite Klasse diejenigen Umschreibungen von Adverbien zur Bezeichnung der Modalität des Urtheils, deren Praesentia die Form umlautender Praeterita haben, und zwar umendende Praeterita annehmen, aber meistens auch diese wieder in Subjunctive umlauten, wie kann, mag, will, darf, soll, muß und weiß.♦  
  Die dritte Klasse begreift sieben andere Verba, welche zwar der umendenden Conjugation folgen, aber dabei zugleich umlauten, wie brennen, kennen, nennen, rennen, senden, wenden und gönnen, welches letztere jedoch sein gonnte mit gönnte vertauscht hat: hieher gehören aber noch außer that und hatte die Praeterita brachte und dachte, deren Praesentia eine ganz andere Form angenommen haben, wie man für däuchte jetzt dünkte spricht, und prangte sagt, obwol die Pracht neben dem Prunke verräth, daß auch dieses Wort einst dieselbe Analogie befolgte.♦  
  Die vierte Klasse umfaßt endlich alle übrigen umlautenden Verba mit mancherlei Unterabtheilungen, die sich also ordnen lassen:  
  1) Verbe mit verschiedenem Umlaute im Praeterito und Participio nach folgenden Analogien:  
  a) Bergen, barg, geborgen; Brechen, brach, gebrochen; Stehlen, stahl, gestohlen; gebären, gebar, geboren; = The-a-nor.  
  b) Sinnen, sann, gesonnen; Singen, sang, gesungen; Sinken, sank, gesunken; Schwinden, schwand, geschwunden = Pin-da-ros oder Pin-da-rus.  
  c) Liegen, lag, gelegen; Bitten, bat, gebeten; Sitzen, saß, gesessen = Ti-gra-nes.  
  2) Verbe mit gleichem Umlaute im Praeterito und Participio nach folgenden Analogien:  
  a) Schallen, scholl, geschollen; Schnauben, schnob, geschnoben; Saugen, sog, gesogen; Saufen, soff, gesoffen; = Pha-no-dor.  
  b) Pflegen,{1} pflog, gepflogen; Gähren, gohr, gegohren; Schwören, schwor, geschworen; Löschen, losch, geloschen = The-o-dor. {1} korrigiert aus: Plegen
  c) Sieden, sott, gesotten; Lügen, log, gelogen; Glimmen, glomm, geglommen; Schinden, schund, geschunden = Di-o-dor.  
  d) Beißen, biß, gebissen; Bleiben, blieb, geblieben; Schneiden, schnitt, geschnitten; Scheiden, schied, geschieden = Hein-ri-ci.  
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  NB. b) und c) fallen zum Theil mit 1 a) und b) zusammen, wie das Voßische pflag für pflegte, drasch für drosch; wie umgekehrt auch borst für barst vorkömt, und wieder auch schwur für schwor, aber schwamm für schwomm gesagt wird.  
  3) Verbe, die nur den Umlaut im Praeterito haben, sind außer den wenigen unter 2) a) angeführten alle mit einem a und o, auch einige mit e, und das einzige mit u, als:  
  a) Fallen, fiel, gefallen; Schlafen, schlief, geschlafen; Hangen, hing, gehangen; Laufen, lief, gelaufen = Bra-si-das.  
  b) Schaffen, schuf, geschaffen; Schlagen, schlug, geschlagen; Fahren, fuhr, gefahren = Da-thu-ra.  
  c) Kommen, kam, gekommen für quemen (woher bequem), nach der Analogie von nehmen.  
  d) Stoßen, stieß, gestoßen, welches zeigt, daß man kömmt, wie stößt, nicht kommt wie ruft oder thut, schreiben müsse.  
  e) Messen, maß, gemessen; Lesen, las, gelesen; Sehen, sah, gesehen, nach der Analogie von 1) 3).  
  f) Rufen, rief, gerufen, wovon thun, that, gethan als Anomalon abweicht.  
  Einzelne Besonderheiten, wie essen, aß, gegessen; Ziehen, zog, gezogen; Hauen, hieb, gehauen, erklären sich nun leicht; so wie gehen, ging, gegangen, der Analogie von fahen, fing, gefangen folgend. Wie fangen für fahen, sagte man auch einst, wie noch in der Schweiz, gangen für gehen, und eben so standen für stehen; daher stehe, stund, gestanden, wofür nun stand üblich geworden ist. Auch gibt es Defective, wie stecken, stak, ohne Particip; mahlen (auf der Mühle), gemahlen, ohne Präteritum. In diesem Falle pflegt man das Fehlende durch Umendung zu ersetzen, wie frug, gefragt; jug, gejagt; salzte, gesalzen; schrotete, geschroten. Dasselbe geschieht oft, wie das Klopstockische rufte zeigt, ohne Noth, oder auch aus Unkunde der Umlautsform, wie backte für buck; bellte, gebellt für boll, gebollen. Aber auch an Provincialismen fehlt es nicht, wie kaufen, kief, gekaufen; die zuweilen richtiger sind, als das Schriftteutsch, wie heißen, hieß, gehießen für geheißen. Auch die niederteutsche Sprache zeigt weit mehr Regelmäßigkeit, als ihre jüngere Schwester in Oberteutschland. Aber am allereinfachsten ist die umlautende Conjugation der Ostgothen bei Ulfila, deren von Zahn angegebene fünf Arten:  
  Giban, gas, gibans, Imperat. gif;
Greipan, grain, gripans — greip;
Bindan, band, bundans — bind;
Biugan, baug, bugans — biug;
Graban, grof, grabans — graf;
 
S. 90 Sp. 1 CONJUGATION ⇧ Inhalt 
  sobald man nur ei wie ī, ai wie ē, au wie ō, iu wie ü liest, den niederteutschen auffallend gleich sind: nur daß hier noch einige Arten hinzukommen, die sich jedoch den angegebenen fünf eben so leicht unterordnen lassen, als die gothischen:  
 
{ Fraihan, frah, fraihans, fragen;
Trudan,
trad, gatrudans, treten;
  Treihan, thraih, traihans, drehen;
Bairan, bar, baurans,
gebären;
{ Gairdan, gaurd, gaurdans, gürten;
Tiuhan, tauh, tauhans,
ziehen;
  Swaran, swor, swarans, schwören.
 
  Im Griechischen ist der Vocalwechsel nicht so groß, und tritt, die Verkürzungen der Diphthonge und langen Vocale abgerechnet, nur bei den Stämmen mit ε oder η ein, deren Vocale in o oder a, und in gewissen Fällen auch in α übergehen, welchen ähnlich dann auch ἐλεύϑω, ἤλυϑον, εἰλήλουϑα für ἐλήλυϑα vorkömt.♦  
  Noch geringer ist der Vocalwechsel in der lateinischen Sprache, wo er sich außer den Verlängungen kurzer Vocale auf den Wechsel von a und e, und von e und o in einigen Verben beschränkt: nur wird das e in kurzen Sylben zu i, wie das o zu u, z. B. facio, feci; perficio, perfeci, perfectum; cano, cecini; accino, accinui, accentum; pello, pepuli, pulsum; vello, velli, vulsum für volsum.♦  
  Daß die Ursache dieses geringern Vocalwechsels in dem verschiedenen Geiste der Sprachen zu suchen sey, wird die Untersuchung über die Art und Weise lehren, wie sich bei der Bildung des Verbums die Flexionen desselben entwickelten; es liegt darin aber zugleich der Grund, warum man im Griechischen und Lateinischen die umlautenden Formen mit den umendenden zu Einer Conjugation verband, und bei der Unterscheidung der Conjugationen ein anderes Princip befolgte. Daß jedoch die Abtheilung der lateinischen Conjugationen ganz der griechischen entspreche, wenn man die an sich unvollständigen Verba in µı ausnimt, welchen im Lateinischen blos zwei Verbe sum und inquam entsprechen, wird die nächstfolgende Untersuchung zeigen.♦  
  Die lateinischen Conjugationen zerfallen eigentlich, wie die Declinationen, in zwei: in eine Stamm- und eine Sproß-Conjugation; da die Stammwörter der Regel nach der dritten, die Sproßwörter aber den übrigen Conjugationen angehören, wenn gleich auch viele Sproßwörter nach der dritten, und einzelne Stammwörter, wie do und sto, nach einer der übrigen Conjugationen abgewandelt werden.♦  
  Die Sproß-Conjugationen unterscheiden sich von der Stamm-Conjugation durch Annahme eines Charaktervocales, nach der Verschiedenheit der Bedeutung. So bezeichnet das a der ersten Conjugation in den Ableitungen aus Nominibus ein Darstellen, es sey transitiv, wie honorare, ehren, sanare, heilen, oder intransitiv, wie regnare, den König spielen, trepidare, ängstlich hasten; aus Participien bildete man aber auf diese Weise theils Intensiva, wie cantare, laut singen, dormitare, schläfern, theils Deminutiva, wie cantillare, quinkeliren, postulare, ersuchen, theils Frequentativa, wie cantitare, oft singen, ventitare, fleißig kommen.  
  Das e der zweiten Conjugation bezeichnet einen Zustand  
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  oder ein Seyn, wie horrere, schaudern, wenn gleich einzelne Intransitiva zu Transitivis werden, wie timere, fürchten; weshalb auch die meisten Indicativa, die ein Werden bezeichnen, aus Verben der zweiten Conjugation hervorgehen und auf escere enden.♦  
  Das i der vierten Conjugation endlich, welches eigentlich, wie die griechischen Verbe auf ıᾴω zeigen, durch Zusammenziehung aus ia hervorging, zeigt ein Süchteln an, wie nicht nur die Desiderativa beweisen, sondern auch andere Geforme, als gestire, trachten, insanire, rasen; woraus sich dann auch die Praeterita und Supina von cupere, petere, quaerere, und aller Wörter auf essere erklären.  
  Vergleichen wir nun die griechischen Verba auf ω, so werden wir in den sogenanten Barytonis, welche statt des Charaktervocales nur einen Bindevocal haben, der die mit einem Consonanten beginnenden Endungen mit der Stammsylbe verbindet, und sich nach der Beschaffenheit jenes Consonanten abändert, leicht die Stamm-Conjugation erkennen, wogegen die contrahirten Verba oder Perispomena den drei Sproß-Conjugationen der lateinischen Sprache entsprechen. Nur muß man nicht glauben, daß, so wie die Verba auf έω den Verben der zweiten Conjugation im Lateinischen gleichen, so auch die Verba auf άω den Verben der ersten Conjugation analog seyen; sondern diese gehören, wie die süchtelnden Verba auf ıᾴω, der vierten Conjugation an, wie die Verba auf άω der ersten, welches nicht nur deren Bedeutung beweiset, sondern auch der Übergang eines ἀρόω in aro, δόω in do.♦  
  Das zuletzt angeführte Beispiel zeigt, daß die Verba auf µι, welche als die ältere Form der griechischen Verbe, nur Stammwörter enthalten, durch ihre vierfache Verschiedenheit des Endvocales der Stammsylbe jenen vier Conjugationsarten den Ursprung gaben, da man anfing, den auf einen Vocal ausgehenden Stammsylben sowol, als den auf einen Consonanten endenden, einen Bindevocal beizufügen, worauf ομι sich zuerst in oμ, lateinisch um, z. B. sum für esomi oder εἰμὶ, zuletzt aber in ω abschliff, z. B. ἔω für ἔομι statt εἰμὶ oder ἐηηὶ.♦  
  Die griechischen Verba auf ύω wurden dann, als der Contraction unfähig, ganz so behandelt, wie die Verbe der Stamm-Conjugation, aus welchen die Griechen späterhin auch Geforme auf νυμι schufen, wie δεϰί aus δείϰω, dico, zeige. Daher werden auch im Lateinischen die Verba auf uo zur dritten Conjugation gezählt, wie induo für ἐvδύω; von den wenigen Verben auf ίω ist aber im Lateinischen, da fio sowol als fuo aus φύω hervorging, nur eo für ἴω, εἶμι, nachzuweisen, das zwar, wie haurio von ἀρύω, nach der vierten Conjugation abgewandelt zu werden scheint, aber doch durch seine anomalischen Formen, wie ibam, ibo, und itum mit kurzem i, sich wesentlich davon unterscheidet.♦  
  Der Bindevocal, welcher in den Verben auf ω die Endung mit der Stammsylbe verbindet, und mit dem Stammvocale der griechischen Verbe auf μι oder dem unveränderlichen Charaktervocale, der lateinischen Sproß-Conjugationen durchaus nicht verwechselt werden darf, ist ε vor σ und τ, und ο vor µ und ν: die Lateiner schreiben aber für ein kurzes e, außer wo ein r folgt, i, wie für ein verkürztes o ein u.  
  Der griechische Infinitiv auf ἐμεναι, woraus die Endungen έναι, αι  
S. 91 Sp. 1 CONJUGATION ⇧ Inhalt 
  und ειν für έμεν sich entwickelten, würde die einzige Ausnahme von dieser Regel machen, wenn er nicht als eine spätere Zusammensetzung mit dem Hilfsworte ἔμεναι, sein, zu betrachten wäre.  
  Aus diesen Bemerkungen erklärt sich nun leicht die Entstehung des ganzen griechischen und lateinischen Verbums; um aber zu zeigen, wie die griechische Dichter- und lateinische Redner-Sprache sogleich von Anbeginn an einen andern Weg in der Sprachentwickelung einschlugen, als die Verstandes-Sprache der Teutschen, wenn sie auch von völlig gleichen Stämmen ausgingen, wollen wir zuvor darauf aufmerksam machen, daß die Spracherfinder von Anfange an die Bezeichnungen der Verbalverhältnisse nicht in derselben Ordnung schufen, in welcher zuletzt die Formen dafür von einander abgeleitet wurden. Da nämlich nur das Bedürfniß die Menschen bei der Spracherfindung leitete, so kann die Bezeichnung der Gegenwart, so natürlich es auch war, daß die Teutschen bei den oben erwähnten Hilfsverben zur Bezeichnung der Modalität des Urtheils, den Begriff der Gegenwart zum Grunde legten, darum nicht die ursprüngliche seyn, weil für sie ein Fingerzeig genügte; sondern das Bedürfniß schuf zuerst die zweite Person der Befehlform und die dritte Person der Erzählform, und zwar jene früher noch als diese.♦  
  Nächst den Ausrufen oh und ah, und den aus ab und ex erst abgeschliffenen Präpositionen a und e, ist der Imperativ i das kürzeste Wort der lateinischen Sprache. Damit man aber nicht glaube, daß dieses i erst aus ἴδι abgeschliffen sey, wie Ewald den hebräischen Imperativ, als Erhöhung und Steigerung der Wunschform, aus der abgekürzten Form des Optativs durch eine noch schnellere Aussprache hervorgehen läßt; so wollen wir an das dem ἄγε, ἄγετε, analog gebildete τῆ, τῆτε erinnern, welche Form ursprünglich wol blos adverbial war, wie δεῦρο, δεῦτε, aber selbst mit ζῆϑι verglichen zeigt, daß ein angehängtes ϑι und τε unser du und ihr bezeichnete. Eben so ist ᾖ, sprachs, welches zu ἠμὶ, ἄω gehört, wie φῆ zu φημὶ, φάω, eins der kürzesten Wörter der griechischen Sprache, und in der teutschen umlautenden Conjugation, welche sich auch hiedurch als die ältere bewährt, sind die Befehl- und Erzählformen die einzigen, welche nur Eine Sylbe ausmachen; weshalb auch Ewald zu irren scheint, wenn er, um dem Principe ursprünglicher Zweisylbigkeit im Hebräischen treu zu bleiben, das einsylbige {ein Wort Hebräisch}, dem griechischen βῆ entsprechend, oder {ein Wort Hebräisch}, dem teutschen kam entsprechend, aus zweisylbigen Formen hervorgehen läßt, da wol selbst {ein Wort Hebräisch}, war, erst aus {zwei Wörter Hebräisch}, er, sie, wie dieses aus {ein Wort Hebräisch}, sieh! gebildet ward.  
  Wenn man nun bemerkt, daß die Griechen in ihren Verben den Ton soweit zurückziehen, als es die Gesetze ihrer Betonung erlauben, und die Betonung der Endsylbe sich nur in den synkopirten, d. h. ohne Bindelaut gebildeten Formen und Verben auf μι, oder auch in den ältesten Formen der Verbe auf ω findet; so wird man leicht aus der Betonung der Wörter ἴδε und ἰδέ, λάβε und  
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  λαβέ, auch abgesehen von dem Hinzutreten eines Augmentes in ἦλϑε von ἐλϑέ, die Auszeichnung des Imperatives als älterer Form erkennen, wie dieses auch der Wirrwarr und Zickzack für die teutschen Geforme wirr und worr, zieh und zog, andeutet.♦  
  Zugleich wird man aber auch aus den angeführten Beispielen den verschiedenen Geist wahrnehmen, mit welchem die griechische Dichter- und teutsche Denkersprache in der Unterscheidung der Befehl- und Erzählform sogleich bei der ersten Bildung der Verbalformen verfuhr. Während der Teutsche, um den Ton nicht von der Stammsylbe, als der bedeutsamsten, zu entfernen, wie er denn auch den Grad der Betonung nach dem Grade der Bedeutsamkeit abzumessen pflegte, zur Unterscheidung der beiden ältesten Formen seines Verbums den Umlaut wählte, scheute der Grieche, um zwei gleichlautenden Formen eine verschiedene Bedeutung geben zu können, sich nicht, auf andere Sylben, selbst wenn es auch noch so unbedeutend scheinende Flexionen waren, den Ton zu legen, und die Art der Betonung nicht sowol nach der Bedeutsamkeit der Sylben, als nach den Wohllautsgesetzen der rhythmischen Bewegung zu bestimmen.♦  
  Hiebei schied sich jedoch wieder die griechische Sprache in zwei Hauptdialekte, von welchen der äolische, die Betonung der Endsylbe meidend, die Tonsetzung von dem Maße der vorletzten Sylbe abhängig machte; der ionische dagegen, der Betonung der vorletzten Sylbe minder hold, die Tonsetzung nach dem Maße der Endsylbe bestimte, welcher Weise dann auch die später sich entwickelnden Dialekte der Dorer und Attiker folgten, so daß der Ton einfacher Wörter, wie ἐλϑέ, σοφὸς, in Zusammensetzungen, sofern nicht andere Unterscheidungen, wie μητρόϰτονος und μητροϰτόνος, oder διογενὴς und Διογένης vorwalten, von der Endsylbe sofort auf die dritte Zeit vom Ende wandert, wie ἄπελϑε, φιλόσοφος.♦  
  Mit Bedacht ist hier dritte Zeit, nicht dritte Sylbe gesagt, um es zu erklären, warum vor einer langen Endsylbe nur ein Acutus stehen kann, statt daß die lange Vorsylbe vor einer kurzen Endsylbe den Circumflexus fodert: nur muß man, um sich z. B. die Betonung φιλάνϑρωπος erklären zu können, nicht aus der Acht lassen, daß den Griechen jede Vorsylbe, wie dem Lateiner jede Endsylbe, bei der Betonung nur für einzeitig gilt.  
  Die lateinische Rednersprache folgte zwar in der Betonung der Wörter dem äolischen Dialekte, der zunächst mit ihr verwandt war; aber sie legte zugleich, wie die Rhythmen ihrer Dramen zeigen, gleich der teutschen Verstandessprache, einen Ton auf jede Stammsylbe, welches verkennend Hermann nicht zu erklären gewußt hat, warum z. B. fámilia den rhythmischen Accent immer auf der ersten Sylbe habe, oder sécede huc als Creticus gebraucht werde. Wie durch alle Theile der Grammatik hindurch, in der Syntaxe und Construction der Perioden sowol, als in der Formenlehre, die lateinische Rednersprache zwischen der teutschen Denker- und griechischen Dichtersprache, als den beiden Extremen der Kunstsprache, in der Mitte liegt; so vereinigt sie auch in der Betonung, um überredend auf das Ohr und den Verstand zu wirken, die Volltönigkeit bedeutsamer Sylben, welche die teutsche Sprache als das  
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  Wesentliche betrachtet, und deshalb auch das Zeitmaß der Sylben im Verse vom Tonmaße abhängig macht, mit der rhythmischen Bewegung der griechischen Sprache, welche das Tonmaß dem Zeitmaße unterordnet, auf die Weise, daß sie in den der Volkssprache sich nähernden Dramen die Verse rhythmisch endet, übrigens aber sorgfältig zugleich den gemeinen Sprachaccent beachtet, in den epischen und elegischen Versen dagegen nur am Schlusse den gemeinen Sprachaccent mit dem rhythmischen vereinigt, und in der lyrischen Dichtung den gemeinen Sprachaccent dem rhythmischen nach Maßgabe der Versart unterordnet, wie Horaz auch etwas Ähnliches in seinen Sermonen versucht hat.♦  
  Kehren wir jedoch wieder zur Bildung des Verbums zurück, so wird aus dem Obigen klar, daß, wenn auch Griechen, Lateiner und Teutsche von gleichen Wurzelsylben ausgingen, und in ihren ersten Wortgebilden den Lauten gleiche Bedeutung gaben, wie man vieles fast durch alle Buchstaben beweisen kann, eine vollkommene Gleichheit ihrer Verbe doch nur in den ursprünglichen Imperativen gesucht werden kann, und andere Gleichheiten fast nur dem Zufalle oder gegenseitiger Mittheilung, wie diese namentlich zwischen der lateinischen und teutschen Sprache einerseits, andererseits aber noch mehr zwischen der lateinischen und griechischen Sprache Statt findet, zuzuschreiben sind. Als Beispiel mögen die Bezeichnungen der verschiedenen Haltungen des Körpers dienen, welche bei allen drei Völkern ursprünglich gleich, oder doch nur mundartlich verschieden waren.  
  So hieß steh niederteutsch stah, lateinisch sta, und altgriechisch στᾶ für {ein Wort Griechisch}, wie ἀνάστα zeigt; sitze niederteutsch sit, lateinisch sede, griechisch ἵζε; setze niederteutsch set, lateinisch side, griechisch ἕζε, daher ἕζεο, setze dich, und ἕδος, sedes, Sitz; lege niederteutsch leg, lateinisch lege, daher lectus, griechisch λέγε, daher λέγος.♦  
  Ob aber das teutsche stelle auch das griechische στέλλε sey, läßt sich schon nach dem lateinischen, durch Reduplication gebildeten, siste bezweifeln, zumal wenn das teutsche stelle erst aus stall gebildet seyn sollte, wie setze vielleicht aus Satz, und lege aus Lage, von liege, lag, abgeleitet; den Stat jedoch hat uns das lateinische status gegeben, wie umgekehrt die Lateiner habe und unzählig viele andere Wörter, die nicht aus dem Urgriechischen stammen, aus einer alten, noch unerklärten, Mundart des Teutschen erhalten zu haben scheinen.♦  
  In der Erzählform weichen die drei Sprachen schon sehr von einander ab, indem der Grieche bei stehen den Umlaut mit Augmente ἔστη, der Lateiner die Reduplication mit Verkürzung der Stammsylbe, stĕtit für stestit, nach der Analogie von dĕdit, der Teutsche eine andere Form stand gewählt hat. Bei saß ist die Ähnlichkeit zwar größer, niederteutsch sat, lateinisch sedit, griechisch ἷζε; aber doch weicht der Teutsche in der Umlautung des i in a ab, wie liege zu lag wird: und bei setzte und legte hat der Grieche einen andern Umendungslaut, der Lateiner gar keinen gewählt, wie εἷσε, sidit; ἔλεξε, legit, indem lexit einer andern Bedeutung angehört.♦  
  Hatte der Teutsche für stund die reduplicirte Form stestah gewählt, wie Ulfila faifah von fahan für fing, und skaiskaid von skaidan für schied sagt; und  
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  wäre Buttmann's Meinung gegründet, daß das griechische Augment aus der Reduplication nur abgeschliffen sey; so fände sich das lateinische stetit zwar so ziemlich auch im Teutschen und Griechischen wieder. Allein immer bliebe doch die Art der Reduplication noch etwas verschieden, da diese bei Ulfila immer mit Hilfe des ai oder η, bei den Griechen vermittelst eines ε, bei den Lateinern aber, wenigstens in der spätern Zeit, nach Maßgabe des Vocales in der Stammsylbe geschah: auch hatte sich der Grieche keine Reduplication zweier Consonanten erlaubt, da er bei zweien Anfangsconsonanten oft sogar Anstand nimt, auch nur einen davon zu wiederholen.  
  Im griechischen Perfect ἕστηϰε, welches als Praesens keine Vergleichung mit der Erzählform ἔστη leidet, ist, wie das lateinische sisto von sto zeigt, der Sauselaut mit einem Hauchlaute vertauscht; aber in ἔσταλϰα ist auch dieser Hauchlaut verschwunden. Hierauf gründet sich Buttmanns Meinung, daß auch das griechische Augment der Erzählform aus der noch in einigen älteren Formen, wie πέπιϑον für ἔπιϑον, vorkommenden Reduplication sich abgeschliffen habe, zumal da auch die calenbergische Volkssprache im Participe der Vergangenheit nur ein kurzes e für das hochteutsche ge hören läßt. Aber so wie sich schon dieses ge sehr wesentlich von der Reduplication unterscheidet, ungeachtet es in einigen Fällen, wie in Gewirr und Wirrwarr, Gemisch und Mischmasch, mit dieser fast gleiche Bedeutung hat; so ist es auch mit dem griechischen Augmente der Fall, da es sich von der Reduplication zugleich in Form, Bedeutung und Gebrauche unterscheidet, und als völlig davon verschieden im Plusquamperfecte noch vor die Reduplication tritt.♦  
  Das Augment ist ein bloßer Zuwachs am Anfange des Wortes, wie die Flexion am Ende desselben, welche beide entweder syllabisch oder chronisch seyn können, und in der oben angeführten Erzählform auch ähnlichen Gesetzen folgen, z. B. ἔλαβε und ἔβαλε; ἵει und ἵη für ἵεε, wie εἶχε und ἤϑελε für ἔεχε und ἐέϑελε; βῆ für βάε und φῦ für φύε, lateinisch fuit, wie ἦγε für ἔαγε und ὗε für ἕϋε.♦  
  Die Reduplication dagegen bestehet in der Wiederholung des Anfangsconsonanten, vor welchem in der sogenanten attischen Reduplication auch noch ein Vocal wiederholt wird, und gleicht den Wiederholungen der Stammsylbe vor der Flexion, wie ἠνίπαπε für ἤνιπε. Im Perfecte nimt zwar diese Reduplication immer ein ε an, wie λέλοιπα und ἐγήγερϰα für ἐγεέγερϰα oder ἐγρήγορα für ἐγρεέγορα; aber die Lateiner haben für memordi u. s. w. momordi u. s. w. eingeführt.♦  
  Überdies wird im Präsens ein i statt des e gesetzt, z. B. γίγνω, gigno, für γείνω oder geno, τίϑημι, ἵστημι oder sisto, und δίδωμι: und eben diese Praesentia sind ein Beweis, daß die Reduplication nicht, wie das Augment, die Vergangenheit der Erzählung bezeichnet, also von diesem auch in der Bedeutung verschieden ist. Bei den Verbis auf μι deutet die Reduplication diejenige Continuation des Begriffes an, wodurch sich Imperfecte von den Aoristen unterscheiden, und eben so bei den Perfecten eine bis zur Gegenwart fortgesetzte Vergangenheit, welche letztere noch besonders das hintergesetzte ε bezeichnet. Die Reduplication bleibt dieser Grundbedeutung wegen  
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  durch alle abgeleitete Zeit- und Modusformen; ein Augment aber kann nur in einer historischen Zeitform des Indicatives stehen.  
  Wenn also die griechischen Dichter bei den Verbis auf ω auch Aoristen der ältern Form die Reduplication gaben, so stimt dieses zwar mit der eben angegebenen Bedeutung nicht zusammen, sofern z. B. das Imperfectum ἦγον, der Aoristus aber ἤγαγον lautet; allein daß die Reduplication in ἤλαλϰον für ἠλεξασα, darum noch keine Vergangenheit bezeichne, beweiset das Futurum ἀλαλϰήσω für ἀλεξήσω: und wenn Formen, wie ϰεϰαδον und πιπιϑόμην Augment haben, so vertritt, wie ἔπεφνον und ἔτετμον, ἤγαγον und ἤλαλϰον beweisen, die Reduplikation nicht des Augmentes Stelle, sondern das Augment wird, wie bei dem Plusquamperfecte τετύφια für ἐτετύφειν, weggelassen, um ein durch die Reduplication schon angeschwollenes Wort nicht noch einmal unnöthiger Weise durch das Augment anzuschwellen, da dieses der Dichter ja beliebig weglassen durfte.♦  
  Auch konte man eine Reduplication, welche in allen Moden beibehalten ward, unmöglich für ein Augment halten, das nur im Indicative eine Stelle fand: und wenn bei Ulfila die Reduplication der Erzählform angehört, wie taitok für das lateinische tetigi von tekan, niederteutsch ticken; so leidet dieses auf die griechische Sprache keine Anwendung, obgleich selbst die reduplicirten Perfecte im Lateinischen vielleicht mehr aus griechischen Aoristen, als aus Perfecten hervorgegangen seyn mögen. Denn wenn auch die Perfecte der Sproß-Conjugationen auf vi oder ui aus den griechischen Perfecten auf ἁ oder ϰα, wie der Teutsche auch in gewissen Fällen keit für heit spricht, vermittelst des äolischen Digamma's hervorgegangen seyn sollten; so sind doch die Perfecte der Stamm-Conjugation auf i von einem Aoristo II. und die auf si von einem Aoristo I. abzuleiten, wie dixi von ἔδειξα und vidi von εἶδα für εἶδον, nicht von οἶδα, wenn gleich die zweite Person vidisti verleiten könte, an οἶσϑα zu denken, sofern man nur auf die Form, nicht auf die Bedeutung sähe.♦  
  Mithin können auch wol die Perfecte tetigi und pepuli mit den homerischen Participien τεταγὼν und πεπαλὼν in Verbindung stehen, da z. B. pepigi von πέπηγα abzuleiten, die Länge der griechischen Mittelsylbe verbietet. Wundert man sich aber über die Endung i statt ον, so liefert uns ja ἤνεγϰα für ἤνεγϰον ein Beispiel, daß man in den reduplicirten Formen die Flexion α für ον gebrauchte, welche vermuthlich unmittelbar aus der dritten Person ἤνεγϰε durch Umlautung hervorging: denn daß man auf die Bezeichnung der dritten Person zunächst die Bezeichnung der ersten folgen ließ, erhellet aus ihrer gleichen Form in den Stammzeiten der teutschen Sprache.  
  Dies führet uns nun auf die Entwickelung der Personalformen, welche, die schon erwähnten einfachern Bildungen abgerechnet, offenbar aus Zusammensetzungen mit den Personal-Pronominen erwuchsen. In der teutschen Sprache haben sich diese leider sämtlich in ein tonloses e mit höchstens einem oder zwei Consonanten dahinter abgeschliffen; wir wissen aber aus den Schriften eines Ulfila, Tatian und Otfrid, daß sie von den la-  
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  teinischen Flexionen wenig verschieden waren, welche selbst wieder mit den griechischen zusammenstimmen.  
  Wir brauchen demnach nur die Entstehung der griechischen Personalendungen zu zeigen, um daraus auf die der andern Sprachen schließen zu können. Hiezu bedarf es aber der Kentniß der ältesten Personal-Pronominen, deren Nominative, nach den lateinischen Accusativen, me, te, se zu urtheilen (denn nur die Bezeichnungen des Objects und Subjects foderte das erste Bedürfniß), wie die niederteutschen Accusative, mi, ti, si, oder da t und s, wie schon der Übergang des tu in σὺ zeigt, willkürlich wechselten, mi, si, ti lauteten.♦  
  Durch Anschließung dieser Pronominen, welche der Lateiner, wie der ältere Teutsche, in m, s, t abschliff, an die Stammsylbe bildete der Grieche seine Praesentia. Endete die Stammsylbe auf einen Vocal, so ward dieser entweder, wie in den Verbis auf μι, durch Verlängung, oder, wie in dem dorischen ἐμμι, ἐσεὶ, ἐντὶ, wofür später εἰμὶ, εἶς, ἐστὶ, in Gebrauch kam, durch ein μ und σ assimilirtes ν gekräftigt, wie man auch wol z. B. ἔλεγεν für ἔλεγε sprach. Endete aber die Stammsylbe auf einen Consonanten, so schaltete man nach den oben angegebenen Regeln einen Bindevocal ein, dessen Weglassung in gewissen Fällen die synkopirten Formen erzeugte, wie fers, fert im Lateinischen, und die vielleicht deshalb umlautenden Formen trägst, trägt, im Teutschen. So bildete man aus der Stammsylbe λεγ zuerst λέγομι, λέγεσι, λέγετι, dann mit Weglassung des ι am Ende λέγομ, λέγες, λέγετ, lateinisch lego, legis, legit, und weil der Grieche zuletzt alle Endungen auf μ und τ verwarf, mit Verlängerung des Bindevocales λέγω, λέγεις, λέγει.♦  
  Daß die griechische Sprachbildung wirklich diesen Gang nahm, zeigt außer den Subjunctivformen, εἴπωμι, εἴπησϑα, έίπησι, die gleichmäßige Entstehung des Reflexivs durch Zusammensetzung mit den alten Dativen μαὶ, σαὶ, ταὶ, welche sich zu den spätern Dativen μοὶ, σοὶ, οἶ, verhalten, wie das sophokleische παπαὶ zum homerischen πόποι. Hieraus erhellet aber wiederum, daß die Formen λέγομαι, λέγεσαι, λέγεται, ursprünglich so wenig Passive waren, als Reflexive mit einem Accusativ-Begriffe; und wirklich wird man bei sorgfältiger Beachtung des altgriechischen Sprachgebrauches finden, daß z. B. ἄγομαι mehr heißt ich führe mir, als ich führe mich. Auch konte der Accusativ-Begriff leichter aus dem Dativ- Begriffe hervorgehen, als umgekehrt der im Griechischen so äußerst häufige Dativ-Begriff aus dem Accusativ-Begriffe.  
  Für den Plural der transitiven Verbalform war die zweite Person schon durch die Imperativform αγετε gegeben; für die dritte Person wählte man die Kräftigung des Singulars durch ein ν, weshalb hier ο der Bindevocal werden mußte; für die erste endlich durch ein dem Singular μι hinzugefügtes pluralisches σι, woraus durch verschiedene Vorsätze auch ἄμμες und ὔμμες, oder ἡμέες, ὑμμέες, zusammengezogen ἡμεῖς, ὑμεῖς, hervorgingen. So erhielt man den Plural λέγομες, λέγετε, λέγοντι, lateinisch legimus oder legumus, legitis, legunt, altteutsch legam, legit, legunt, wofür der Plattteutsche jetzt, vermuthlich durch das in der umendenden Conjugation gewählte t verleitet, wie liebete, gelie-  
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  bet, durch alle drei Personen legget spricht.♦  
  Der griechische Dual mag sich aus der frühern Bildung des Imperativs entwickelt haben, indem man für λέγετον, λεγέτον, in den Hauptzeiten λέγετον, λέγετον, in den historischen aber ἐλέγετον, ἐλεγέτην, setzte.♦  
  Daß der Imperativ der Griechen durch blos umlautende Flexionen aus den ursprünglichen Formen λέγε, λέγετε gebildet ward, erhellet nicht nur aus der Einführung zweier Formen für die dritte Person des Plural; λεγόντων und λεγέτωσαν, von welchen die erste aus der Kräftigung des Duals durch ein eingeschaltetes ν, die zweite aus dem pluralischen Zusatz σαν zur dritten Person des Singulars hervorging; sondern auch daraus, daß der Lateiner die Endung to für beide Personen des gesteigerten Imperativs gebrauchte, und daraus durch den pluralischen Zusatz te die zweite, wie durch die Kräftigung vermittelst eines eingeschalteten n die dritte Person des Plurals bildete.♦  
  Betrachten wir nun das Reflexiv, so finden wir, daß man zwar auch die dritte Person des Plurals durch Kräftigung des Singulars λέγεται in λέγονται bildete, an die erste Person des transitiven Plurals λέγομες aber ϑα setzte, und in den übrigen Personen des Duals und Plurals ein ϑ vor dem τ einschaltete, da dann ϑτ, wie in der synkopirten Form πέποσϑε für πεπόνϑ(α)τε, in σϑ überging. So erhielt man den Dual λέγεσϑον, λέγεσϑον, oder in den historischen Zeitformen λεγέσϑην, und den Plural λεγόμεσϑα, λέγεσϑε, λέγονται, oder in den historischen Zeitformen, welche auch für μαι, σαι, ται, im Singular μην, σο, το, annahmen, ἐλέγοντο. Hiemit ist zugleich die Entstehung des reflexiven Imperativs erklärt, der aber, wie schon der transitive Imperativ die Form λεγέτωσαν nach der Analogie der historischen Zeiten bildete, die zweite Person des Singulars durch Weglassung des Augmentes aus den historischen Zeitformen entlehnte.♦  
  Die historischen Zeitformen des Transitivs unterscheiden sich, außer dem schon erwähnten Dual, und außer der gleich anfangs aus dem Singular erwachsenen dritten Person des Plurals auf ν, oder später σαν wegen der in den Hauptzeiten eingeführten Endung σι für τι, nur durch Verkürzung des Vocales im Singular, da dann ον für ο eingeführt wurde.  
  Daß nun das lateinische Passiv mit dem griechischen Reflexive nichts gemein hat, ergibt sich auf den ersten Anblick. Der Lateiner bildete dieses, unabhängig von dem Griechen, durch Hinzufügung eines r an die Endung des Activs. So ward amor aus amo; amasr, und dafür amaris oder amare, aus amas; amatus aus amat, wie amamur aus amamus, und amantur aus amant. Nur amatis wollte dem Lateiner keine gefällige Form liefern; deshalb umschrieb er die zweite Person des Plurals, wie es der Grieche bei der dritten Person des synkopirten Perfects im Passive zu thun pflegt, durch ein altes Particip amamini mit Weglassung des Hilfswortes estis. Denn daß der Lateiner ursprünglich auch ein solches Particip hatte, erhellet aus damnum für δόμενον und alumnus für ἀλδόμενος. Im Imperative ward dessen ungeachtet der Plural amamini als Flexion von amare angesehen, und daraus für die Steigerung des Imperativ-Begriffes amaminor gebildet, nach der Analogie  
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  von amator und amantor aus amato und amanto. Dieses konte um so mehr geschehen, da man schon im Imperfecte ein amabamini und amaremini, und im Futur ein amabimini und legemini, nach der Analogie des subjunctiven Präsens amemini und legamini gebildet hatte. Der Infinitiv des Passivs amarier, später amari, und sogar blos legi für legier oder legerier, ging auf ähnliche Weise, durch Hinzufügung eines r, aus dem Transitive amare hervor, welcher durch Weglassung der Personbezeichnung aus der Optativform (denn daß diese die Griechen nicht vor den Lateinern und Teutschen voraus hatten, werden wir weiter unten sehen) amarem, wie amavisse aus amavissem, hervorging.♦  
  So wenig aber der Lateiner aus amavi, und allen daraus durch Zusammensetzung mit eram, ero oder so, erim oder sim, essem, abgeleiteten Zeitformen, amaveram, amavero, amaverim, amavissem, und faxo für fecero, faxim für fecerim, auch faxem für fecissem, eine Passivform bildete; so wenig konte dieses auch bei amavisse oder amasse, und dem aus amasso für amavero hervorgegangenen, alten Futur des Infinitivs amassere für amaturum esse geschehen: man umschrieb beide Zeiten auf verschiedene Weise, die eine durch amatum esse, die andere durch amatum iri, welche letztere Umschreibung uns auf die Entwickelung des Supinums leitet, welches die Lateiner vor den Griechen voraus haben.  
  Das lateinische Supinum ist offenbar der Accusativ und Ablativ eines Verbal-Substantivs, welches den Grundbegriff des Verbums bezeichnet, ohne selbst Verbum zu seyn, und eben deshalb benutzt wurde, um neue Verba zu bilden, wie canto, cantito, cantillo, obwol auch vielerlei Substantive und Adjective davon abgeleitet sind, wie textor, textrix, textura, textilis, textorius u. s. w. Es entspricht in der Bedeutung und dem grammatischen Geschlechte den aus der umlautenden Form im Teutschen hervorgegangenen Masculinen, wie Hieb, Bund, Bug, Satz, welche sich zu Hauung, Bindung, Biegung, Sitzung, verhalten, wie sessus zu sessio, oder auditus zu auditio, von welchen sich aber die Gerundia wieder als Casus des Infinitivs unterscheiden.♦  
  Als Nomina betrachtet, sind die Supina sowol als die Gerundia weder Activa noch Passiva, sondern Intransitiva, welche nur dann zu Transitiven werden, wenn sie, gleich den Stammverben, einen Accusativ zu sich nehmen. Darum werden sie auch beide von passiven Participen abgeleitet, wie die entsprechenden griechischen Nomina τὺς und τὸς, z. B. ἐδητὺς und ποτὸς , nebst den Verbal-Adjectiven auf τός und τέος, von der dritten Person des Perfecti Passivi mit weggelassener Reduplication.♦  
  Eben so werden die meisten teutschen Wörter, die den lateinischen Supinen entsprechen, aus den Passiven oder intransitiven Participe der Vergangenheit ohne das Augment und die Endung gebildet, wie Bund, Ruf, Lauf, Fall, Stand, Gang, Stoß, Biß, mithin auch Bug, Lug, Trug, Schluß, Fluß, Guß, wenn gleich auch Ableitungen von Praeteritis, wie Hieb, Fraß, Trank, Band, oder von Praesentibus, wie Hau, Sitz, Stich, Tritt, nicht selten sind. Hier zeigt sich aber wieder die Neigung der Teutschen, ver-  
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  wandte Begriffe durch den Umlaut zu unterscheiden, während der Grieche dafür eine verschiedene Betonung wählt: denn wie der Teutsche den Trunk vom Tranke unterscheidet, so der Grieche πότος von ποτὸς. Die lateinische Sprache, welche den Ton nie auf die letzte Sylbe mehrsylbiger Wörter legte, kent solche Unterscheidungen nicht; wenn diese aber die Participe, aus welchen die Supine abgeleitet wurden, statt auf tus, auch auf sus und xus ausgehen ließ, so muß bemerkt werden, daß, wie schon das aus dem synkopirten ἐδτὺς für ἐδητὺς hervorgegangene esus zeigt, das s die Stelle eines t mit vorhergehenden Zungenlaute einnimt, wie pulsus und tonsus, wovon expulsor und expultrix, tonsor und tonstrix gebildet wurden, für pulltus und tondtus gesprochen wird. So ward aus flecto das Particip flexus, und wenn man auch fluxus von fluo findet, wie jussus von jubeo, so sind das einzelne Ausnahmen, auf welche wir uns hier nicht einlassen können: nur nach r verschwindet das g so regelmäßig, wie das t, weshalb die Partikel versus, waerts, eben so gut von vergo, als von verto abgeleitet werden kann.  
  Von den übrigen lateinischen Participen ist das Praesens auf ns dem teutschen auf end ebenso analog, als dem griechischen auf ων für ονς, εὶς, αὶ, οὺς und ὺς für ὲνς, ὰνς, ὸνς und ύνς. Hieraus wurde aber das Participium Futuri mit passivem Begriffe auf ndus gebildet, wie das mit activem Begriffe aus dem Supinum vermittelst eines r, welches auch dem alten Futur expugnassere, womit sich die Desiderativformen auf essere, wie capessere, facessere, lacessere, vergleichen lassen, den Begriff der Zukünftigkeit mittheilte, und vermuthlich auch der bedingten Zeitform amarem, ich würde lieben, ihre Entstehung gab.♦  
  Eben daraus erklärt es sich vielleicht, warum man das r zur Bildung des Passivs wählte, da ja auch der Teutsche das Passivum sowol wie das Futurum Activi durch eine Umschreibung mit werden bildete, indem ich werde lieben für ich werde liebend gesagt wurde, wie im Participe zu lieben für zu liebend, wie das zu lesende Buch für ein Buch, welches zu lesen ist, beweiset. Im Griechischen ward das ϑ, welches, wie πλήϑω von pleo zeigt, dem Worte eigentlich einen intransitiven Begriff gab, zur Bildung des passiven Begriffes benutzt: so unterscheidet sich wenigstens das rein passive Particip τυφϑεὶς vom intransitiven τυπεὶς. Denn daß dieses ursprünglich kein Passiv war, erhellet schon daraus, daß sich ἐτράπη von ἐτραπε nur durch Verlängung des Endlautes unterscheidet, und sich zu τραπήσεται verhält, wie ἔβη zu βήσεται; demzufolge es gegen die Analogie streitet, wenn man ἐαλων und ἁλώσομαι als Passiv behandelt, ἔγνων und γνώσομαι, oder ἐβίων und βιάσομαι, als Activ, da bei beiden der intransitive Begriff, der freilich eben so gut transitiv als passiv werden kann, zum Grunde liegt.♦  
  Hiedurch wird es dann völlig klar, wie grundlos man verfuhr, wenn man dem lateinischen Activ und Passiv zu lieb auch in der griechischen Sprache eine active und passive Form annahm, und dann sich wunderte, auch eine active Form mit passiver Bedeutung, wie umgekehrt eine passive Form mit activer Bedeutung zu finden. Schon  
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  die Regelmäßigkeit, mit welcher das griechische Reflexiv aus dem Transitiv sich bildet, dessen Hauptzeiten auf μαι, wie die historischen auf μην ausgehen, hätte aus pädagogischen Gründen, welche das Leichtere vor dem Schwereren zu lehren verlangen, darauf führen sollen, die Unterscheidung einer activen und passiven Form mit einer transitiven und reflexiven zu vertauschen, und die anomalische Bezeichnung des passiven Begriffes erst am Ende zu zeigen. Zugleich erhellet es aber, wie wenig analog es sey, ἐτύπην und τυπήσομαι ins Passiv zu ziehen, ohne ein Gleiches bei ἔστην und στήσομαι zu thun, welche doch schon die passiv-intransitive Bedeutung von den Transitiven ἔστησα und στήσω ausscheidet.  
  Für die unmittelbare Entwickelung des Reflexivs aus dem Transitive sprechen auch die ionischen Formen historischer Zeiten auf σϰον und σϰόμην, deren das reine Passiv nicht fähig war: denn man findet kein τύφϑεσϰε oder τεϑεσϰετο, wie man τύψασϰε und ϰέσϰετο für ϰεῖτο sagte. Wenn man aber ἴσϰε für ἦ gebraucht, sah, wie ἔσϰε für ἦν, so hätte dieses bemerklich machen sollen, daß ἦ nicht durch Apokope aus φῆ gebildet sey, wofür nur φάσϰε gesagt werden konte: und wenn man Homers Reichthum an Tempusformen bemerkt, in welchen ἔτραπε einen intransitiv-activen, ἐτράπη einen intransitiv-passiven, ἔτρεπε einen transitiv-continuativen, ἔτρεψε einen transitiv-momentanen Begriff bezeichnet, dann die Form auf σϰε noch einen iterativen Begriff gibt, so wie sie, besonders in Vergleichungen, durch die aus τις hervorgegangene und dem frankfurtischen alls entsprechende Partikel τε einen indefiniten Zusatz erhalten, welches aus der Formel ὧδε δέ τις ἔιπεσϰεν (so sprach alls einer oder mancher) deutlich wird; so leuchtet es ein, daß der griechische Aorist nicht sowol eine besondere Zeitform, als ein besonderer Modus temporis ist, dessen Begriff einer jeden Zeitform mitgetheilt werden kann, wenn er gleich im griechischen Indicative nur als historische Zeitform vorzukommen pflegt. Da aber in den übrigen Redeweisen mehr der momentane als der historische Zeit-Begriff des Aoristes vorwaltet, so steht er daselbst nicht nur für alle Zeiten, sondern ist auch einer doppelten Subjunctivform, sowol für das Haupttempus, als für die historische Zeit, fähig.♦  
  Dieser Umstand hat die Grammatiker verleitet, der griechischen Sprache einen besondern Modus anzudichten, den sogenanten Optativ, welcher doch, wie schon die Personalendungen, und die dem teutschen a, ö, ü in wäre, könnte, dürfte, analoge Umlautung durch ein i zeigen, nichts anderes ist, als das historische Tempus des Subjunctivs, welches die lateinische und teutsche Sprache so gut hat als die griechische, ja die teutsche Sprache noch durch eine besondere Bedingungsform mit der Umschreibung würde überbietet, so wie diese auch einen besondern Subjunctiv des Futurs hat, welcher der griechischen und lateinischen Sprache fehlt, indem z. B. amaturus sim nicht zu amabo, sondern zu der ganz verschiedenen periphrastischen Form amaturus sum gehört, das sich von amabo unterscheidet, wie amavi von amabam.  
  Wie das teutsche würde von werde stamt, bildete die französische Sprache, ihrem lateinischen Stoffe  
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  eine teutsche Form unterschiebend, ihr aimerois aus aimerai, welches selbst sie, wie Raynouard erwiesen hat, aus aimer-ai für amare habeo (habe zu lieben) zusammensetzte. Dieses mag es entschuldigen, wenn wir auch das lateinische amabam und amabo aus einer Zusammensetzung mit dem altgriechischen βῆν oder βᾶν und βῶ entstanden glauben. Ist gleich βῶ eigentlich der Subjunctiv, so hindert dieses jene Entstehung nicht, da ja auch das griechische Futurum λέξω, wie das lateinische legam, aus dem Subjunctive des Aorists oder Präsens hervorging, wie vorzüglich das lateinische Futurum exactum beweiset. Nur bildete der Grieche sein Futurum durch Verkürzung des langen Vocals, wie er auch ἴομεν für ἴωμεν sprach; der Lateiner lautete dagegen den Subjunctiv legat noch einmal in leget um, wie er amet für amaat sagte.♦  
  Ob nun aber auch das teutsche Imperfect auf te aus einer Zusammensetzung mit that hervorging, wie Bopp vermuthet hat, weil bei Ulfila Luc. VIII, 3. dessen dritte Person im Plural von andbahtan (ambten) andbahtededun lautet, kann sehr bezweifelt werden, da das t des Particips hinreichte, ein solches t auch dem Imperfecte zu geben. Das Wort that selbst scheint sein t am Ende nur zu mehrer Kräftigung des Begriffs angenommen zu haben, weshalb Grimm nicht wohl daran gethan hat, die umendende Conjugation, deren Particip der Vergangenheit auf ein t ausgeht, die schwache, die umlautende dagegen, welche jenes Particip mit einem n beschließt, die starke Conjugation zu nennen; da Voß schon in dem Ausdrucke guten Muthes für gutes Muthes das n mit Recht als ein faules ausgezeichnet hat, weil es in den Adjectiven nur den Mangel einer kräftigen Form ersetzt.♦  
  Auch das Particip der Gegenwart ward, wie im Griechischen und Lateinischen, durch ein t am Ende gekräftigt, welches, wie in sind, nur wegen des vorstehenden n in d gemildert wurde, und bei der oben angegebenen Bildung des Futurs ganz wegfiel, wie man ich fand ihn schlafen für ich fand ihn schlafend sagt.  
  Eben dieses kann unsere Meinung begründen, daß der teutsche Infinitiv, welchen wir, so wie er das letzte Erzeugniß in der Bildung der Verbalformen war, nun auch zuletzt noch zu betrachten haben, durch Weglassung des kräftigenden d aus dem Participe der Gegenwart gebildet sey. Zwar haben viele, welche, nicht beachtend, daß es etwas ganz anderes sey, eine Sprache erfinden, und etwas anderes, eine schon erfundene Sprache zu lernen, von den Kindern die Art und Weise, wie die Sprache sich allmählich entwickelte, lernen zu können meinten, weil unsere Kinder, des häufigen Gebrauchs der Hilfswörter wegen, den Infinitiv am öftersten hören, und deshalb mit dem Nachsprechen desselben, zugleich durch die Schwäche seiner Form unterstützt, den Anfang zu machen pflegen, den Infinitiv auch für den ältesten Theil des Verbums gehalten,, wobei denen, welche die hebräische Sprache zugleich für die Sprache Adams im Paradiese hielten, und nur dreibuchstabige Formen für hebräische Wurzellaute erkannten, Formen, wie {hebräischer Text} und {hebräischer Text} zu Hilfe kamen. Allein, wenn nicht schon der  
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  abstracte Begriff eines Infinitivs die Nichtigkeit jener Meinungen widerlegte, so müßte dieses die Bemerkung bewirken, daß der altgriechische Infinitiv τυπτέμεναι, welcher sich erst allmählich in τύπτειν oder τύπτεν abschliff, zu den längeren Formen der Sprache gehört. Daß dieser Infinitiv nicht aus dem Participe des Reflexivs oder Passivs, welcher selbst durch die Adjectiv-Endung νος der Sprachform, die der Stammform νς in transitiven oder intransitiven Participe entspricht, aus dem Indicative auf μαι hervorging, gebildet seyn könne, würde schon das regellose ε an der Stelle des Bindelautes ο beweisen, wenn es nicht auch sonderbar schiene, eine Transitivform aus dem Reflexiv zu bilden.♦  
  Auch wäre damit noch nicht die Bildung des Infinitivs im Reflexiv oder Passivs aufgeklärt, weshalb wir uns oben schon geneigt erklärt haben, τυπτέμεναι als eine Zusammensetzung mit dem Infinitiv ἔμεναι zu betrachten. Da dieser nun ursprünglich auch ἔσμεναι gelautet zu haben scheint, wie nicht nur ἐστὶ und ἐσμὲν, sondern auch die lateinischen Formen sum, es, est, für esum, esis, esit, zeigen; so konte bei Einschaltung eines passiven ϑ aus τυπτέσϑμεναι leicht die Form τύπτεσϑαι hervorgehen, wie τύψαι aus τυψάμεναι ward.♦  
  Ἔμεναι selbst aber war vielleicht, wofern nicht jemand eine bessere Erklärung auffindet, eine Zusammensetzung des Wurzellautes ἐ oder ἐς, welcher sich, da das griechische ἴσϑι den Actis philologorum Monacensium T. III. p. 562 sq. zufolge nur zu ἴσημι gehört, im lateinischen es und esse zeigt, mit einem alten Dativ von μένη für μένος, wie man auch γένη für γένος sprach, da sein nichts anders ist, als der Grundbegriff des Wortes ist in der Vorstellung.  
  Mit Fleiß haben wir bei allen Deductionen der Verbalformen in den drei Mustersprachen, der griechischen, lateinischen und teutschen, das Sanskrit nicht berührt, weil, wer dieses zu vergleichen wünscht, in Bopp's Schriften nicht nur, sondern auch in Humbold's Abhandlung, welche der indischen Bibliothek von Schlegel einverleibt ist, in Schmitthenner's Ursprachlehre u. s. w. hinreichende Aufklärung findet, die Erwähnung des Sanskrit aber uns auch genöthigt hätte, mancher andern Sprachen zu erwähnen, unter welchen die vielleicht die beste Aufklärung gebende Zend-Sprache erst noch, was hoffentlich bald geschieht, mehr aufgehellt werden muß.♦  
  Noch fügen wir aber zu den obigen Bemerkungen das Resultat hinzu, daß die Bildung des Verbums in den verschiedenen Sprachen einen ganz andern Gang genommen hat, als die Vernunft zu fordern scheint; und daß diejenigen Verhältnisse, welche am Verbum als der eigentlichen Aussage des Urtheils wesentlich zur Bezeichnung sind, entweder gar nicht durch Flexionen angedeutet werden, wie die Bezeichnungen der Qualität des Urtheils, oder erst sehr spät und zum Theil sehr unvollkommen bei wenigem andern Überflusse sich auf die mannigfaltigste, nur historisch zu erfassende Weise entwickelten, wie die Tempora und Modi, während man auf die Bildung unwesentlicher Formen, wie der Personen, der Zahl und des Geschlechtes, welche neuere Sprachen, wie die engländische, als unnöthig für den Verstand, wenn gleich sehr  
S. 97 Sp. 1 CONJUGATION ⇧ Inhalt 
  willkommen für andere wesentliche Zwecke, wieder abzuwerfen strebten, fast alle seine Kraft verwendete, in welcher Hinsicht die hebräische Sprache besonders ihre Kindheit verräth.♦  
  Mag aber, sofern jede gegebene Sprache vom Bedürfnis ausgeht, Buttmann’s Bemerkung, daß in dieser Beziehung die Unterscheidung von Zeit- und Modal-Bedeutung im Verb selbst so wenig etwas Wesentliches für dem Begriff des Verbums sein, daß wir Sprachen kennen, in welchen sie noch sehr schlecht entwickelt sind, noch so gegründet sein, immerhin bleibt dieses ein wesentlicher Mangel für das höchste Bedürfnis jeder Sprache, für die Verständlichkeit, und insofern bedarf es der höhern Ansichten der Vernunft, um die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit einer Sprache und ihres eigentümlichen Geistes zu würdigen. Darum wollen wir weder auf die Vernunft-Sprachlehrer verächtlich herabsehen, noch glauben, daß es bei einer gegebenen Sprache genug sey, aus höhern Principien zu philosophiren, ohne die Entstehung jeder Form historisch zu erforschen.
   
HIS-Data 5139-1-19-86-3: Allgemeine Encyclopädie: CONJUGATION HIS-Data Home
Stand: 5. April 2018 © Hans-Walter Pries