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DEMOKRATIE, ist diejenige Form einer Statsregierung, wodurch das ganze Volk
an der Regirung Antheil hat. Die Art und Weise, wie das letztere geschehen könne, ist nicht leicht zu
finden, und einige Individuen scheinen fast immer vom Regierungsantheil ausgeschlossen werden zu
müssen, nämlich die Nichterwachsenen, die Weiber, die Unselbstständigen, deren bürgerliche
Existenz durch persönliche Dienste und Verpflichtung von |
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andern abhängt. Wenn ferner die bürgerliche Gesellschaft nicht auf wenige
Familien eingeschränkt oder auf den Raum einer Stadt und ihres Gebiets begrenzt ist, wenn der Stat
ein Ganzes von Provinzen und vielen Städten ausmacht, so muß die Schwierigkeit einer Volksregirung
in besonderem Maße steigen. |
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Man hat deswegen eine eigentliche Demokratie für größere Staten als etwas
Unpassendes, ja Unmögliches betrachtet. Volksversamlungen, welche in kleinen griechischen Städten
gehalten werden konnten, sind undenkbar für große Reiche, und doch kann der Wille und Beschluß
des ganzen Volkes nur aus solchen Versamlungen erkannt werden. Aber auch kaum aus diesen; denn
wird je die zahlreiche Masse ganz einig seyn? Ist sie es aber nicht, welches ist dann der Wille des
Volks? Die Mehrheit der Stimmen beweist freilich für den größern Theil, aber dadurch ist die
Minderzahl, welche doch gleichfalls einen bedeutenden Theil des Volkes ausmacht, von dem
Volkswillen ausgeschlossen, also der Beschluß der Mehrzahl nicht ein Beschluß des ganzen Volks.
Dennoch hat Stimmenmehrheit bei Volksversamlungen immer für einen Ausdruck des Ganzen
gegolten, offenbar deswegen, weil irgend ein Resultat nur auf diese Weise gewonnen werden konnte.
Strenge genommen beherrscht und regirt dann das Volk nicht sich selbst, sondern die Majorität die
Minorität. |
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Sobald, statt der Volksversamlung selbst, gewisse vom Volke erwählte
Repräsentanten zusammentreten und Beschlüsse für Regirungsangelegenheiten fassen , ist schon keine
eigentliche Demokratie mehr vorhanden. Sind nämlich die Repräsentanten nur sich selbst und ihrem
Gewissen verantwortlich, so hat das Volk ihnen seinen Regirungsantheil übergeben; sind die
Repräsentanten an gewisse Instruktionen gebunden, so wird dies eine Menge von Verwickelungen
veranlassen, die den demokratischen Willen noch mehr verwirren, und wobei dieVolksversamlungen
am Ende wieder den Ausschlag geben müßten. Darum ist in größern Reichen, z. B. in England, die
Volksrepräsentation unabhängig von Instruktionen ihrer Wähler, und das Volk hat denselben im
Vertrauen auf ihre Einsicht und Rechtlichkeit seinen Einfluß auf Regirungsangelegenheiten
übertragen. |
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Es gibt Lobredner der Demokratie, welche in dieser Art von Regirungsverfassung
das einzige Heil der Staten sehen und den Einfluß des Volkes möglichst verstärkt wünschen. Wiewol
es nun vortrefflich klingt, ein Volk solle sich selbst regiren und keinem fremden Willen unterworfen
seyn, so fanden wir doch in der Sache selbst schon die Schwierigkeit, den Volkswillen, zu finden und,
gesetzt er sei gefunden, dürfte gefragt werden, ob er der beste sei. Denn große Einsicht ist doch bei der
Masse schwerlich vorauszusetzen, desto mehr aber Leidenschaft, welche oft unbegreiflich rasch zu
den nachtheiligsten und ungerechtesten Beschlüssen hinreißt. Fast alle Schriftsteller des griechischen
Alterthums, welche ja in demokratischen Staten, wie Athen, zu leben das Glück hatten, zeigen sich der
Demokratie abgeneigt, und man merkt bei ihnen ein geheimes Weh, welches sie kaum laut zu äußern
wagen. Platon will |
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in seiner Republik durch Erziehung helfen, — um nämlich der Unwissenheit und
Leidenschaft vorzubeugen, — seine vorgeschlagenen Einrichtungen sind aber nicht demokratisch,
sondern erwarten von einem vortrefflichen Regenten, — etwa einem wahren Weisen und Philosophen,
— das Heil. Auch lehrt die Geschichte der griechischen Staten, wie schnell die Demokratie ausgeartet,
wie Einzelne den großen Haufen für sich gewonnen und nach ihren Ansichten geleitet. Es erwuchs
dann ein Alleinherrscher, Tyrann genannt, und die Demokratie hatte ein Ende. |
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Überhaupt wird das Bleibende, die Stabilität einer Regirungsform, der Demokratie
fast noch weniger eigen seyn, als andern Regirungsformen, ungeachtet manche politische Verbesserer
in demokratischen Einrichtungen die Stütze der bürgerlichen Freiheit und sonach des wahrhaft
dauernden Bleibenden und Genügenden erkennen wollten. Macchiavelli beschreibt einen Cirkel des
Formenwechsels der Regirungen, der besser durch die Geschichte bewährt seyn möchte, und worin die
Demokratie gleichfalls begriffen ist. Aus Noth der Sache entsprang die Regirung eines Fürsten; er
ward entweder gewählt, oder die Wahl von ihm selbst geboten. Erblichkeit der Regirung machte die
Fürsten schlechter, sie wurden Tyrannen. Nun entstanden Verschwörungen; die Befreier herrschten,
machten zweckmäßige Gesetze. Ihre Söhne verdarben durch Ehrgeiz oder Habsucht, die Aristokratie
ward zur Oligarchie. Letztere ward gestürzt durch Empörung des Volks. Das Andenken der
ausgearteten Fürsten war noch frisch, man kam zur Demokratie. Diese artete bald aus in Licenz, man
befand sich sehr übel und kehrte zur Herrschaft eines Fürsten zurück. |
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Weil auf solche Weise die Formen in sich verderben und jede Generation nach
demjenigen trachtet, was sie nicht hat, so darf es kaum Wunder nehmen, wenn das neuere Europa,
dessen Statenzustand aus dem Mittelalter mit keinen demokratischen Institutionen hervorging,
neuerdings nach ihnen sich sehnt, und besonders durch das Beispiel von Großbritannien und
Nordamerika dazu aufgeregt wird, auch durch das schauervolle Beispiel der französischen Revolution
sich nicht abschrecken läßt.♦ |
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Eine reine Demokratie, in welcher die Masse des Volks die höchste Souveränetät
selbst ausübt, aus europäischen Reichen zu bilden, könnte wol nur Schwärmern und Thoren beifallen;
alle verständige Foderung könnte sich wol nur darauf beziehen, in der Person von Repräsentanten dem
Volk einen gewissen Einfluß auf Regirungsangelegenheiten zu gestatten, und nicht, wie im Orient,
dem Gutdünken eines einzigen Machthabers oder weniger Satrapen Alles zu überlassen,♦ |
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Hier kommt die beliebte Lehre von Theilung der Gewalten und von einer
Mischung der Regirungsformen zu Hilfe. Man unterscheidet die ausübende und richtende Gewalt von
der gesetzgebenden, läßt an der letzten das Volk durch seine Repräsentanten Antheil nehmen, so daß
keine Gesetze über Auflagen, über Krieg oder Frieden mit andern Staten, über Eigenthums- und
Gewerbverhältnisse u.s. |
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w., ohne Zustimmung der Volksrepräsentanten gegeben werden können, und hält
dadurch die demokratischen Foderungen befriedigt. Großbritanniens Verfassung liefert zu solcher
Ansicht das Vorbild, es ist aber nicht mit Unrecht bemerkt worden, daß diese Verfassung eigentlich
aus einer Mischung von Erbmonarchie, Erbaristokratie und Scheindemokratie bestehe. Darum wollen
die entschiedenen Demokraten der neuern Zeit mehr als dieses, sind aber wegen der Schwierigkeit
näherer Bestimmungen in herkömmlich monarchischen Staaten nicht alle mal unter sich einig und
werden von ihren Gegnern als die Feinde des Bestehenden und der Stabilität betrachtet.
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(Köppen.) |