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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-02-0-2
Erste Section > Zweiter Theil > Einleitung > Allgemeine Übersicht der Wissenschaften
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Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
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Inhalt: Übersicht
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I. Naturwissenschaften ⇨

⇧ S. X    
Forts. S. X Seitdem man, unbefriedigt mit blos erfahrungsmäßiger Aufzählung zufälliger Aggregate von Wissenschaften, den Baum der Erkentnisse in seinem wahren organischen Leben darzustellen versuchte, hat man besonders zwei Eintheilungen der Wissenschaften in Vorschlag gebracht, nach ihrer Erkentnißart und ihren Gegenständen. Nach ihrer Erkentnißart theilte man sie ein in rationale und historische, was man in Einstimmung zu bringen suchte mit ihrer Erkentnißquelle: Vernunft und Erfahrung. Wenn aber auch dies genügend wäre, so taugt es doch besser da, wo von Methode gehandelt wird, als wo es darauf ankommt, der Wissenschaften organischen Zusammenhang zu zeigen. Wir halten uns daher an die zweite Eintheilung, bei der man nur darüber gewiß seyn muß, was überhaupt Gegenstand der Wissenschaft sey. Dies zeigt, am kürzesten wenigstens, der Zweck aller Wissenschaft, der sie von jedem andern Wissen, Kennen und Können, Lehre und Kunde, unterscheidet. Dieser Zweck ist: durch Erkentniß**) die allgemeinen und wesentlichen Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen, gleichviel, ob man unter Menschheit hier verstehe die Gesamtheit der Naturanlagen eines menschlichen Individuums, oder die Resultate der Ausbildung im ganzen menschlichen Geschlechte. Nur so viele Gegenstände menschlicher Wissenschaft kann es geben, als es in der Menschheit allgemeine und wesentliche Bedürfnisse gibt, nach deren Befriedigung der zur Besonnenheit und Geistesthätigkeir erwachte Mensch zu streben von seiner Vernunft selbst sich gedrungen fühlt.
 
  • **) Die, als solche, schon Begründung, Zusammenhang und Vollständigkeit in sich schließt, und eben dadurch von der blossen Kentniß sich unterscheidet.
 
S. XI Welches diese Bedürfnisse sind, würde Keiner fragen, wenn den Menschen beim Eintritt ins Leben nicht eine so lange Bewußtlosigkeit begleitete, und dann durch unvermerkte Angewöhnung der Reiz für die Betrachtung seines Lebens und des Schauspiels der Natur, oft bis zur Gedankenlosigkeit, abgestumpft würde. Mit aller Gebrauchsfähigkeit der Kräfte seines Geistes auf einmal zum Gefühl seines Daseyns und zum Bewußtseyn beim Anblick der Natur erwacht, würden seine ersten Fragen seyn: Was ist das alles, was ich um mich erblicke? Was bin ich selbst? Drängen würde es ihn, die Welt um sich, und sich selbst in ihr kennen zu lernen. Erfahrung lehrt ihn beide kennen, macht aber auch ihm fühlbar, daß sie beide, sein Ich und sein Nicht-Ich, in einem Wechselverhältniß zu einander stehen, das ihm zu seinem glücklichen Daseyn nicht unbekannt bleiben darf. Darum untersucht er nun die Natur der Welt, seine eigne Natur, und forscht den Verhältnissen nach, worin beide zu einander stehen. Dies kann er nicht, ohne bald zu bemerken, daß nicht alles was ist, auch besteht. Während er dem festen beharrlichen Seyn und den rastlos wechselnden Veränderungen und Verwandlungen nachforscht, sieht er verschiedene Wesen aus der Reihe des Daseyns und Wirkens völlig verschwinden, und mit Unruhe beschäftigt ihn der Gedanke an Sterblichkeit, an einen allenthalben in der Natur mit unbesiegbarer Macht waltenden Tod.Wozu das alles? fragt er nun; was ist die Bestimmung von allem diesem, und was meine eigne? Vielfach geschärft soll der Reiz um Antwort nach dieser Frage ihm noch werden durch schmerzliche Erfahrungen. Nie verläßt ihn der Wunsch nach Wohlseyn, nach einem dauernden glücklichen Zustand: aber die Natur tritt gegen ihn in den Kampf, zernichtet die Werke seines Fleißes, beraubt ihn seiner Genüsse und seiner Hofnungen, so daß er, verstört in seinem Innern, ein Raub der peinlichsten Zweifel, ausruft: Warum dies alles? Woher dies alles? Das Quälende seiner Lage dringt ihm den Wunsch ab, an Wesen seiner Art sich fester anzuschließen, ob er vielleicht in vereinter Kraft auch verstärkte Kraft gegen die ihn besiegenden Gewalten finde. ― So schließt er sich denn fester an Wesen seiner Art. Wahr ist's, er findet sich da für viele Fälle gesicherter, und die vereinte Kraft reicht weiter als die einzelne, allein ― er soll auch dieses neue Glück durch Verlust erkaufen. Seine Wünsche und der Andern Wünsche, seine Bedürfnisse und ihre Bedürfnisse, seine Neigungen, Begierden, Leidenschaften gerathen mit den ihrigen in unaufhörlichen Zusammenstoß. Welch Mittel nun, um zu verhindern, daß Raub und Mord nicht ewig in der Gesellschaft wüthen? Kein anderes, als Aufopferung seiner ehemaligen unbeschränkten Freiheit. Zwei furchtbare Wächter werden gegen diese gesetzt, Zwangsrecht und Pflicht, denen er seine Wünsche, Neigungen, Begierden und Leidenschaften streng und schonungslos überall unterwerfen, durch die er seinen Willen unerbittlich zügeln soll. Furchtbar war ehemals der Kampf der Natur gegen ihn, furchtbarer ist jetzt der Kampf in seinem Innern, denn seitdem er etwas soll, fühlt er den unauslöschlichen Trieb nach Glück in sich an die Pflicht gleichsam verrathen, und ist mit sich selbst im Innersten entzweit. Wie ― ruft er aus ― wie kann ich diesen Kampf enden? Wie finde ich meine verlorne Selbsteinigkeit wieder? Welcher neue Zustand  
S. XII gibt Hofnung, Rettung, Ersatz? — Wer hat mir dies alles veranstaltet? Zu welchem Endzweck ist es so veranstaltet? Was soll daraus werden?  
  In allen diesen aufgeworfenen Fragen sind die allgemeinen und wesentlichen Bedürfnisse der Menschheit angegeben, denn kein Mensch erwacht zu geistigem Daseyn, ohne sich dringend aufgefodert zu fühlen, sie aufzuwerfen; und wer sie einmal aufgeworfen, der wird der innern Unruhe nicht los, bis er nicht wenigstens zu einiger Befriedigung sich dieselben beantwortet hat. In ihnen liegt das große Räthsel des Daseyns, welches zu lösen jedem von uns mit der Geburt aufgegeben ward, und zu dessen Lösung nur der ganz Stumpfsinnige keinen Reiz in sich fühlen kann.
  Als allgemeines und wesentliches Bedürfniß der Menschheit kündigt sich diesemnach an: Erkentniß der Natur, Erkentniß des Menschen, Erkentniß der Verhältnisse beider zu einander, Erkentniß der Bestimmung und des Endzwecks des Menschenlebens, Erkentniß der zweckmäßigsten individuellen und gesellschaftlichen Einrichtung des Menschenlebens, Erkentniß der Ursache der Natur und des Menschen. ― Damit hätten wir denn zugleich die Gegenstände der menschlichen Wissenschaften gefunden. Der menschlichen, sage ich, denn ob es für andre Wesen nicht andre geben könne, wer weiß das? Für Menschen aber gibt es keine anderen, keine wichtigeren und höheren.
  Nach genauerer Betrachtung wird man nicht anstehen, sie sämtlich in drei große Classen einzutheilen: 1) Natur-Wissenschaften; 2) Anthropologische Wissenschaften; 3) Transcendente Wissenschaften. Zu ergründen die Idee der Natur, die Idee der Menschheit und die Idee der Gottheit, ist im Allgemeinen die Beschäftigung aller Wissenschaft, deren nothwendiger Zusammenhang unter einander schon hieraus einleuchtend wird. ― Betrachten wir aber zuvörderst, was dies Allgemeine Besonderes unter sich befaßt.
S. XII ⇩  
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Stand: 7. Oktober 2017 © Hans-Walter Pries