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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-02-0-6
Erste Section > Zweiter Theil > Einleitung > Positive Wissenschaften
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Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
Hinweise: Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Bearbeitung
Inhalt: Übersicht
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Politische Wiss. ⇨

⇧ S. XXXIII    
Forts. S. XXXIII Kehren wir nach diesem gewonnenen Resultate zurück zu unserer oben geäußerten Bedenklichkeit, und wir werden uns erklären können über  
S. XXXIV die positiven Wissenschaften.
  Es gibt bereit überhaupt zwei:
  Positive Theologie,
  Positive Staats- und Rechtswissenschaft.
  Seit langer Zeit sind beiden sehr bedenkliche Vorwürfe gemacht worden. Die positive Theologie hat zwar überall die Idealität des Menschen anerkannt (und wie hatte sie ihre Quelle verleugnen können!), aber behauptet, nur in der Unendlichkeit sey dieselbe erreichbar. Die Politik und Rechtswissenschaft dagegen leugnete geradezu die Idealität und alle Anwendung davon auf Politik und Recht, und ein Thor und Schwärmer ward der gescholten, der sich auf Ideale einließ. Die Politik dünkte sich am weisesten, wenn sie den Grundsatz behauptete, man müsse die Menschen nehmen wie sie sind, und nicht wie sie seyn sollen. ― Wie sie sind, sagten ihre Feinde, d. h. wozu du sie gemacht hast, allerdings erbärmlich genug. Eben diese Feinde vereinigten dann jene beiden Vorwürfe in Einen, und behaupteten, die Politik habe mit der Theologie einen Bund geschlossen, die Idealität auf ein künftiges Leben zu verweisen, damit ihre Anweisungen auf dieses künftige Leben für unterdrückte Rechte und geraubtes Glück in dem jetzigen desto mehr Beglaubigung erhalten möchten. Die Geschichte, sagen sie, spreche, allzu laut dafür, als daß eine Widerrede, ja nur ein Zweifel Statt finden könne. Theologie, Politik und Rechtswissenschaft werden mithin hier dargestellt als die drei mächtigsten Verschwornen gegen die Menschheit, als eigennützige Verräther ihrer guten Sache, Unterdrücker ihrer Würde.
  Kein Kundiger kann das Gesagte so mißverstehen, als sollte hier allein von christlicher Theologie, von der Politik eines Landes, und den Rechtsgrundsätzen eines Staates die Rede seyn, denn der positiven Theologien gibt es ja viele, und Politik und Rechte wechseln mit den Grenzen der Länder. ― Hier aber liegt eben der Stein des Anstoßes; denn das Wahre und Rechte, kann dies eben so vielfach seyn? Urtheilt jeder gesunde Sinn, nur Eins könne das Wahre, Eins nur das Rechte seyn; so muß nothwendig gerade die Menge zu Vergleichung und Prüfung einladen, oder selbst der Philosoph muß zugeben, daß in jedem Lande, was eben da gelehrt wird, wahr, und was eben da gefodert wird, recht ist. Wer dies zu behaupten vermag, der hat allerdings den gegründetsten Verdacht gegen sich, daß er Gewalt als Recht geltend machen, und die Macht des Glaubens misbrauchen will, um durch Furcht auch über das Grab hinaus, ― diesen sonst rettenden Hafen für alle Leidenden ― Unrecht und Tyrannei schweigend dulden zu machen, und das Heiligste der Menschheit in ein fluchwürdiges Werkzeug des Despotismus zu verwandeln, welchem allein die Humanität ein Greuel ist, weil ihm daran liegt, sich von der Verächtlichkeit der Menschen zu überzeugen, um sie desto unbesorgter mit Füßen zu treten.
  Ist man nun aber unter diesen Umständen weder in Constantinopel, noch in Benares, noch in Peking, noch in Berlin sicher, das Wahre und Rechte schon darum zu haben, weil man in Constantinopel, Benares, Peking oder Berlin geboren ist; sondern ist es vielmehr keinem Zwei-
S. XXXV fel unterworfen, daß der in Berlin Geborne etwas Anderes für wahr und recht halten müßte, wenn er in Peking geboren wäre: wie will man denn unter der Menge von Positivem entscheiden, welches das Wahre und Rechte enthält, wenn es dafür nicht einen allgemeingiltigen Maasstab gibt? Dieser Maasstab kann kein andrer seyn, als die allgemeine Menschenvernunft, die der Mensch nicht aufgeben kann, ohne zugleich alle seine Ansprüche auf die Würde und Rechte der Menschheit aufzugeben. ⇧ Inhalt 
  Wem fallen hiebei nicht die seltsamen Fragen ein: ob es nicht gefährlich sey, die Aufklärung zu befördern? Ob ungehemmte Aufklärung nicht schädlich sey? Wie weit die Aufklärung gehen dürfe? Diese Fragen waren gewöhnlich Vorläufer von Censur- und Religions-Edikten, die man ertheilen zu müssen vorgab zur Erhaltung des Staates. In Wahrheit aber, die Herren, die, dem Staate zu gefallen, behaupteten, das Volk dürfe nicht gebildet werden, thaten der Verfassung des Staates damit eine sehr schlechte Ehre an, indem sie sich nicht scheuten zu erklären, daß diese Verfassung des Staates die schädlichste und verwerflichste sey, die man sich denken kann. Eine Staatsverfassung, die nicht leiden wollte, daß die Bürger vernünftige Menschen wären, guter Gott, was müßte das für ein Ungeheuer seyn! So viel indeß getraute man sich freilich nicht zu behaupten, das Volk dürfe durchaus nicht vernünftig seyn, sondern man sagte nur: ja, vernünftig wol, nur nicht gar zu vernünftig, die Aufklärung muß ihre Grenzen haben! Nun unterschied man, so erbärmlich als möglich, zwischen wahrer und falscher Aufklärung, ohne zu bedenken, daß das, was man falsche Aufklärung zu nennen beliebte, eben so wenig Aufklärung, als falsche Tugend — Tugend ist.
  Hat es aber eine Zeit gegeben, wo die positiven Wissenschaften solche Vorwürfe verdienten und die Feindschaft gegen sie rechtfertigten, so brach doch auch eine Zeit an, wo diese positiven Wissenschaften zur Selbsterkentniß kamen, und zwar nicht aufhörten, positiv zu seyn, aber doch nicht gerade auf das Positive trotzten, weil es positiv war. Man sah ein, daß alles Positive, das theologische, politische und juridische lediglich einen historischen Ursprung haben könne, denn es ist Satzung und gilt durch Autorität. — Da nun aber wenigstens keine Autorität mehr gilt, als die der Vernunft, die auch von Gott stammt, und an deren Entscheidung wir in allen Fällen des Lebens, ja für die ganze Einrichtung des Lebens gewiesen sind; so wurde der Grundsatz immer allgemeiner angenommen, man dürfe bei den positiven Wissenschaften nicht ermüden in Untersuchung ihrer historischen Quelle, und in Prüfung der Vernunftmäßigkeit ihrer Lehren; jene müsse unverdächtig, diese probehaltig seyn.
  Der christliche Theolog findet in den verschiedenen christlichen Ländern einen verschiedenen christlichen Lehrbegriff (Dogmatik) und Kirchenglauben, herrschende christliche Religionsparteien, Staats-Religionen und geduldete Sekten. Wo so vieles sich Christlich nennt, tritt wieder ganz der vorige Fall ein, und sehr natürlich ist die Frage nach dem Echtchristlichen. Kann man ungeprüft zu Werke gehen? So wie man, um die Vorzüge der
S. XXXVI christlichen Religion vor den übrigen zu erkennen, eine Vergleichung mit denselben anstellen muß (woraus die Apologetik erwuchs), so wird man auch in Ansehung des verschiedenen christlichen Lehrbegriffs verfahren müssen. Damit aber beide Vergleichungen zu einem Resultate führen, muß in jedem Fall ein Drittes da seyn, womit verglichen werden kann. Im ersten Falle kann dies nichts anderes seyn, als die Vernunft selbst, im zweiten ist es die gemeinschaftliche Quelle, woraus alle Parteien schöpfen. Der christliche Theolog nun von jeder Partei, dem es Ernst war, sich die nöthige Überzeugung zu verschaffen, und im Gefühl der erlangten Überzeugung dereinst zu wirken, sagte sich: Die Sprache und der Geist des Orients ist es, in die Du vor allen Dingen eindringen mußt. Die Hermeneutik sagt: Die Werke jeder Nation müssen aus dem Geiste dieser Nation, das Werk jedes Autors aus ihm, aus seiner Zeit, aus seinem Lande erklärt werden. Die eine Urkunde ist hebräisch, es dürfen aber, um der wahren Ergründung willen, die übrigen Sprachen des Orients und die Literatur desselben nicht unberücksichtigt bleiben, und um den Geist des Orients kennen zu lernen, ist Studium der Geschichte des Orients und Lectüre der orientalischen Reisebeschreibungen vonnöthen. Da die andre Urkunde griechisch ist, so ist in des kritischen Philologen Schule auch diese Sprache zu erlernen, denn wie soll es sonst um die Exegese stehen? An die Spitze alles theologischen Studiums hat man daher gesetzt ⇧ Inhalt 
  Einleitung in das Alte und Neue Testament,
  Hebräische Alterthümer,
  Exegese des Alten und Neuen Testaments.
  Die allgemeine Kritik und Hermeneutik muß aus der Philologie vorausgesetzt werden.
  Nach diesem ist zu einer Vergleichung mit den übrigen orientalischen Theologien nöthig, eine Geschichte der Indischen, Ägyptischen, Chaldäisch-Persischen, Phönizischen, mit Einem Worte, der orientalischen Philosophie und Religion, wodurch die Überzeugung immer mehr sich verstärken wird, die christliche Religion verdiene eine göttliche genannt zu werden, weil sie von allen die reinste, humanste, sittlichste ist, und die wesentlichsten Bedürfnisse der Menschheit durch sie wahrhaft befriedigt werden. Und je sorgfältiger man dann in der Geschichte den Gang der Vorsehung in der Erziehung des Menschengeschlechts erforscht, desto mehr wird man diese Religion als ein Werk der Vorsehung, als ein göttliches Institut für echte Humanität betrachten. Der Lehrer der christlichen Religion hat sich demnach selbst zu betrachten als einen Priester der Humanität, und sein Beruf erscheint in einem so ehrwürdigen Lichte, daß keiner höher stehen und nützlicher seyn kann.
  Ob nun das, was er durch eigene Forschung auf diesem Wege gefunden, übereinstimmen werde mit den Ansichten Anderer, wird jetzt seine Sorge seyn.
  Kirchengeschichte, verbunden mit kirchlicher Archäologie (wozu auch die Typik gehört, zu deren Verständniß wieder die Archäologie der alten Welt überhaupt nöthig ist),
S. XXXVII Patristik (Theorie der Kirchenväter), nebst Geschichte der Philosophie und Religion bei den Griechen und Römern, mit besonderer Rücksicht auf die Mysterien, weil jene ohne diese nicht verständlich ist, ⇧ Inhalt 
  Dogmengeschichte und Symbolik (Lehre von den verschiedenen Glaubensbekentnissen)
  können ihn allein in den Stand setzen, die selbst gefundenen Resultate mit Anderer Lehrsätzen zu vergleichen. Mit wenig Erfolg würde er alles dieses studirt haben, wenn er jetzt nicht fähig wäre, die christliche
  Dogmatik,♦
 
sowol a) als Glaubens- { Lehre
wie b) als Sitten-
  auszufinden, und beide werden ihm gewiß in eben dem Grad ehrwürdiger erscheinen, als er fähig ist, diese wieder mit der Religions-Philosophie und der Moral-Philosophie zu vergleichen. Die Zeit, wo man solche Vergleichungen scheute, ist vorüber, und man hat einsehen gelernt, daß, sie verbieten, ein entehrendes Mistrauen in die gerechte Sache des Christenthums setzen heiße.
  Die Polemik, welche gegen Irrglauben, Unglauben und Aberglauben zu Felde zieht, von der ewigen Wahrheit die Menschensatzung scheidet, von dem Heiligthum der Menschheit den Schwarm wüthender Leidenschaften abwehrt, — braucht der sie wol erst zu lernen, der mit einem von der Philosophie geschärften Blicke, mit philologischer und historischer Gelehrsamkeit ausgerüstet ist? Oft genug hat die Polemik der christlichen Theologie Schande gemacht; wer mit jenen Eigenschaften reinen, wandellosen Wahrheitssinn verbindet, und also nie versucht werden kann, sie zum Werkzeug seiner Eitelkeit oder seiner Leidenschaften zu misbrauchen, der wird den Glanz ihres Ruhmes wieder herstellen, und Heil ihm, wenn er endet mit
  Reiner christlicher Irenik (allgemeine Friedenslehre),
  welche wenigstens überall den Geist der Duldung verbreitet, den man nur dann wagen kann zu schmähen, wenn man ihn — sehr mit Unrecht — verwechselt mit dem Geiste lästiger Gleichgiltigkeit für das Heilige und Ewige. In dem, was von dem Gefühl ausgeht, wobei die Einbildungskraft nothwendig mitwirken muß, und die Vernunft nur ein Veto hat, sind der Verirrungen unzählige möglich. Nur der Rohe kann mit plumper Hand ein zartes Gefühl verletzen; mit Muth und Kraft aber werde die stolze Anmaßung, die unwürdige Selbstsucht und die niederträchtige {1} Heuchelei bekämpft, denn wer Friede mit diesen schlösse, beginge einen Verrath an der edelsten Sache.
  Was man sonst noch als zu den theologischen Wissenschaften gehörig nennt, Ascetik, Homiletik, Katechetik, Liturgik, Pastoraltheologie, von diesen ist nichts zu sagen, als daß jeder, der in der Schule des Philosophen, Philologen, Rhetorikers, Ästhetikers, Anthropologen sie nicht gelernt hat, sie, — selbst nach Reinhards Geständniß — in seinem Leben nicht lernen wird. Der Theolog, der als Volksbildner auftreten will, versäume darum jene Schulen
S. XXXVIII nicht! Den Geist der Religion in den Herzen zu beleben, ihre beseligende Wirksamkeit in Glück und Unglück, in der Freude und aus dem Sterbebette zu bewähren, im Schmerz Beruhigung und Trost zu geben, und selbst zum Grabe noch freundlich an der Hand der Hoffnung zu führen, — es ist ein schöner, herzerhebender Beruf, und des Schweißes der Edlen werth!  
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S. XXXVIII ⇩  
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Stand: 7. Oktober 2017 © Hans-Walter Pries