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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-02-0-9
Erste Section > Zweiter Theil > Einleitung > Encyclopädisches Studium
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Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
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Inhalt: Übersicht
⇦ Humanitäts-Wissenschaften

⇧ S. L   ⇦ S. L: Hum.-Wiss.
Forts. S. L Ist nun aber Humanität, als derjenige Zustand worin in dem Menschengeschlecht Vernunft und Recht regiren, wo die Lüge der Wahrheit, die Willkür der Gerechtigkeit, der Wahn der Weisheit gewichen ist, wo das Gemeine nicht das Edle, der Drang des Irdischen nicht den Sinn fürs Höhere verdrängt, ― ist sie kein Wahn, kein bloßer Traum, was der wol schwerlich zugeben kann, der die Vergangenheit und Gegenwart vergleicht: wie viel verdankt dann nicht die Menschheit dem stillen Wirken jener Institute, die seit dem 12ten Jahrhundert in Europa aufblühten, alle Wissenschaften in ihrem Schooße nährten und pflegten, und endlich den zerrissenen Bund wieder herstellten, durch welchen allein die von der Vorsehung der Menschheit gesetzten Zwecke erreichbar sind. „In eben dem Grade, sagt Breyer, in welchem die Universitäten vermehrt wurden, dehnte sich auch die Sphäre des Wissens und der Geistesbildung unter unsern Vorfahren aus. Gelehrsamkeit war von nun an nicht blos ein Eigenthum der Geistlichkeit, sondern verbreitete sich auch unter den Laien, besonders aus den höhern Ständen. Das gelehrte Publikum aber gewann nicht nur an Gebiet und Festigkeit, sondern erhielt auch diejenige freie Organisation, ohne welche das Leben der Wissenschaften kaum möglich ist." Der letzte entscheidende Schritt dem Ziel entgegen geschah seit das Universitäts-Studium ein encyklopädisches Studium wurde. Sage jeder nun selbst, ob diese Richtung zu verfolgen sey oder nicht, denn ich ― muß hier abbrechen, damit es nicht scheine, als habe ein Herausgeber einer Encyklopädie dies alles nur gesagt, um diese Encyclopädie zu rühmen. Mag eine jede für unnöthig halten, wen meine Gründe nicht überzeugen konnten; mag diese für unnöthig halten, wer  
S. LI den Zustand der Krisis übersieht, worin sich gegenwärtig alle Wissenschaften befinden *), eine Krisis, welche eben sowol als die, seit kaum 20 Jahren erfolgte zum Theil totale, Umgestaltung oder höchst bedeutende Verändrung der Wissenschaften, die bei dem Alten nicht mehr ruhig beharren läßt, das  
 
  • *) Diese Krisis zeigt sich selbst in allen Grundwissenschaften. In der Mathematik streitet man sich über den Vorrang der Euklideischen und Pythagoräischen Grundansicht, die Physik wollen Einige zur objektiven Wissenschaft der Natur erheben, und fassen sie nach Art der Urwelt von der magisch-poetischen Seite auf, wahrend Andre nur mit Verstand die Empirik erweitert und gereinigt wissen wollen; der Geschichte, die von Schlözer bis auf Luden mit so viel Geist behandelt worden ist, daß erst jetzt ein Erliegen unter der Masse nicht mehr zu fürchten steht, weit eher ein Verlust der Geschichte durch deren Construction a priori, liegt ob, eine neuerdings erschienene Alterthums-Wissenschaft, die alles Vorige umstürzt, entweder aufs gründlichste zu widerlegen oder sich nach ihr umzugestalten; die Philosophie weiß nicht recht, wo sie Fuß fassen soll, ob im Gebiete des Transscendenten oder des Anthropologischen, ob sie speculativ oder kritisch verfahren, zu Platon oder Aristoteles sich bekennen soll: weshalb die Philosophen von diesen verschiedenen Parteien sich nicht anerkennen wollen, und als Schwärmer oder Gemeine sich gegenseitig wol gar — etwas unphilosophisch — schelten. Die Philologie, die ihrer Natur nach zwischen Buchstaben und Geist schwankt, bleibt sich noch am getreuesten, ja sie hat durch den Buchstaben dem Grunde, und durch den Geist hat sie der Humanität vielleicht noch mehr Vorschub gethan als je zuvor. Diese Krisis in den Grundwissenschaften muß sich nothwendig auf alle übrigen erstrecken, ja sogar auf die Künste. Wer es weiß, wie mit der Naturansicht die religiösen, poetischen und — medicinischen Ansichten aufs innigste zusammenhängen, den kann es nicht befremden, wie nun Glaube und Aberglaube, Hang nach Begreiflichkeit und Magie, Verständlichkeit und Geheimnißsucht oft die grellsten Contraste bilden; etwas, das freilich zu jeder Zeit geschehen ist, nur in jeder auf eine andre Weise. Das Eigenthümliche unsrer Zeit, in sofern es in Opposition steht mit der zu jeder Zeit sich gleichen Verstandesansicht, besteht bei der religiösen und poetischen Ansicht in einer Mystik, welche den Aberglauben statt des Glaubens heiligt, und bei der medicinischen in der Begründung des wunderthätig Geisterartigen durch den Magnetismus. Ja der Glaube wird die Stütze der Medicin genannt, und so fällt diese mit der Religion wieder zusammen wie in der Urwelt. (Weiter hat sich der Verfasser hierüber erklärt in einer dem 8ten Bande seiner Ausgabe von Wielands Werken beigefügten Abhandlung). „Unsere Zeit, — sagt ein geistreicher Schriftsteller — zu höherer Besonnenheit emporgestiegen, und mehr als jemals für jede Partei gerüstet, faßt die Gegensätze einseitig klarer und einfacher, aber, weil einseitig, auch schärfer, und schneidender auf als jemals. So äußern Idealismus und Empirismus sich in der Medicin als theoretischer und praktischer, in der Theologie als rationaler und supernaturaler Enthusiasmus, und fodern, wie Enthusiasmus stets, mit gleicher Kraft und gleichem Eifer den Richterstuhl." (Einiges über die Verwandtschaft der Medicin und der Theologie von L. A. Kähler. Kottbus 1818). Es war ganz natürlich, daß auch die positiven Wissenschaften an jener Krisis Antheil nahmen. In Politik und Jurisprudenz bewirkte sie den Kampf zwischen Herkommen und Naturrecht, Usurpation und Gerechtigkeit, in der Theologie zwischen den Deductionen der Kirche aus dem Absoluten, gleichsam einem Positiven aus dem Urpositiven, und einem auf Skepsis gegründeten Protestantismus. Daß nichts dabei bedrängter ist als die Pädagogik, begreift sich eben so leicht, als daß am Ende bloß die Philosophie entscheiden kann, wenn wir nur wüßten — welche? — Doch genug, um zu zeigen, daß es dem Manne, dem es Ernst um Wahrheit ist, nicht so gar leicht wird in unserer ― kritischen Zeit.
 
S. LII vereinte Einwirken Parteiloser, aber nicht Gleichgiltiger, doch wol wünschenswerth machen dürfte: ich kann über dieses alles nichts weiter sagen. ⇧ Inhalt 
  In irgend einer Zeit über der Zeit zu stehen, mag ein schwer zu lösendes Problem seyn, es hat es aber von jeher ein jeder gelöst, der, nicht durchaus befangen im Herkömmlichen oder Jedesmaligen, eines Ideals fähig war. Falsche Ideale haben aber oft genug die Menschheit in ihrem Vollendungsgange gehemmt, ja zurück geführt: es ist daher dringend nöthig, dem einzigen wahren Ideal Anerkennung zu verschaffen, und dringender nöthig als zu unsrer Zeit war es vielleicht nie. Nicht blos Wissenschaften und Künste befinden sich in einem Zustande der Krisis, sondern auch die Staaten und alle Classen und Stände. Änderung ist unvermeidlich; und wer wünscht nicht, daß die Änderung eine Verbesserung werden möge? Änderung und Verbesserung verhalten sich zu einander wie Revolution und Reform; jene kann auch ein Sturm bewirken, diese ist nur das Werk eines guten Willens und parteiloser Prüfung. Beide zu beweisen ist Pflicht, und wie diese ein jeder erfüllt, oder doch zu erfüllen redlich gestrebt hat, darüber richtet das nachfolgende Geschlecht.
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Stand: 7. Oktober 2017 © Hans-Walter Pries