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CANSTATT, der Name eines
Oberamtsbezirks und einer Stadt im Neckarkreise des
Königreichs Wirtemberg.♦ |
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Der Oberamtsbezirk umfaßt 1 ½
Quadratmeile, worauf nicht weniger, als 20,803 Menschen
leben, welche sich größtentheils vom Boden nähren. Er enthält
1 Stadt, 3 Marktflecken, 16 Dörfer und Weiler, 3 Höfe, mit
2719 Haupt- und 1190 Nebengebäuden, in einem
Brandversicherungs-Anschlage von 2,215,775 fl. Das
steuerbare Grundeigenthum besteht in 12,790 wirtemberger
Morgen Acker, 2406 M. Wiesen, 4859 M. Weinberge, 3989
M. Gärten und Baumgüter, 5115 M. Wald und 417 M. Weiden
— zusammen 29,576 M. Der Viehstand besteht in 347
Pferden, 6527 Stück Rindvieh, 3160 Stück Schafen etc. Die
Zahl der Mühlen und Werke ist 42, der Wirthschaften 134, der
Getränkefabriken 32; Die jährliche Statssteuer beträgt: a)
Grundsteuer 19,297 fl., b) Gebäudesteuer 6608 fl., c)
Gewerbssteuer 4442 fl. Der Bezirk gehört zu den fruchtbarsten
des Königreichs und hat starken Weinbau; seine Bevölkerung
ist die stärkste des Landes. —♦ |
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Canstatt, die Stadt, liegt unter 26° 53' L.
48° 48' Br., 1 Stunde von Stuttgart, am Neckar, dessen Spiegel
hier 658 P. F. über der Meeresfläche erhaben ist. Sie zählt
3654, mit Fremden nahe an 4000, meist evang. Einwohner, ist
Sitz eines Oberamts, Oberamtsgerichts, eines evang. Dekanats,
einer Cameralverwaltung, eines Oberamtsarztes , eines
Oberzollamtes und einer Salzfaktorei. Die Stadt ist mit
Mauern, Graben und 4 Thoren versehen; an dieselbe schließen
sich 2 kleine, erst in neuern Zeiten entstandene, Vorstädte an,
eine dritte und bedeutendere Vorstadt, die alte Neckarvorstadt,
liegt auf dem linken Ufer des Neckars und ist mit der Stadt
durch eine hölzerne, auf steinernen Pfeilern ruhende Brücke
verbunden, welche eine Hauptbrücke des Landes, übrigens in
sehr |
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schlechtem Zustande ist. Die Vorstadt hieß
ehedem Brie, Bria, auch Pria, vielleicht durch Versetzung
von Ripa. Der Namen der Stadt wird sehr verschieden
geschrieben, die älteste und der wahrscheinlichen Ableitung
am nächsten kommende ist Canstatt, Canstat. Die Lage der
Stadt ist äußerst angenehm, die Stadt selber aber unregelmäßig
und unfreundlich. Die Einwohner theilen sich in zwei
Gemeinden, eine lutherische und reformirte, wovon jede ihre
eigene Pfarrkirche hat; die reformirte Gemeinde zählt jedoch
nicht mehr als 17 Mitglieder. Sie ist ein Nest der aus ihrem
Vaterlande vertriebenen Waldenser und Hugenotten, welche
sich im J. 1699 und später in Canstatt niedergelassen
haben.♦ |
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Die Einwohner nähren sich vom Wein- und
Feldbau, zum Theil auch von Gewerbe und Handel. Unter den
Gewerben zeichnen sich 2 Türkischrothfärbereien, verbunden
mit Baumwollspinnereien und eine Tabaksfabrik aus. Der
Handel besteht hauptsächlich in Speditionshandel, welcher zu
Wasser und zu Land, neuerlich besonders thätig von dem
Hause Keller, betrieben wird. Der Neckar ist von Canstatt an
abwärts schiffbar und es befindet sich bei der Stadt ein Krahn.
Ein wichtiger Nahrungszweig für die Stadt sind auch ihre
Bade- und Brunnenanstalten.♦ |
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Der Boden der Stadt enthält einen seltenen
Reichthum von Mineralquellen. Man zählt ihrer, außer mehren
kleinern Quellen, nicht weniger als 9 Hauptquellen. Es sind
durchaus sogenante Sauerbrunnenquellen, welche bei einer
Temperatur von 15 bis 16 Gr. R., ein salinisch kohlensaures
Wasser von sehr wirksamen Eigenschaften liefern. Die
Bestandtheile der Trinkquelle und mehr oder weniger auch der
andern Quellen in 1 Pfd. Wasser sind: kohlensaures Gas 23,33
Cz. salzsaure Kalkerde 0,142 Gr., salzsaure Bittererde 0,05
Gr., salzsaures Natrum 19,50 Gr., schwefelsaures Natrum 7,75
Gr., schwefelsaure Kalkerde 11,20 Gr., schwefelsaure
Bittererde 2,125 Gr., kohlensaure Kalkerde 7,142 Gr.,
kohlensaure Bittererde 0,142 Gr., kohlensaures Eisenoxyd
0,142 Gr. Diese Quellen gaben schon vor mehren
Jahrhunderten und, wie man aus neuern Entdeckungen zu
vermuthen berechtigt ist, schon zur Zeit der Römer
Veranlassung zu einer Badeanstalt. Aber erst in neuern Zeiten
fing Canstatt an, in die Reihe des eigentlichen Kurorte
einzutreten, und seit 15 Jahren erhielt es 3 ganz neue
Badeanstalten nebst einer Brunnenanstalt, welche insgesamt
sehr gut eingerichtet und stark besucht sind. Die Badeanstalten
sind sämtlich Privateigenthum, der Brunnen ist öffentliche
Anstalt. —♦ |
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Außerdem beschränken sich die
öffentlichen Anstalten auf die gewöhnlichen Schulanstalten
wirtemb. Landstädte, und eine Spitalanstalt wurde neuerlich
durch Abbruch der Gebäude in eine bloße Almosenspende
verwandelt. In frühern Zeiten hatte C. das Hauptpostamt von
Wirtemberg, im J. 1807 wurde es aber nach Stuttgart verlegt;
es war eines der ältesten in Teutschland und sein Sprengel
erstreckte sich auch über die Nachbarländer. Die Stadt liegt im
Mittelpunkt aller Hauptstraßen des Landes, und eignet sich
deßwegen auch vorzüglich zu einer Postanstalt. Im September
wird alljährlich das landwirthschaftliche Centralfest zu
Canstatt gehalten. |
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Bei der Stadt, am Fuße des Kahlensteins,
steht Bellevue, ein einfaches kgl. Landhaus mit einem
Garten, |
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worin der jetzige König seinen
Sommeraufenthalt zu nehmen pflegt. Auf dem Kahlensteine,
einem reizenden Hügel mit herlicher Aussicht, dessen Name
neuerlich in Rosenstein verwandelt worden ist, läßt der König
gegenwärtig ein Sommerschloß bauen und dem ganzen Berge
wird zu dem Ende eine andere Form gegeben, eine
Riesenarbeit, woran schon mehre Jahre gearbeitet wird. |
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In geschichtlicher Hinsicht ist C. einer der
merkwürdigsten Orte in Wirtemberg. Sein Ursprung fällt in
die Zeiten der Römer, und noch werden täglich römische
Denkmäler aller Art gefunden. Der Name Canstatt selbst komt
schon im J. 708 vor, da Herzog Gottfried von Allemannien
eine Urkunde zu Canstat ad Neccarum ausstelte. Im J. 746
hielt Karlmann zu Canstatt das große Landgericht, worauf er
die widerspenstigen Herzoge von Allemannien und Baiern
verurtheilte, und 777 stelte Karl der Große eine Urkunde zu C.
aus.♦ |
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Bis ins 14. Jahrh. wurden hier die alten
Landgerichte gehalten und bis auf diese Zeit war C. auch der
Hauptort des alten Wirtembergs. Im J. 1330 wurden der Stadt
von K. Ludwig IV. auch alle Rechte und Freiheiten verliehen,
wie sie die benachbarte Reichsstadt Eßlingen hatte. Lange war
C. auch, wie gemeiniglich die Hauptorte eines Gaues, der Sitz
eines Rural-Capitels, und in seine 3 Kirchen, wovon jetzt aber
2 — die Uffkirche und die altenburger Kirche — eingegangen
sind, war die ganze Umgegend, in die altenburger Kirche
selbst Stuttgart bis 1320, eingepfarrt. Aber theils die
Bedeutung der Stadt, theils ihre Lage brachten mancherlei
harte Schicksale über sie, und es wurde fast kein Krieg in
Teutschland geführt, wo sie nicht hart mitgenommen worden
wäre. Im J. 1796 lieferte hier der General Moreau bei seinem
Übergang über den Neckar dem Erzherzog Karl ein Treffen.—
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Auch in naturhistorischer Hinsicht ist C.
merkwürdig; es ist insbesondre ein Hauptfundort fossiler
Knochen von dem Mammuth und andern Thieren einer
vorgeschichtlichen Zeit *).
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(Memminger.) |
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- *) Vgl. Canstatt u. se. Umgebungen von
J. D. G. Memminger. Stuttg. 1812. 8, und über die
Mineralquellen insonderheit, außer mehren allgemeinen
Schriften, Canstatts Mineralquellen und Bäder von J. C. S.
Tritschler. Stuttg. 1823. 8. (H.)
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