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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-49-014-2-2-2
Erste Section > Neunundvierzigster Theil
Werk Bearb. ⇧ Freiheit
Artikel: FREIHEIT
Abschnitt: II: Freiheit des Willens
Teil: 2. Ethik
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
Hinweise: Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Bearbeitung
Inhalt: Übersicht
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Forts. S. 20 Sp. 1 Hiernach läßt sich nun zugleich verstehen, in welchem Sinne in der Ethik die Freiheit des Willens verstanden wird. Der wissenschaftliche Sprachgebrauch der Moralphilosophie braucht das Wort Freiheit in einem dreifachen Sinne 37):♦
  1) heißt Freiheit im weitesten Sinne die Möglichkeit, sich bei Veränderungen seines Zustandes überhaupt der Bestimmungsgründe bewußt zu werden, d. h. sich bewußt zu werden, daß man sich nach Gründen bestimme. In diesem Sinne hält der Mensch das Thier nicht für frei, dem die Sprachfähigkeit und die eigentliche Denkkraft überhaupt mangeln, das sich also keine Gründe denken kann. In diesem Sinne des Wortes Freiheit ist Freiheit und Wille des Ichs gleichbedeutend. In diesem Sinne erscheint zuweilen der böse Mensch mehr frei, als der, welcher nicht gesetzwidrig lebt, aber sich wie das Thier doch nur von Eindrücken des Augenblicks oder der Gewohnheit, der gedankenlosen Nachahmung des Beispiels Anderer, bestimmen läßt;♦
  2) heißt
 
  • 37) Clodius, Grundriß der allgem. Religionslehre S. 163 fg.
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  Freiheit im engern Sinne die Fähigkeit, sich bei Veränderungen unsers Zustandes, des unbedingt sittlich nothwendigen Grundes bewußt zu werden, als eines solchen, der uns eigentlich Alle bestimmen sollte. In diesem Sinne ist Freiheit Unbestimmtheit des Willens und mögliche Wahl zwischen unbedingt nothwendigen und bedingten beschränkten Bestimmungsgründen. In diesem Sinne ist Freiheit und sich entwickelnde moralische Vernunft und Gewissen gleichbedeutend. In diesem Sinne ist der Mensch frei, sobald sich das Gewissen in ihm entwickelt. In diesem Sinne ist der sogenannte gute und böse Mensch gleich frei, d.h. Jeder vernimmt in sich den Imperativ der Pflicht, vernimmt immerwährend die Anfoderung, sich durch den unbedingt nothwendigen Grund zu einem gesetzlichen Wandel bestimmen zu lassen. Diese Anfoderung ergeht als Ermahnung, sich zu bekehren, auch an den Bösewicht und Irreligiösen jeder Art, und dieser beweist nur, daß man sich Gottes auch nicht bewußt werden kann, so oft auch dazu die Auffoderung geschieht. Daher ist man auch, vermöge dieser Freiheit, bei allen wahren Handlungen der Imputation fähig und richtet nothwendig sich selbst.♦
  3) Freiheit im engsten Sinne heißt die Richtung des empirischen Ichs, welche dasselbe durch den unbedingt nothwendigen Grund im Ursein erhält, dessen es sich unmittelbar bewußt wird. In diesem Sinne handelt nur der wahrhaft gute Mensch frei, der in seinem eigenen religiösen Bewußtsein seinen Willen mit dem Willen Gottes identificirt; wogegen der böse Mensch, der sich von seinen niedern Trieben oder Leidenschaften beherrschen läßt, in diesem Sinne nicht frei ist.
  Dabei versteht sich von selbst, daß diese Freiheit des Willens dem Menschen nicht als etwas schon Fertiges und ihrer Vollendung oder Vollkommenheit, sondern, wie auch alles übrige Geistige im Leben, z. B. Sprache, Denkkraft, Gedächtniß u. dgl. m., nur als Anlage, mithin der weitern Ausbildung fähig und bedürftig gegeben ist, wie denn ebenfalls die psychische Anthropologie lehrt, daß der Wille an eine bestimmte Stufenfolge seiner Entwickelung gebunden ist, die man durch die Perioden der Sinnlichkeit, der Gewohnheit, der Verständigkeit und Vernünftigkeit zu bezeichnen pflegt 38), und bei welcher, wie die Erfahrung lehrt, auch ein Zurücksinken des Willens von der hohem Stufe auf eine niedrige in jedem Moment des irdischen Lebens möglich ist, was ebenfalls als Folge und zugleich als Beweis der menschlichen Freiheit angesehen werden kann. Auf der Möglichkeit, diese Fähigkeit der freien Selbstbestimmung durch Cultur des Geistes und Herzens zu steigern, den Menschen von der Gewalt der
 
  • 38) Über die Entwickelung des Willens von der frühesten Zeit an vergl. Burdach, Physiologie III, 678. 683; ferner in der eigentlichen Kindheit S. 203. 266; über die Geschlechtsverschiedenheit in Hinsicht des Willens l, 247. Diese Stufenfolge haben besonders berücksichtigt Weiß, Untersuchung über die Seele S. 341 fg. Fries, Psych. Anthropol. I, 229; Ethik S. 27 fg.; vergl. auch de Wette, Christliche Sittenlehre. 1. Th. Carus, Vorlesungen über Psychologie S. 165 fg. Scheidler, Psychologie S. 477.
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  sinnlichen Begierden und Leidenschaften immer unabhängiger zu machen, überhaupt Ordnung und Einheit in die Willensbestrebungen zu bringen und so dem ganzen Leben ein eigenthümliches Gepräge, mit Einem Worte einen Charakter als die unabänderlich nach einmal gefaßten Maximen handelnde Willenskraft zu bilden — beruht die Möglichkeit und der Werth aller Ethik oder Tugendlehre.
  Auch streitet mit der Überzeugung, daß die zureichende Ursache unsrer Entschließungen nur in unserm Willen oder unsrer Selbstbestimmung liegt, keineswegs die Annahme, daß auf die Entschließungen, die Jemand faßt, die gegebenen äußern Umstände, die früheren Ereignisse seines Lebens, die gesammte Bildung seiner Kräfte, und namentlich das Bewußtsein seiner durch Erfahrung schon erprobten Macht oder Schwäche, seiner Willenskraft Einfluß haben. Allein dieser Einfluß wird nicht wie derjenige gedacht, den wir in Ansehung des Verhältnisses einer Naturursache zu der ihr zugeschriebenen Wirkung annehmen; er beschränkt sich immer nur auf eine Veranlassung oder einen Anreiz, für unsern Willen sich so oder anders zu bestimmen, diesen oder jenen Entschluß zu fassen, ohne daß jedoch diese Anregung die Freiheit des Entschlusses selbst aufhebt.
  Hiermit ist zugleich angedeutet, daß und in wiefern die Freiheit des Willens die Grundvoraussetzung den eigentlichen Anlaß gegeben hat, sowie der Anlaß und Mittelpunkt der gesammten praktischen Philosophie als der Wissenschaft von der richtigen Lebensansicht, dem wahren Zwecke oder der eigentlichen Bestimmung des Menschenlebens ist, sowie zugleich aber auch die Voraussetzung für alle positiven praktischen, oder auf das wirkliche Menschenleben sich beziehenden Disciplinen der Rechts- und Staatswissenschaft, der Religions- und Erziehungslehre, mit einem Worte des gesammten höhern Menschenlebens oder aller Civilisation und Cultur. —♦
  Fragt man nach dem ersten oder eigentlichen Anlaß der Entstehung aller praktischen Philosophie, so ist derselbe in der Wahrnehmung zu suchen, daß das meiste Übel und Elend im Menschenleben das Product des Willens des Menschen selber, Folge seines verkehrten Willens und Handelns ist 39). An diese Wahrnehmung schließt sich sofort der Wunsch, dieses vom Menschen ausgehende Übel durch eine mittels der Belehrung über die wahren Zwecke des Menschenlebens bewirkte Besserung des Willens zu vermindern, wie denn auch die älteste sogenannte Weisheit oder Philosophie in solchen Bestrebungen bestand 40), welche natürlich ganz verkehrt würden erschienen sein, wenn ihnen nicht die Voraussetzung der menschlichen Freiheit zu Grunde gelegen hätte. Ebendarauf beruht die allgemein in der ganzen Mensch-
 
  • 39) „Die Welt ist vollkommen überall,
    Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual."
        Schiller.

     
  • 40) „Fuit haec sapientia quondam,
    Publica privatis secernere, sacra profanis,
    Concubitu prohibere vago, dare jura maritis,
    Oppida moliri, leges incidere ligno.
    "
        Horaz.
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  heit sich findende und wie die Psychologie lehrt 41), keineswegs erst durch eine Speculation über das menschliche Wollen entstandene Annahme, daß einem jeden Menschen seine Handlungen auch zugerechnet werden müssen, eine Annahme, welche schon bei den rohesten Menschen angetroffen wird, wenn sie auch in ihrer Sprache noch keine Wörter besitzen, um den Unterschied zwischen dem freien und erzwungenen Thun eines Menschen zu bezeichnen, wie aus der Aufnahme des Handelns Anderer erhellt, sobald es auf ihre Person Einfluß hat.♦
  Man kann und braucht in der That in diesem Gebiete, um die Wirklichkeit und Wirksamkeit der moralischen Freiheit zu beweisen, nur auf die Thatsache des Bewußtseins zurückzugehen, welche als Gewissen einem Jeden bekannt und eine innere und unmittelbare Anschauung von dieser unsrer Seele einwohnenden höchsten souverainen Macht unsers Willens ist. Mit dem Gefühl oder Bewußtsein der Pflicht ist die sittliche Freiheit von selbst gegeben oder gesetzt. Der Ausspruch des Gewissens: du sollst! mit welchem sich alle Gebote der Pflicht ankündigen, setzt den Glauben an die Wahrheit des Ausspruchs, du kannst! voraus 42).♦
  Ebendarauf beruht es, daß alle möglichen Sophistereien des Verstandes, selbst des theoretisch von der Richtigkeit des sogenannten Determinismus überzeugten Philosophen durchaus nicht hinreichen, das Gefühl der Zurechnung und Schuld zum Schweigen zu bringen, wie dies auch schon Kant sehr treffend nachgewiesen hat 43). Daß dieser Glaube an die moralische Freiheit ebenso zu den Grundeinrichtungen unsers geistigen Lebens gehört, wie das Selbstbewußtsein, die Denkkraft etc., ergibt sich ganz einfach daraus, daß die Gestaltung und Ausbildung dieses ganzen Lebens ohne jene Überzeugung eine ganz andere sein würde, indem dann das klare Bewußtsein des Unterschieds zwischen dem Grundbösen, Recht und Unrecht und mit der Zurechnung auch eine bürgerliche, peinliche, sittliche und religiöse Gesetzgebung, somit das eigentliche Band des civilisirten oder Staatslebens wegfallen müßte.
  Bei dieser aus den Thatsachen des Bewußtseins und
 
  • 41) G. E. Schulze, Psychische Anthropologie. 3. Ausgabe. S. 397.
  • 42) Vergl. Ancillon, Über Glauben und Wissen S. 114. Fries, Julius und Evagoras. 2. Bd. S. 241.
  • 43) „Ein Mensch mag künsteln, soviel als er will, um ein gesetzwidriges Betragen, dessen er sich erinnert, sich als unvorsätzliches Versehen, als bloße Unbehutsamkeit, die man niemals gänzlich vermeiden kann, folglich als etwas, worin er vom Strom der Naturnothwendigkeit fortgerissen wäre, vorzumalen und sich darüber für schuldfrei zu erklären, so findet er doch, daß der Advocat, der zu seinem Vortheil spricht, den Ankläger in ihm keineswegs zum Verstummen bringen könne, wenn er sich bewußt ist, daß er zu der Zeit, als er das Unrecht verübte, nur bei Sinnen, d. i. im Gebrauche seiner Freiheit, war, und gleichwol erklärt er sich sein Vergehen, aus gewisser übeln, durch allmälige Vernachlässigung der Achtsamkeit auf sich selbst zugezogener Gewohnheit, bis auf den Grad, daß er es als eine natürliche Folge derselben ansehen kann, ohne daß dieses ihn gleichwol wider den Selbsttadel und den Verweis sichern kann, den er sich selbst macht. Darauf gründet sich denn auch die Reue über eine längst begangene That bei jeder Erinnerung derselben; eine schmerzhafte, durch moralische Gesinnung gewirkte Empfindung, die sofern praktisch leer ist, als sie nicht dazu dienen kann, das Geschehene ungeschehen zu machen, und sogar ungereimt sein würde." Kritik der praktischen Vernunft. 5. Aufl. S. 170 fg.
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  der Erfahrung oder Geschichte hervorgehenden Unbestreitbarkeit der menschlichen Willensfreiheit können natürlich die Einwendungen nicht in Betracht kommen, welche die theoretische oder speculative Philosophie von jeher bis auf die neueste Zeit durch die Aufstellung der philosophischen oder theologischen Systeme des Fatalismus, Pantheismus, der Prädestinationslehre und des Determinismus gemacht hat, oder noch macht.♦
  In Hinsicht des erstern, welcher annimmt, daß der Grund alles dessen, was überhaupt in der Welt geschieht, nur ein blindes Fatum ist, versteht sich von selbst, daß dabei keine menschliche Freiheit des Willens gedacht werden kann. Welche verderbliche Folgen dieses System, zumal wo es zugleich als positive Religion anerkannt ist, auf das ganze menschliche Leben, namentlich auch auf die Verhinderung aller politischen Freiheit hat, ergibt sich von selbst und wird durch die Geschichte und den Zustand der orientalischen Völker zur Gnüge bewiesen 45).♦
  Ähnliches gilt auch von dem Systeme des Pantheismus, nach welchem, wie es namentlich Spinoza unumwunden ausgesprochen hat 46), von einer wahren Freiheit des menschlichen Willens keine Rede sein kann; indessen ist neuerdings von einem unsrer berühmtesten Philosophen behauptet worden, daß der Pantheismus nicht wesentlich mit der fatalistischen Weltansicht verknüpft sei, und daß sich wenigstens die formelle Freiheit mit ihm vertrage 46).♦
  Dasselbe gilt ferner von den positiven theologischen Lehren der Prädestination oder sogenannten Gnadenwahl, die besonders von dem Kirchenvater Augustinus in die christliche Dogmatik eingeführt und auch von Luther (in seiner bekannten Streitschrift: De servo arbitrio, gegen des Erasmus Buch: De libero arbitrio), ingleichen von Calvin verfochten worden ist (worüber die christliche Dogmengeschichte zu vergleichen ist).
 
  • 44) Schulze, Psychische Anthropologie S. 405, 3. Ausgabe.
  • 45) Spinoza, Ethices P. I. propos. XXXVI. p. 33 sq. und P. II. propos. XLVIII. p. 85 sq.
  • 46) Schelling, in der Abhandlung über die Freiheit (Philos. Schriften I. S. 403, vergl. 417), Vergl. Clodius, Allgem. Religionslehre S. 168.
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Stand: 5. November 2017 © Hans-Walter Pries