HIS-Data
Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-02-0-4
Erste Section > Zweiter Theil > Einleitung > II. Anthropologische Wissenschaften
Werk Bearb. ⇧ Einl.
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
Hinweise: Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Bearbeitung
Inhalt: Übersicht
⇦ I. Naturwissenschaften
III. Transcendentale Wiss. ⇨

⇧ S. XV    
Forts. S. XV II. Anthropologische Wissenschaften.  
  Was sie im Allgemeinen enthalten, zeigt ihr bloßer Name schon; sie stellen dar die Menschennatur in ihrem eigenthümlichen Wesen und nach allen daraus entspringenden Verhältnissen; die Bestimmung des Menschen, die Bedingungen, unter denen er sie erreichen kann, und die Art und Weise, wie bis auf die Gegenwart diese Bedingungen erfüllt worden sind. Da nun theils die Menschennatur selbst eine Zusammensetzung mannichfaltiger Kräfte ist, theils die aus ihr entspringenden Verhältnisse sehr verschiedener Art sind; so läßt sich zum voraus schließen, daß auch die anthropologischen Wissenschaften selbst von verschiedener Art seyn müssen. Alle gehen indeß hervor aus einer gemeinsamen Wurzel, der Anthropologie, die aber mehrere Stämme treibt, deren Äste und Zweige sich vielfach verschlingen. Fangen wir bei der Wurzel an.
  Die Anthropologie oder Naturlehre von dem Menschen, betrachtet den Menschen
  1) als körperliche Organisation, wie er an der Spitze der organisirten Bildungen in der Natur steht:
 
a) Somatologie } medicinische Anthropologie.
b) Physiologie
  c) Naturgeschichte der Menschen-Species, welche die Racen und Varietäten der Gattung, nebst ihren Ursachen, namhaft macht;
  2) als geistiges Wesen, wo sie des Menschen innere Welt nach seiner Selbsterforschung aufschließt — Psychologie;
S. XVI 3) nach den Wechselwirkungen, welche hieraus entstehen, und in dem Menschengeschlecht die Ursache der Indivualitäten sind; — Pragmatische Anthropologie; Menschenkentniß; Hiezu a) Physiognomik, b) Pathognomik, c) Mimik.  
  4) Nach dem geistigen Organismus, und den Resultaten, welche sich daraus ergeben für die Grenzen und das Ziel alles menschlichen Strebens — Philosophische Anthropologie.
  Natürlich ist es, bei Untersuchung der körperlichen Organisation des Menschen theils seines gesunden Zustandes zu gedenken, theils der Abweichungen von demselben, der Entartungen und krankhaften Zustände. Aus der Nachforschung über den gesunden Zustand des menschlichen Organismus geht hervor:
  1) die Hygiene, Gesundheitslehre;
  2) die Diätetik, Gesundheiterhaltungslehre.
  Aus der Nachforschung über die krankhaften Zustände gehen hervor:
  1) Pathologie, Lehre von den Krankheiten nach den verschiedenen Theilen,
  2) Nosologie, Lehre von den Krankheiten nach ihrer verschiedenen Art und Beschaffenheit,
  3) Ätiologie, — — nach ihren Ursachen,
  4) Symptomatologie, nach gewissen damit verbundenen Zufällen,
  5) Semiotik, — — nach ihren Anzeigen.
  Von der Anatomie ist die Chirurgie abhängig.
  In der psychischen Heilkunde begegnen sich Medicin und Psychologie, denn auch in Ansehung der Sele hat man den gesunden und kranken Zustand zu unterscheiden, und man kann mithin hieher als aus Physiologie und Psychologie zusammengesetzte Wissenschaften rechnen:
  1) Lehre von den Krankheiten der Sele,
  2) Selen-Diätetik,
  3) Selen-Heilkunde.
  Die Psychologie aber, und hauptsächlich die philosophische Anthropologie, veranlaßt nun auch noch philosophische Wissenschaften, denn sie lehrt die verschiedenen Anlagen, Fähigkeiten und Kräfte des innern Menschen kennen, auf deren vereinter Wirkung das geistige Menschenleben, unser höheres, übersinnliches Daseyn ruht. Sie zeigt uns den Menschen
  1) als erkennendes und denkendes (intellektuelles) Wesen,
  2) als ein mit Neigungen und Trieben zwar versehenes, aber durch freien Willen mit Vernunft sich selbst bestimmendes, und dadurch zu Weisheit und Sittlichkeit bestimmtes, also moralisches Wesen,
  3) als ein mit Empfindungs- und Gefühlsvermögen ausgestattetes, und mit der schöpferischen Kraft, das Schöne selbst hervorzubringen, begabtes, also ästhetisches Wesen.
  Stellt aber die Psychologie dies alles blos als Erfahrungskentniß auf, so wird sich der menschliche Geist damit nicht begnügen, sondern er verlangt gerade hier am meisten zu wissen,
S. XVII da von diesem Wissen die Entscheidung der Frage abhängt, wozu denn nun doch eigentlich der Mensch bestimmt sey. Die Untersuchungen hierüber werden angestellt ⇧ Inhalt 
  1) in der theoretischen Philosophie
  2) in der praktischen Philosophie
  3) in der Ästhetik.
  Die erste entwickelt die Gesetze, an welche der menschliche Geist, vermöge der Einrichtung seiner Natur, im Erkennen und Denken gebunden ist.
  Logik, welche deren Erfinder Aristoteles eintheilte in Analytik und Dialektik *).
  Vermöge des innigen Zusammenhanges, worin das Denken mit der Rede steht, Vernunft mit Sprache; – denn dem Begriff entspricht das Wort, dem Urtheil der Satz, dem Schluß die Periode – hängt mit der Logik aufs innigste zusammen, oder ist vielmehr nichts als eine auf die Sprache angewendete Logik,
  die allgemeine Grammatik, philosophische Theorie der Sprache.
  Ein Grieche würde hierher noch die Rhetorik setzen (mit Inbegriff oder Vorgang der Stylistik, da Rhetorik ein Zusammengesetztes aus Logik und Ästhetik ist), vielleicht Philologie überhaupt.
  Die praktische Philosophie entwickelt die Gesetze, welche die menschliche Vernunft in Beziehung auf die freien Bestimmungen des Willens und Handelns vermöge ihrer Natur aufzustellen genöthigt ist, entwickelt also die Grundgesetze des Rechts und der Pflicht, und zerfällt in die
  1) philosophische Rechtslehre oder Naturrecht, und die
  2) Moralphilosophie oder Ethik.
  Die Ästhetik entwickelt die Gesetze, die den menschlichen Geist in Beurtheilung und Hervorbringung des Schönen leiten: und da das vom Menschen hervorzubringende Schöne nur durch Kunst zum Daseyn gelangen kann; so schließt sich unmittelbar an sie an die
  Theorie der schönen Künste, bei welcher man ja die höchste von allen nicht vergessen sollte, die – Lebenskunst (Kalobiotik).
  Durch alle diese Wissenschaften erkennen wir das Wesen des geistigen Menschen nach seinen intellektuellen, moralischen und ästhetischen Vermögen, und sind belehrt über die drei großen Punkte, um die sich das ganze menschliche Leben dreht, über Wahrheit, Sittlichkeit und Schönheit. Wir haben dadurch einsehen gelernt, daß unser Leben von Erkentniß abhängig ist, daß es aber nur von dem Handeln seinen Werth erhält, daß Weisheit dasselbe regiren und Gefühl es beglücken soll. – Wird nun keine Unruhe mehr in unsrer Brust sich regen? – Nur allzu gewiß; denn nicht verlassen wird uns der Gedanke, ob denn der Endpunkt unseres Daseyns auch den Endpunkt unseres ganzen Seyns bestimme. Ein Wesen, das sich zum Selbstbewußtseyn
 
  • *) Man mag sowohl die so genannte reine Logik, als die transcendentale (Bardili's erste), hieher stellen, worüber die weitere Erklärung dem besondern Artikel vorbehalten bleiben muß.
 
S. XVIII erhoben hat, das durch seines Geistes Kraft sich die Welt unterwarf, verschwindet aus der Reihe der Lebenden. Ich will nicht gedenken des natürlichen Schauders, mit welchem unsre sinnliche Natur vor der Vernichtung zurück bebt, gedenken aber muß ich dessen, daß wir uns selbst zum Widerspruche werden, daß unser ganzes Leben ein zweckloses Spiel und wir zum Elend verrathen scheinen, wenn mit unserm menschlichen Leben unser ganzes Seyn enden sollte. — Ist nun aber der Endzweck meines Lebens hier erreicht, oder habe ich noch Hoffnungen über das Grab hinaus? Und wer wird sie erfüllen, diese Hoffnungen? Er, der mich ins Daseyn hervor rief und mein Schicksal bestimmte? — Diese Fragen, einen furchtbaren Schwarm von Zweifeln und Besorgnissen aufregend, erwachen jetzt unausbleiblich in der Sele des Denkers. Er stößt jetzt auf die Idee von Gottheit und Unsterblichkeit, fühlt aber auch, daß er an der Grenze der Erkennbarkeit steht; die Aufgabe, die er hier lösen soll, liegt jenseit aller Erfahrung. Gleichwol wagt es der strebende Geist, den Vorhang zu heben, der an der ewigen Nacht des tiefsten Geheimnisses hernieder hängt, und er stellt ⇧ Inhalt 
  Theologie und Religion auf.
  Kein Wort jetzt davon, wie es mit beiden sich verhalte; bemerken wollen wir nur, daß der Geist auch hier wieder nach göttlicher Wissenschaft strebt.
  Insofern wir aber durch alle Philosophie auch nur Lebensweisheit oder Weltweisheit im eigentlichen Sinne gewonnen hätten, könnten wir doch nicht leugnen, des Menschen irdische Bestimmung sey, sein reinstes Glück, seine Zufriedenheit, seinen höchsten Genuß in dem vernunftmäßigen Gebrauch aller seiner harmonisch ausgebildeten physischen und geistigen Anlagen zu finden. Da man nun den vernunftmäßigen Gebrauch aller harmonisch ausgebildeten Menschenanlagen mit dem Namen der Humanität bezeichnet, so erschiene diese als des Menschen irdische Bestimmung. Wo aber finden wir sie, diese Humanität? Selten nur bei Einzelnen; und wie im Ganzen?
  Eine Reise um die Welt, um dies zu erfahren, ersparen wir uns durch das Studium der
  anthropologischen Geographie, der
  Ethnographie (Völkerkunde) und
  Staatenkunde.
  Diese drei Wissenschaften zeigen uns das menschliche Geschlecht auf den mannichfaltigsten Stufen der Cultur, und in allen Verhältnissen, in welche die Menschen durch die Natur, die Umstände und eigne Wahl gesetzt worden sind. So höchst verschieden, wie ihre Nahrungsmittel, ihr Klima und Boden, ihre Kunstfertigkeiten und Gewerbe, sind auch ihre Denkarten, Sitten, Gebräuche, häusliche und Staats-Einrichtungen. Diesen Umständen zufolge finden wir wilde, halbwilde, halbcultivirte und cultivirte Völker; monarchische und republikanische, patriarchalische und despotische Verfassungen, stolze Freiheit und niedergebückten Knechtssinn; Stumpfsinn und Witz und Scharfsinn, — alles dies wie auf einzelne Striche und
S. XIX Punkte vertheilt; dieselben Menschenanlagen zwar überall, aber in Ausbildung und Anwendung so unendlich verschieden, daß die Stufenleiter vom Affen bis zu Platon kein Traum scheint. Im Ganzen findet sich der Uncultur mehr als der Cultur: was aber das Schlimmste ist, auch das cultivirteste Volk darf sich mit seiner Humanität nicht brüsten; denn wollen wir die Augen gegen die Wahrheit nicht verschließen, so müssen wir gestehen, daß im Allgemeinen die Cultur höchst einseitig ist, und daß die Menschen sich höchstens bis zur Civilisation, bei weitem aber noch nicht zur Humanität erhoben haben. — Wird nun das immer so seyn? Wer mag diese Frage beantworten, ohne vorher erforscht zu haben, ob es immer so war? Antwort gibt hierauf die große Lehrerin des Lebens — Geschichte. ⇧ Inhalt 
  Die historische Forschung geht darauf aus, die Schicksale, Begebenheiten und Thaten der Menschen und ihres Geschlechts, der Wahrheit gemäß, so darzustellen, daß immer das Nachfolgende erscheint als Resultat der Vergangenheit. Fürwahr kein leichtes Unternehmen! Erstreckt sich eine solche Darstellung auf das ganze menschliche Geschlecht, so nennt man dies
  Allgemeine Weltgeschichte, Universalhistorie,
  erstreckt sie sich auf einem besonderen Teil des Ganzen,
  Partial-, Special-Geschichte,
  auf eine einzelne Person
  Biographie und Charakteristik.
  Es springt in die Augen, daß das Allgemeine hier nicht eher dargestellt werden kann, als bis alles Einzelne und Besondre zur völligen Beglaubigung dargestellt ist. Um diese aber zu erlangen, wird erfodert
  1) Linguistik, denn ohne Kentniß der Sprachen gibt es hier nirgend Gewißheit
  2) Quellenkunde: Also♦
  a) der Literarischen Quellen wie Biografie,
  b) – Denkmalehistor. Archäologie, Antiquitäten, Mythologie
  c) – MünzenNumismatik
  d) – AufschriftenEpigraphik
  e) – UrkundenDiplomatik
  f) – WappenHeraldik, Genealogie.
  3) Mathematische und historische Chronologie.
  4) Historisch-politische Geographie.
  Gewöhnlich nimmt man den Ausdruck: Allgemeine Welt- oder Menschengeschichte, nur in Beziehung auf Zeit und Raum, man kann ihn jedoch auch fassen in Beziehung auf die Allheit dessen, was an dem Menschen sich der Betrachtung darbietet. Der Mensch aber kann überhaupt betrachtet werden: 1) als organisch-animalisches, 2) als technisches (mit Kunstfähigkeiten versehe-
S. XX nes und Kunstfertigkeit erlangendes), 3) als intellektuelles, 4) als moralisches, 5) als ästhetisches, 6) als religiöses und 7) als geselliges Wesen. Je nachdem man nun die Entwickelung des Menschen von einer dieser Seiten auffaßt, und dieselbe als Zweck der historischen Forschung setzt, ergibt sich eine besondere Art von Geschichte ⇧ Inhalt 
  1) Genealogie der Menschenstämme, Geschichte der menschlichen Verbreitung und Nahrungsmittel
  2) Geschichte der Erfindungen, mechanische Künste und Gewerbe,
  3) — der Wissenschaften
  4) — der Sitten, Gebräuche und Lebensarten,
  5) — der schönen Künste,
  6) — der Religionen, Sekten, Kirche u. s. w.
  7) — Politische Geschichte, Staaten- und Völkergeschichte, Regirungs- und Kriegsgeschichte.
  Eine Menschengeschichte nun, die in Wahrheit den Namen einer allgemeinen verdienen sollte, müßte eigentlich alle jene Arten von Geschichte nicht blos umfassen, sondern pragmatisch in ihrem nothwendigen Zusammenhange darstellen, keineswegs aber, wie gewöhnlich geschah, der politischen Geschichte einen Vorrang einräumen, der ihr nur bedingungsweise zukommen kann. Seit einem halben Jahrhundert hat man Entwürfe zu einer allgemeinen Geschichte in jenem Sinne gemacht, und sie aufgestellt als
  Geschichte der Menschheit, Geschichte der menschlichen Cultur,
  und diese Geschichte, welche die sibyllinischen Blätter der Vorwelt als ein Buch des ewigen Schicksals zu enträthseln trachtet, und darum für Größe und Wichtigkeit einen ganz andern Maßstab anlegt, als jede befangene Zeit- und Volksgeschichte, mag man wol die Blüthe aller Geschichte nennen. Von philosophischem Geiste beselt, dient ihr etwas Höheres als Volk und Staat oder was man sonst gesetzt hat, als leitendes Princip, nämlich die Idee des Menschen. Dadurch schließt sie sich aufs engste an die Philosophie selbst an. Wenn diese aus den Anlagen der Menschennatur des Menschen Bestimmung zu enträthseln suchte, und in einem Ideal das Ziel des ganzen Geschlechts aufstellte; so zeigt diese Geschichte, wie die Menschennatur gewirkt hat, welche Anlagen, und unter welchen Bedingungen sie sich entwickelt haben, wie in dem Ganzen die Bestimmung erreicht, und wie weit das Ideal verwirklicht worden. Wir sehen jetzt, wie der vollendetste Sohn der Natur in jedem Verhältniß seines Daseyns und bei der ganzen Entwicklung seiner Anlagen, durch organische Beschaffenheit, Boden, Klima und Umstände, unter unveränderlichen Gesetzen steht, wie der einzige Freigelassene der Natur nach den Bestimmungen eines höherern Schicksals wirkt, in welchem Verhältniß seine Freiheit mit der Nothwendigkeit der Natur steht, welchen Gang Natur und Schicksal in seiner Erziehung genommen, und welchen er sich selbst zu seiner Vollendung vorschreiben muß. Wir sehen, daß zwar auch die Geschlechter der Menschen in ge-
S. XXI messenen Zeiten fallen wie die Blätter des Herbstes, daß aber kein Geschlecht vereinzelt dasteht, denn ein unendlicher Geist waltet in allem Vorübergehenden, umfaßt das Ganze, und führt Alles in heiliger Stille, wundervoll sich offenbarend, dem Ziele jener fernen Zukunft zu, für welche die edelsten Geister in hoher Selbstaufopferung den Tod nicht scheuten. ⇧ Inhalt 
  Beschleicht wol zuweilen ein Zweifel das Herz, ob diesem freien Wirken von Jahrtausenden auch im Ganzen ein Plan zum Grunde liege, wie er sich in der Erziehung der Nationen zeigt: höhere Kraft quillt auch aus der Betrachtung, daß zwar der Gute stirbt, aber nicht das Gute; daß der Edle getödtet werden kann, das Werk seines Lebens aber nicht vernichtet werde; über den engen Raum des Lebens wirkt er hinaus; vielleicht nach Jahrtausenden erst, in noch unentdeckten Welttheilen gelangt es zur Reife. Einem ängstigenden Gedanken, ob nicht auch im Reiche der Freiheit, wie im Gebiete der Nothwendigkeit, nur ein rastloser Wechsel von Entstehen und Vergehen sey, und ob sich nicht alles nur in einem ewig sich erneuernden Kreislaufe bewege, diesem Gedanken stellt sich die Betrachtung entgegen, daß der Mensch durch Vernunft und freies Wirken seine Bestimmung erreichen soll. Die Keime zu der letzten Periode seiner Entwickelung (nachdem er die des Kindes, des Knaben und Jünglings durchlaufen, Wilder, Barbar und Civilisirter gewesen) liegen doch unverkennbar in ihm. Wie kommt's nun, daß die Geschichte das nicht als Thatsache nachweisen kann, was doch der Philosoph als Zielpunkt alles menschlichen Strebens aufstellt? was sie als nothwendig für die Menschheit aus der Vernunft selbst entwickelt hat? Sind Hindernisse da? Welche sind es? Und sollten sie sich nicht beseitigen lassen?
  Diese Fragen, die hier gewiß jeder Menschenfreund thun wird, lenken unsere Aufmerksamkeit geschärfter auf eine neue Verzweigung an dem Stammbaume der Wissenschaften, auf
  die politischen Wissenschaften,
  womit wir überhaupt (nach der Abstammung von polis, Stadt-Bürger-Verein, Staat, die Staats- Wissenschaften bezeichnen.
  Staatswissenschaft im Allgemeinen ist der Inbegriff der den Staat betreffenden Erkentnisse, welche sich sämtlich auf folgende Fragen beziehen: Was ist der Staat? Welche Zwecke hat er? Welche Zwecke soll er nach vernünftigen Grundsätzen haben? Welche sind die Mittel, diese Staatszwecke zu erreichen? ― Diesemnach zerfällt die Staatswissenschaft in zwei Haupttheile:
  1) Staatsverfassungslehre (welche handelt von den Staatszwecken: Sicherheit, Wohlstand und Bildung), die Wissenschaft von der Begründung und Errichtung eines Staats in Absicht der möglichsten Vernunftmäßigkeit und Zweckmäßigkeit; Organisation des Staates. ― Diese Staatsverfassungslehre ist die Grundlage des
  Staatsrechts (jus civitatis, nicht zu verwechseln mit dem bürgerlichen Rechte, jus civile s. civium), der Wissenschaft, welche die Rechte der höchsten Gewalt und deren Grenzen in Gemäßheit des Staatszweckes bestimmt, sich gründend auf zwei Verträge, den Verei-
S. XXII nigungs- und den Unterwerfungstraktat. Der Inbegriff der Bedingungen in beiden Traktaten ist die Constitution des Staates. ⇧ Inhalt 
  2) Staatsverwaltungslehre; handelt von den Mitteln zur Erreichung jedes Staatszweckes, und enthält also den Inbegriff aller systematisch geordneten Hilfsmittel für die möglich zweckmäßigste Administration (Regirung und Verwaltung) eines Staates. — Nach den drei angegebenen Zwecken eines Staates entsteht eine dreifache Eintheilung der Staatsverwaltungslehre
 
a) Sicherheits } Politik
b) Wohlstands
c) Bildungs
  1) Sicherheits-Politik.
  Die Sicherheit eines Staats ist entweder eine innere oder eine äußere: es muß das Recht in den Verhältnissen der Bürger eines Staates gegen einander selbst, oder in den Verhältnissen mit andern Staaten behauptet und geschützt werden. Daher:
  A) Innere Sicherheits-Politik, die unter sich befaßt
  a) die Rechtswissenschaft
  α) Lehre von der Gesetzgebung
  ß) ― ― ― Rechtspflege, die sich beziehen kann
  א) auf bürgerliche (Civil-) Gesetzgebung und Rechtspflege
  ב) auf peinliche (criminelle).
  Die erste hat es mit Rechtsverletzungen zu thun, wegen deren ein Ersatz oder Entschädigung gegeben werden kann, die zweite mit der Anwendung solcher Strafmittel, die als eine öffentliche Genugthuung wegen verletzter Sicherheit anzusehen sind.
  Die höchste Gewalt soll aber nicht nur das öffentliche Recht für die Privatverhältnisse der Bürger festsetzen, und durch die Sorge für Ausübung desselben Sicherheit im Staate verschaffen, sondern sie soll auch, da jene Mittel zur völligen Sicherung und Beförderung des Gesamtzwecks noch nicht hinreichend seyn können, alle übrigen Schwierigkeiten möglichst aus dem Wege räumen. Diesen zweiten Gegenstand der innern Sicherheitspolitik behandelt
  b) die Polizei-Wissenschaft.
  Enthält das Gesetz Bestimmungen für die Bürger, so ist die Polizei Thätigkeit der Regirung; sie befördert die Gesetze, verhindert deren Übertretung, und hilft, wo sie nicht hindern konnte, die schädlichen Wirkungen und Folgen durch Anstalten mindern. — Und da die öffentliche Sicherheit nicht allein durch Menschen, sondern auch durch die Natur verletzt werden kann, so richtet sich die Thätigkeit der Polizei auch gegen diese. Physische und moralisch-politische Übel in der Entstehung zu hindern, ist ihr Zweck.
S. XXIII B) Äußere Sicherheitspolitik.
  Da eines Staates äußere Sicherheit nur bewirkt werden kann entweder durch friedliche Völkerverträge oder öffentliche Vertheidigung im Kriege, so zerfällt diese Politik in
  a) Friedens- b) Kriegs-Politik.
  Zur Friedens-Politik gehört
  α) Völkerrecht,
  β) Diplomatie als Verhandlungs- und Vertrags- Wissenschaft.
  Zur Kriegs-Politik gehört
  α) Lehre von der zweckmäßigsten Organisirung der Staatsvertheidigung, geschehe diese nun durch schützende Landesgrenzen und Wehrplätze, oder durch eine bewaffnete Macht; Beförderung der Kriegswissenschaften, die einen Theil der technischen Mathematik ausmachen, und durchaus auf der Feldmeßkunst, perspektivischen Zeichenkunst und Mechanik gegründet sind. Es gehören zu ihnen Befestigungswissenschaft, Lagerwissenschaft (Kriegs-Bau- oder Ingenieurkunst), Geschützwissenschaft (Artillerie, Pyrotechnie), und Taktik, Lehre von der Organisation und Direction der zu Angriff und Vertheidigung bestimmten Menschen als beweglicher Maschinen. ― Die Lehre von der Einrichtung und Verpflegung der Heere ist Gegenstand der Kriegspolitik selbst.
  ß) Soldaten- und Kriegsrecht, von denen jenes die Rechtsbestimmungen enthält, welche sich auf die eigenthümliche Beschaffenheit des Kriegerstandes beziehen, dieses aber von dem, gegen die Feinde und in Feindeslande zu beobachtenden, politischen Verfahren handelt,
  2) Wohlstandspolitik,
  oft auch Staatswirthschaftslehre, Staatsökonomie, und weil in Teutschland diejenigen Staats-Collegien, welche mit Besorgung derselben beauftragt waren, Kammern (Rechenkammern) hießen, auch Kammeral-Wissenschaften genannt. Die Basis von allen ist
  A) National-Ökonomie oder National- Wirthschaftskunde,
  welche die Bedingungen aufstellt, unter welchen National-Reichthum, d. i. die Masse des Vermögens aller einzelnen Staatsbürger, erworben, erhalten, vermehrt, vertheilt und verbraucht wird. National-Vermögen ist kein Vermögen der Staatsregirung. Da aber jenes nur unter dem vom Staate gewährten Schutze, der Sicherheit der Personen und des Eigenthums, erworben werden kann, so muß die Regirung auch einen Theil des National-Vermögens zur Erreichung der allgemeinen Zwecke des Staats von den Bürgern fodern, und zur Erreichung dieser Zwecke verwenden. Das Letztere ist Sache der Staatswirthschaft, die auf richtige Grundsätze über National-Ökonomie gebaut seyn muß. Wenn diese die Ursachen des Vermögens der einzelnen Bürger entwickelt, so bestimmt jene, wie viel der Staat davon zu fodern berechtigt und ermächtigt ist, ohne die Quellen des National-Wohlstandes zu erschöpfen.
S. XXIV Welche zweckmäßige Anstalten zur Erwerbung des Bedars und Vermögens getroffen werden, zeige
  die Gewerbskunde,
  die, da aller Erwerb in den unmittelbaren und mittelbaren zerfällt, eingetheilt werden muß in die Lehre von dem unmittelbaren und mittelbaren Erwerb. Die erste lehrt 1) die Oberfläche des Erdbodens so zu bearbeiten, daß sie die größtmögliche Menge Bedarf hervorbringe,
  Landwirthschaft, Ökonomie,
  2) die von der Natur hervorgebrachten Waldungen zu erhalten und zu verbessern,
  Forstwissenschaft,
  3) die unter der Erde verborgenen Schätze hervor zu schaffen,
  Bergwerkskunde.
  Die zweite Abtheilung der Gewerbskunde, die sich mit dem mittelbaren Erwerb, der Industrie, der Veredlung, neuen Verarbeitung und Umsetzung der Naturprodukte beschäftigt, enthält die
  Technologie,
  welche die Arten der Verarbeitung der Naturprodukte in Kunstprodukte, und die
  Handelskunde, Merkantilische Wissenschaften,
  welche die Umsetzung beiderlei Arten von Produkten und die Circulation des National-Vermögens kennen lehrt *)
  Den jedesmaligen Zustand eines Staats in Rücksicht auf sein Nationalvermögen, dessen Ursachen und Folgen, zu welchen letztem auch die Staatskräfte gehören, stellen dar die
  Statistik und Politische Geographie.
  Kennt man durch alle diese Wissenschaften das National-Vermögen nebst den Mitteln zu dessen Beförderung und Sicherung, so kann nun die Rede seyn von den Bedürfnissen des Staates, von der Art, wie sie zu befriedigen sind, wie also ein Theil des National-Vermögens in Staats-Vermögen zu verwandeln, und wie dieses Staatsvermögen zu benutzen und anzuwenden ist. Hievon handelt der zweite Theil der Wohlstands-Politik
  B) die Finanz-Wissenschaft oder Staatswirthschaft, wozu auch die Rent-Wissenschaft oder Kammeral- Rechnungs-Wissenschaft gehört.
  Über die Thätigkeit jedes einzelnen Staatsbürgers, um durch unmittelbaren oder mittelbaren Erwerb sich seinen Antheil an dem National-Vermögen zu verschaffen, hat zwar der Staat
 
  • *) Unter diesen Classen sind die meisten Wissenschaften unterzubringen, die nichts anderes sind, als auf Technik angewendete Mathematik, die man auch unter dem allgemeinen Namen der Technischen Mathematik befaßt. Mit Weglassung der hieher nicht gehörigen, dem innern Wesen nach aber verwandten, Kriegswissenschaften, sind hier zu nennen; Bürgerliche Baukunst und Wasserbaukunst, (Schleusen- Deich- Damm- Brückenbau u. s. w.), Schiffsbaukunst, Nautik oder Schiffahrtskunde, und die Maschinenlehre im Allgemeinen.
 
S.XXV kein Recht etwas vorzuschreiben; glelchgiltig kann es ihm aber auch nicht seyn, ob Landescultur, Jndustrie und Handel befördert oder gehemmt werden, und sein Vortheil, ja sein Bestand erheischt Anstalten, das Gedeihen zu befördern und das Sinken zu hemmen. Dies gibt der Polizei-Wissenschaft eine Erweiterung, denn man darf nicht glauben, daß die Sicherheits-Polizei die einzige sey. Als nicht minder wichtig tritt neben sie ⇧ Inhalt 
  Die Wohlstands-Polizei, als
  a) Productions-Polizei
  b) Fabrications-Polizei
  c) Handels-Polizei
  d) Armen-Polizei
  und da zum Wohlstande die unerläßlichen Bedingungen des Lebens und der Gesundheit gehören, so reiht sich an sie noch an
  die Lebens- und Gesundheits-Polizei,
  die es mit den Medicinal-Anstalten zu thun hat, und nicht blos durch ein oberstes Gesundheits-Collegium Medicinal-Verordnungen und Gesundheits-Gesetze gibt, sondern auch die Aufsicht führt über Krankenhäuser und Spitäler, Entbindungs-Institute, Irrenhäuser, und gegen Verbreitung ansteckender Krankheiten.
  In allen diesen Verzweigungen wirken die Sicherheits- und Wohlstands-Polizei auf ein physisch-glückliches, durch Gesetz und Recht geschütztes, vor gewaltsamen Eingriffen gesichertes, Daseyn der Staatsbürger hin. Da aber in dem staatsbürgerlichen Leben erst das halbe Menschenleben liegt, und da es unmöglich geleugnet werden kann, daß in der Natur des Menschen ein Streben liege, Bedürfnisse sich ankündigen, die auf etwas Höheres gehen, als alle Staaten der Welt befriedigen können; so kann der Staatszweck auch unmöglich des Menschen höchster Zweck seyn; und was er nun auch für das unentbehrliche Institut des Staates aufopfere und hingebe, so fühlt er doch tief und innig, Eins sey, was er nie aufopfern und hingeben dürfe, seine Ansprüche an Menschheit, das freie Streben seines Geistes nach Erkenntniß und Wahrheit, seinen Zusammenhang mit der übersinnlichen Welt. Dem Staate selbst aber kann es nicht gleichgiltig sein, ob seine Bürger klug oder dumm, geschickt oder ungeschickt, gesittet oder ungesittet seyen, denn es ist ja offenbar, wie viel mehr sich mit klugen und geschickten als dummen und ungeschickten, und wie viel besser es sich mit gesitteten als mit ungesitteten ausrichten läßt. Unmöglich konnte er daher diesen wichtigen Theil der Politik übersehen, und richtete demnach sein Augenmerk auch auf Aufklärung und Sittlichkeit. Dies aber ist der Gegenstand der
  3. Bildungs-Politik oder Staats-Erziehungs-Wissenschaft, als der Wissenschaft von der zweckmäßigen Organisation der öffentlichen Bildungsanstalten,
  1) der Schulen für das Volk überhaupt,
S. XXVI 2) Schulen für einzelne Stände und persönliche Bedürfnisse, (Forst-, Bergwerks-, Handels-, Kriegs-, Taubstummen- und Blinden-Institute), ⇧ Inhalt 
  3) für wissenschaftlichen Unterricht, Gymnasien, Universitäten,
  4) der Akademien und Societäten der Wissenschaften und Künste,
  5) der öffentlichen Sammlungen für Gelehrsamkeit, Natur- und Kunst-Studium, Bibliotheken, Museen, Kabinette und Gallerien,
  6) des Religions- und Kirchenwesens,
  7) der Schriftstellerei und Buchhandlung, besonders mit Rücksicht auf Preßfreiheit und Censurwesen.
  Hier scheinen sich an die politischen Wissenschaften anzureihen
  Pädagogik,
  Positive Theologie und Religion.
  Scheinen, sage ich, denn manche haben behauptet, daß sich der Staat dabei ein Recht anmaße, welches ihm nicht zusteht. Freilich die obere Aufsicht und Leitung, damit das allgemeine Menschen-Recht nicht verletzt, die reine Sittlichkeit nicht gefährdet, der wahre Zweck des Staates nicht aufgelöst, hingegen die für die besten erkannten Mittel zu physischer, intellektueller, moralischer, ästhetischer und religiöser Menschenbildung zweckmäßig angewendet werden, ― diese wird dem Staate niemand bestreiten: frei aber soll er dem Geiste Untersuchung und Bekentniß lassen, frei dem Gewissen seine Wahl. Wenn man auch einen Galilei ins Gefängniß wirft, geht darum doch die Erde um die Sonne und nicht die Sonne um die Erde. Und da der Unendliche Christen und Juden, Türken und Heiden, und alle Parteien und Sekten unter ihnen als Menschen schuf; wie mag es da ein Staat wagen, die Menschenrechte vom Glaubensbekentniß abhängig zu machen, und dem Ewigen vorzugreifen in einem Richteramt, das er sich selbst vorbehalten hat? ― Kurz, Staatserziehung und Staatsreligion sollen keine Zwangserziehung und keine Zwangsreligion seyn, nicht Mittel zu lediglich politischen Zwecken, oder die höheren Zwecke, welche durch sie erreicht werden sollen, bleiben unerreicht, und die Hofnung, an das Ziel der Humanität zu gelangen, verschwindet wie ein nichtiger Traum. Von der Pädagogik ist alles zu erwarten, sobald sie wirklich vom Princip der Humanität ausgeht, außerdem läßt sie den Menschen in dem Bürger untergehen. Darum scheint die Pädagogik dem Kreise der Politik entrissen und den philosophischen Wissenschaften zugezählt werden zu müssen, so lange wenigstens bis die politischen Wissenschaften selbst, statt blos positive zu seyn, – philosophische geworden sind.
  Hier stoßen wir aber zu gleicher Zeit auf zwei Bedenklichkeiten: denn wer wird nicht fragen, ob jenes von der Menschheit aufgestellte Ideal überhaupt in diesem Leben erreichbar sey, und ob Theologie und Politik Recht haben, für das, was hier nicht gegeben werden könne, Anweisungen auf ein künftiges Leben zu ertheilen? Diese Fragen weisen uns auf die dritte Hauptclasse der
S. XXVII Wissenschaften hin, und es dürfte gut seyn, von dieser zu handeln, ehe wir über die positiven Wissenschaften uns erklären.  
S. XXVII ⇩  
HIS-Data 5139-1-02-0-4: Allgemeine Encyclopädie: 1. Sect. 2. Th.: Einleitung: II. Anthropologische Wissenschaften HIS-Data Home
Stand: 7. Oktober 2017 © Hans-Walter Pries