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ALTERTHUM (antiquitas), ein relativer
Begriff, bezeichnet überhaupt die alte Zeit im Gegensatz der
neuern, dann den Inhalt der alten Zeit, oder ihre
Hervorbringungen, endlich alles, was den Formen, Sitten und
Einrichtungen der neuern Zeit entfremdet, als ausgeschieden
und ausgestorben betrachtet wird.♦ |
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Wenn insbesondere beim Fortgange der
Entwickelung eines oder mehrerer Völker ungleichförmige
Zeiten, als alte und neue so unterschieden werden, daß beide
in scharfen Gegensatz treten, wie z. B. heidnische und
christliche Zeiten, oder eine im Ganzen andere, der
vormaligen unähnliche Gestaltung der bürgerlichen und
sittlichen Ordnung anhebt, und eine, von verschiedenem
Geiste belebte, Geschichte derselben entsteht, so wird der
ältere, aufgelösete, oder umgeschmolzene Zustand voriger
Verhältnisse samt den daraus erhaltenen Überresten
menschlicher Werke zum Alterthum gerechnet. Im erstern
Falle haben wir ein teutsches Alterthum vor Karl dem
Großen, im letztern nennen wir |
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ALTERTHUM |
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die ganze Geschichte vor der
Völkerwanderung das Alterthum, wovon unten weiter die
Rede seyn wird.♦ |
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Bisweilen wird unter Alterthum die
Urgeschichte eines Volkes verstanden und darunter alles
begriffen, was aus der Zeit vor dem Anfange seines
ordentlichen Staatsvereines und seiner zusammenhängenden
und zuverlässigen Geschichte, in Sagen, Mythen,
schwankenden Überlieferungen, hinsichtlich der
Abstammung, Wanderung, frühern Schicksale, Thaten,
Zustände und Verhältnisse, in denen das Volk uranfänglich
gelebt hatte, vorgefunden wird. So die Geschichte der
Griechen vor dem Troischen Kriege, die von Italien vor Roms
Erbauung.♦ |
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Endlich heißt auch wol Alterthum
dasjenige, was von dem zu einem Staat schon geordneten
Volke in frühern Zeiten eingeführt, gestiftet, gegründet und
gethan worden ist, woran sich aber keine sichere Erinnerung,
oder ein Band der Geschichte absichtlich geknüpft hat, z. B.
besondere, unter dem Volke übliche, Gewohnheiten, Feste,
Sitten, deren Entstehen, ursprüngliche Bedeutung und Zweck
nicht mehr angegeben werden können; verfallene Burgen,
Schlösser, Anlagen, Trümmer, Gräber, deren Urheber nicht
auszumitteln sind; über oder unter der Erde gefundene
Denkmäler von fremdartigem Stil und Charakter, von denen
man nicht weiß, von wem und wozu sie gesetzt worden sind.
Mehrere solche aus frühern Zeiten vorhandene Überreste
menschlicher Werke werden Alterthümer (s. d. Art.)
genannt. |
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Am häufigsten wird der Name Alterthum,
wie oben bemerkt worden, der ganzen alten Geschichte,
vorzugsweise wie und so weit sie in griechischen und
lateinischen Schriften bis zur Völkerwanderung mitgetheilt
ist, beigelegt, weil die bekanntesten Völker der alten Welt bis
zur allgemeinen Einführung des Christenthums und zur
Völkerwanderung — diesem Wende- und Scheidepunkt der
alten und neuen Völkergestaltung — als ein geschlossenes, in
sich zusammenhangendes und ziemlich gleichartiges Ganzes
betrachtet werden.♦ |
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Denn man bemerkt bei jenen
vorchristlichen Völkern, trotz der verschiedensten
Mannigfaltigkeit in Sprachen und Verfassungen, dennoch im
Allgemeinen große Ähnlichkeit und Übereinstimmung in
Religion, Sitten, Gebräuchen und Lebensverhältnissen, und
eine gewisse Verwandtschaft und Gleichförmigkeit der Ideen
und Vorstellungsarten, wodurch sie ein eigenthümliches,
gegen die neuern Völker abstechendes, Gepräge
erhalten.♦ |
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Überdies wurden die meisten und
berühmtesten Völker jener Zeit nach und nach zu einem
einzigen großen Staatskörper, dem röm. Reiche, vereinigt,
welches gleichsam als das Resultat der alten Geschichte in
dieser Westhälfte des alten Continents angesehen werden
kann. Mit der Auflösung der größern Hälfte dieses großen
Ganzen und der allgemeinern Einführung des Christenthumes
war das Alterthum geendigt. |
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Im ausnehmenden Sinne wird der Name
Alterthum auf Griechen und Römer eingeschränkt, weil diese
durch große Tugenden, Kraft, Geistesbildung, Gelehrsamkeit
und Künste über die gleichzeitigen Völker emporragten, ihre
Beherrscher wurden, und auf deren sittliche, geistige und
bürgerliche Gestaltung einen entscheidenden Einfluß
ausübten. Die Griechen, einem sich verflüchtigenden
Elemente vergleichbar, geistreich, rastlos, frei- |
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heitsliebend, aber eben deswegen keiner
großen, festen, politischen Verbindung fähig, und mehr zur
Vereinzelung geneigt, hatten sich früh durch Kolonien nach
Unteritalien und den benachbarten Inseln, nach Gallien,
Spanien, Afrika, vorzüglich über den Archipelagus und
Kleinasien bis an die fernsten Küsten des schwarzen Meeres
zerstreut und später durch Alexanders Eroberungen nach
Oberasien bis Baktrien und Indien griechische Sprache und
Sitte verbreitet, und eine Menge Staaten, die sich aus
Alexanders Reiche bildeten, mit ihren Ideen befruchtet und
wenigstens die höhern Stände darin für griechische
Wissenschaftlichkeit und Literatur gewonnen.♦ |
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So wenig aber die Griechen zu Hause
jemals in dauerhaften Zusammenhang getreten waren, so
wenig schmolzen die, auswärts durch sie gegründeten, Staaten
in feste, haltbare politische Verbindung zusammen. Das
allgemeine Bindungsmittel, welches durch seine einleuchtende
Vollkommenheit und seine Ausbildung die Edleren anzog und
sie in Griechen verwandelte, war die griechische Sprache,
welche in den besten Zeiten von Sicilien bis nach Baktrien und
Indien, und von den Syrten und Oberägypten bis nach
Dalmatien und dem schwarzen Meere die herrschende Schrift-
und Umgangs-Sprache der gebildeten Classen wurde.♦ |
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Die Römer, einer gediegenen, in sich
zusammenhaltenden Masse ähnlich, kalter und besonnener, als
die Griechen, mit prüfendem Urtheil aus den Einrichtungen
fremder Völker das Nützlichste sich aneignend, auch den Kern
der griechischen Bildung in sich aufnehmend, und nie geneigt,
durch Zerstreuungen sich zu schwächen und aufzulösen,
sondern beharrlich in dem Plan systematisch fortschreitend,
ihre Kraft zu mehren und fest zu verschlingen, waren nicht nur
zu einer starken, soliden Haltung in sich gelangt, sondern
verbanden nach und nach die angrenzenden Völker und
vorzüglich alle Staaten, in denen die griechische Sprache
herrschte, mit so kalter Überlegung, nachdrücklicher Kraft und
scheinbarer Mäßigung, daß endlich die meisten bekannten und
civilisirten Völker des Alterthums zu einem einzigen großen
Staatsgebäude zusammengezogen, durch eine starke Regirung
fest gehalten und durch inneres Verkehr, erleichterte
Mittheilung und Vermischung, wo nicht gänzlich
verschmolzen, doch vielfach verzweigt und verkettet
wurden. |
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Da nun die Römer die überlegene
Geistesbildung der Griechen anerkannten, deren Sprache
größtentheils selbst lernten, und, wo diese im Gebrauch war,
sich ihrer bedienten, ja die griechische Gelehrsamkeit und
Kunst durch sorgfältiges Studium sich anzueignen suchten,
aber eben damit jene ehrten und noch ihren Fortgang in
Griechenland und allen Gegenden, in welche die griechische
Sprache späterhin eingedrungen war, beförderten, dagegen in
den westlichen Ländern Europa's und Afrika's, ihre
lateinische, nach dem Vorbilde der griechischen
ausgebildeten, und zur Schriftsprache erhobenen, National-
Sprache durch ihre Heere, Colonien und Regirungsbeamten
verbreiteten, dergestalt, daß die Ureinwohner selbst ihre
einheimischen Sprachen nach und nach vergaßen und die
Sprache ihrer Beherrscher erlernten; so theilten sich endlich
zwei Hauptsprachen, die griechische und lateinische, in die
geistige Herrschaft der alten, in einen politischen Staatskörper
vereinten, Welt; jene war in den |
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morgenländischen, diese in den
abendländischen Gegenden bei den gebildeten Classen in
allgemeinen Gebrauch gekommen. |
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Indem nun Afrikaner, Spanier, Gallier,
Italiener und selbst manche Griechen die Sprache der Römer,
dagegen die gebildeten Classen in Cyrenaika, Ägypten, Judäa,
Phönice, Syrien, Kappadocien, Pontus, Vorderasien und den
Inseln des Archipelagus und selbst Römer die griechische
Sprache zur Abfassung ihrer Schriften gebrauchten, so floß
endlich die schriftstellerische Thätigkeit aller
wissenschaftlichen Köpfe, sie mochten geborne Griechen und
Römer seyn, oder nicht, in die griechische und römische
Literatur zusammen, und diese wurde und bleibt, so viel davon
bei der Zertrümmerung jenes großen Staatsgebäudes aus den
Ruinen gerettet wurde, für die neueuropäischen Völker die
vorzüglichste Erkentnißquelle der ganzen alten Welt. |
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Wiewol nun die römische Literatur in die
griechische getaucht und durch sie genährt ist, und die
griechische von der Zeit, wo die Römer die Oberherrschaft
erlangten, die Geschichte, Verfassung und Eigenthümlichkeit
der Römer behandelt, oder berücksichtigt, und keine ohne die
andere durchgehends verstanden werden kann, vielmehr eine
die andere ergänzen, aushelfen, erklären muß, soll eine
möglichst vollständige Kentniß der alten Welt gewonnen
werden; so pflegen doch beide Zweige als selbständige
Literaturen betrachtet und die gesamten Schriftsteller, nach
den Sprachen, in denen sie ihre Werke abfaßten, in Griechen
und Römer getheilt zu werden, die gleichsam als
Repräsentanten dieser beiden Völker gelten.♦ |
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Denn indem sie in der Sprache, dem Geiste
und der ganzen Vorstellungsart desjenigen Volkes, zu dem sie
gehören, gleichsam als noch lebendige Redner und
Berichtserstatter sprechen; so geben sie unwillkürlich die
treueste, mit allen charakteristischen Eigenheiten
hervorstechende, naturgemäße Zeichnung der Griechen und
Römer, stellen sie in den mannigfaltigsten Beziehungen in
ihrem ganzen Wissen, Thun und Handeln dar, und belehren
uns auch über diejenigen Völker, mit denen Griechen und
Römer in Berührung kamen, oder von denen sie Kunde
erhalten hatten. |
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Da also die Griechen als das gelehrteste,
geist- und kunstreichste und feinste, die Römer als das klügste,
tugend- und thatenfertigste und stärkste Volk der alten Welt
erscheinen, in deren Ideen, Sitten, Gesetze und Herrschaft
auch die meisten andern Nationen verschlungen wurden; da
wir von ihnen die vollständigste, reichhaltigste und
belehrendste Geschichte, und zwar in den Sprachen dieser
beiden Völker selbst, und durch Schriftsteller, die in ihrer
Mitte sich befanden, überkommen haben, und die ältern, der
mit ihnen gleichzeitigen Staaten und Völker größtentheils nur
so weit und in der Art kennen, in wie fern und welcher Gestalt
sie von Griechen und Römern beschrieben und dargestellt
worden sind; da diese beiden Völker durch
bewunderungswürdige Fortschritte in Wissenschaften und
Künsten, durch den Glanz ihrer Thaten, die Menge, Größe und
Herrlichkeit ihrer noch übrig gebliebenen Werke, durch die
Ausbreitung ihrer Herrschaft und den überstrahlenden Ruhm
ihres Namens, alle andere Nationen verdunkelten und alle
gleichzeitig durch Gewalt oder Einfluß sich assimilirten und in
ihre Ge- |
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schichte und Bildung verflochten; da sie
folglich die Herrscher, Lehrer, Verewiger derjenigen
Menschengeschlechter wurden, die in der Westhälfte der alten
Welt eine Rolle spielten, und somit für die Nachwelt
besonders in literarischer Hinsicht die Stellvertreter fast aller
übrigen alten Völker sind; so mußten diese in aller Beziehung
merkwürdigsten Völker der alten Zeit, Griechen und Römer,
den Vorrang vor allen übrigen gewinnen, ja beinahe
ausschließlich den Begriff des Alterthums an sich knüpfen.
Daher ist es fast unmöglich, der Begebenheiten alter Zeit in
der Westhälfte der vormals bekannten Erde zu denken, ohne
unwillkürlich sich der Griechen und Römer zu erinnern, oder
Aufschluß in ihren Werken, als den hinterlassenen
Schatzkammern des gemeinsamen Alterthums, zu suchen und
zu finden. Es war folglich eben so natürlich, als
unvermeidlich, den Namen Alterthum vorzugsweise auf
Griechen und Römer zu beschränken, da sie allein das große
Panorama bilden, in welchem und durch welches wir die
ganze übrige alte Welt erblicken. |
(P. Fr. Kanngiesser.) |
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