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ANARCHIE ist der Zustand eines gemeinen Wesens oder einer politischen
Gesellschaft, worin keine (positiv angeordnete) Obergewalt besteht, oder anerkannt wird.♦ |
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Dieser Zustand kann gedacht werden entweder als vorhergehend der Einsetzung
einer Obergewalt, oder als die Folge ihres Aufhörens (oder auch nur ihrer Unterbrechung) mag es
bloß der That nach oder auch dem Recht nach geschehen.♦ |
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In beiden Zuständen denkt man sich also eine durch den bürgerlichen
Vereinigungsvertrag zur politischen Gesellschaft verbundene, nicht aber eine ohne alles Band der
Gesellschaft, in zerstreuter Vereinzelung oder blos in physischer Berührung |
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ANARCHIE |
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lebende, Menschenmenge. Man denkt sich also ein Verhältniß, zu dessen
vollendeter Gestaltung diejenige Obergewalt, deren Ermanglung das Wort Anarchie ausdrückt,
nothwendig oder natürlich gehört, wo also nur ausnahmsweise jene vollkommne Gestaltung noch
nicht zu Stande gekommen oder wieder zu Grunde gegangen ist. |
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Wiewohl aber hienach die der vollendeten Einrichtung des Staats — im Begriff
oder in der That — vorhergehende, und die als nachfolgendes, zufälliges Gebrechen eines schon
eingerichteten Staats gedachte Anarchie in den Hauptmerkmalen mit einander überein kommen: so ist
es doch nothwendig die beiden Zustände im Einzelnen zu betrachten, weil unter ihnen gleichwol nicht
unbedeutende Unterschiede wirklich obwalten, und noch größere nach den verschiedenen Theorien
der Publicisten erscheinen. Man würde sich leichter über die — in staatsrechtlicher Hinsicht
allerdings wichtige, und nichts weniger als müßige Schulfrage verständiget haben, wenn man die
natürliche von der positiven Gesellschaftsgewalt, das Recht von der That, die bloße Abstraction
des Verstandes von der wirklichen Natur der Sache genauer unterschieden hätte. |
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Mehre ältere Schriftsteller (von welchen jedoch einige das Wort Anarchie nicht
brauchen, wiewol sie den Begriff davon gleichmäßig aufstellen) unter den Neuern aber zumal
Martini, und selbst Schlözer haben die Anarchie als einen mittlern Zustand zwischen jenem des
außerbürgerlichen und bürgerlichen betrachtet. Sie ist Ihnen ein gesellschaftliches Verhältniß von
Menschen, die zwar unter sich den bürgerlichen Vereinigungsvertrag, aber noch keinen
Unterwerfungsvertrag geschlossen haben; wonach also unter denselben noch die volle Freiheit und
Gleichheit, und keine wahre Gesellschaftsgewalt, sondern blos die Kraft der einmüthigen Beschlüsse
giltig wäre. Allein in dem Begriff eines wahren Gesellschaftsvertrags liegt auch zugleich die
Unterwerfung unter die natürliche Gesellschaftsgewalt. Nur in der Abstraction, nicht in der
Wirklichkeit mögen die Vereinigungs- und Unterwerfungsverträge von einander geschieden werden;
und es erhellet daraus, daß Anarchie, wenn sie eine Gesellschaft ohne alle Gewalt bezeichnen soll,
etwas sich selbst widersprechendes oder ein Unding ist. |
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Sie kann also nur betrachtet werden: 1) In Ansehung einer positiven eingesetzten
Obergewalt als Zustand ihres völligen Ermangelns oder auch ihrer bloßen Unwirksamkeit. 2) In
Ansehung der natürlichen — also dem Recht nach immer, d.h. so lange die Gesellschaft selbst
besteht, vorhandenen – Obergewalt, aber blos als Zustand der Unwirksamkeit, und nie des
Ermangelns.♦ |
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Der erste der beiden Fälle kann also entweder blos der That, oder zugleich dem
Recht nach eintreten, der zweite kann rechtlich nie, sondern nur faktisch vorhanden seyn. Denn wenn
in einer bürgerlichen Gesellschaft noch keine positive Verfassung eingeführt ist, so gilt darin die
natürliche Gesellschaftsgewalt, nämlich der Wille der Majorität oder wenigstens der Unanimität.
(S. den Art. Stimmenmehrheit). Und ob auch dieses blos natürliche Verhältniß schwierig, unbeholfen
und mangelhaft, ob es |
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ANARCHIE |
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unsicher und selbst zur Auflösung führend sey – es ist darin doch die wahre und
volle Gesellschaftsgewalt, — welcher alle Einzelnen rechtskräftig unterworfen sind — wirklich
vorhanden: ja es kann keine positiv eingesetzte Gewalt mehre oder andere Rechte haben und
ausüben, als schon in der natürlichen enthalten sind.♦ |
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Auf gleiche Weise kehrt die Gewalt, wenn ihre positiv eingesetzten Organe
ermangeln, d.h. wenn die Verfassung wie immer — der That allein oder auch dem Recht nach —
aufhört, an ihre natürliche Inhaberin, d.h. an die — Gesellschaft selbst und an ihre natürlichen
Organe (Majorität, oder wenn man will Unanimität) zurück, und es tritt genau dasselbe rechtliche
Verhältniß wieder ein, welches vor Einführung jener Staatsverfassung vorhanden gewesen. Und
wenn man ein Volk oder Land, welches seine positiv schon vorhanden gewesene Verfassung — mit
Recht oder Unrecht — verloren und noch keine andere gegründet hat, des Namens eines Stats nicht
unwerth hält; so kann man denselben auch demjenigen Zustand nicht verweigern, welcher als
vorhergehend der Einsetzung einer positiven Verfassung gedacht wird. |
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Hienach zerfällt jeder Unterschied, welchen Martini, Schlözer und andere zwischen
dieser sogenannten Anarchie und dem Stat aufgestellt haben, und es bleibt nur jener zwischen dem
einer positiven Verfassung vorhergehenden oder nachfolgenden Zustand zu betrachten übrig,
welcher aber kein wesentlicher mehr seyn kann. |
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Die vorhergehende Anarchie (man erlaube uns diese Benennung, um
Mißverständnissen zuvorzukommen) ist — wenn wir etwa ganz kleine in sehr einfachen Verhältnissen
und unverderbten — etwa durch Überlieferungen heiligen, überhaupt ohne Statsgewalt kräftigen —
Sitten lebende Gesellschaften ausnehmen, als welchen auch die anarchische Verfassung zur Noth
genügen könnte, — ist wol jederzeit eine Unvollkommenheit oder ein Gebrechen (wie jede schlechte
Verfassung ein Gebrechen ist), aber sie ist kein widerrechtlicher Zustand. Sie kann sogar zum Theil
auch in constituirten Staten Platz greifen, nämlich wenn und in sofern den verfassungsmäßigen
Autoritäten nicht der volle Umfang der natürlichen Gesellschaftsgewalt übertragen, also in Ansehung
des nicht übertragenen das natürliche Verhältniß fortdauernd ist. Nur wenn die natürliche Obergewalt
— oder die Herrschaft des noch auf sein natürliches Organ beschränkten allgemeinen Willens faktisch
und zufällig, durch Ungehorsam der Einzelnen, durch gewaltthätiges Widerstreben, freche
Leidenschaft, Parteiwuth oder Selbstsucht der Gesellschaftsglieder, unwirksam gemacht wird — was
aber auch einer positiven Statsgewalt wiederfahren kann — tritt eine rechtswidrige Anarchie —
welche aber eigentlich die Auflösung der Gesellschaft selbst ist — ein. |
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Dagegen kann zwar die nachfolgende Anarchie ohne Unrecht entstehen — wie
wenn ein Regentenhaus erlischt, und für diesen Fall in der Constitution nicht vorgesorgt worden, oder
in einem Wahlreich, wenn für den Fall der Thronerledigung keine ausdrücklich eingesetzte Gewalt
besteht, (in solchen Fällen ist die nachfolgende Anarchie der vorhergehenden völlig gleich), aber mei-
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ANARCHIE |
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stens ist sie ungerecht, d.h. aus ungerechter That entsprungen, und mit
Unterdrückung auch der natürlichen Gewalt verbunden. Sie ist die Ausartung einer Verfassung, oder
das Aufhören ihrer Wirksamkeit, der Stillstand oder die Lähmung der eingesetzten Gewalten, kurz
eine Krankheit des States, welche leicht unheilbar werden und seine Auflösung nach sich ziehen
kann. |
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Von der vorhergehenden (oder primitiven) Anarchie ist es schwer, historische
Beispiele zu geben, weil Völkern, die stark genug sind, um in der Geschichte handelnd aufzutreten,
die einfache natürliche Verfassung nicht mehr genügen kann; und weil diejenigen, denen sie genügen
könnte, dennoch gar leicht und bald durch Gewalt, Ansehen, Gewohnheit oder Zufall in eine oder die
andere positive Form sich fügen. Doch ist auch die nachfolgende Anarchie selten ganz rein oder
vollständig anzutreffen; aber beide mögen doch in der Idee rein gedacht werden, und sind wahre
Ideen, ob auch nirgend in der Erfahrung eine ganz entsprechende Darstellung vorhanden sey.♦ |
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Wir möchten die Verfassung der Teutschen zu Cäsars und Tacitus Zeit als
Beispiel der vorhergehenden Anarchie aufstellen. Denn die natürliche Verfassung einer freien
ungleichen Gesellschaft ist bei ihnen wenigstens in den Hauptzügen noch zu erkennen, und welche
positive Einsetzungen schon bei ihnen vorkommen, dieselben sind erst im Entstehen, schwach
bezeichnet, ungenügend und von unbefestigtem Ansehen. Gleichwol genießen jene Teutschen unter
dem Schirme natürlich guter Sitten und eines treuen Gemeingeistes, welcher ein künstliches Organ des
allgemeinen Willens entbehrlich macht, mehr Sicherheit, Ruhe und bürgerliches Glück, als oft unter
den künstlichsten Verfassungen und den regelmäßigsten Gewalten aufkommt. |
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Beispiele der nachfolgenden Anarchie, als Ausartung oder Verfall der positiven
Verfassung, als Krankheit der Staten, treffen wir in neuer und alter Geschichte nur allzu viele an. Die
griechischen Freistaten und Rom büßten oftmals die Fehler ihrer künstlichen Verfassungen durch die
Gräuel wilder Gesetzlosigkeit und ungebändigten Parteikampfs. Ein uns näher liegendes Beispiel
bietet uns das Mittelalter in der Ausartung des Lehenwesens, und in seiner Folge, den Schrecknissen
des Faustrechts, dar. Das allerneueste und durch Charakter und Wirkung imponirendste, lehrreichste
Beispiel ist die Leidensgeschichte Frankreichs unter den Stürmen der Revolution. |
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Untersucht man, welche Verfassungen und welche Staten am meisten geeignet
seyen, in Anarchie zu verfallen, und bei welchen die Wirkungen derselben am schrecklichsten seyen:
so zeigt es sich in vielfacher Erfahrung, daß es diejenigen sind, worin keine Moralität und keine
Freiheit besteht. Wo unverderbte, einfache, naturgemäße Sitten herrschen, da mag auch unter einer
minder guten Verfassung Ruhe und Ordnung, innerer Friede herrschen; und eine freie liberale
Regirung wird durch die lebendige Anhänglichkeit der Bürger befestigt. Wo das Volk freien
Gehorsam den natürlichen Gesetzen leistet, da mag das Nachlassen der positiven Gewalt weniger
verderblich seyn. Wo aber der Gebieter |
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ANARITAE |
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Wille als einige Regel der Handlungen gilt, da wird völlige Zügellosigkeit auf die
Zerreißung der positiven Bande folgen. Das mäßige, nüchterne Sparta wußte wenig von den
anarchischen Gräueln, welche das frivole, wollüstige, den Leidenschaften dienstbare Athen oder
Syrakus erfuhren. Rom gehorchte den Gesetzen, so lange die wahre Freiheit und die guten Sitten
bestunden: erst der aristokratische Übermuth der Reichen und die Verderbtheit des ganzen Volks
setzten freche Gewaltthat an deren Stelle. Die stillen Thäler der Schweiz, das freie Britannien sind so
gesichert vor den Schrecknissen der Anarchie, als das osmannische Reich oder die Staten der
Barbaresken ihnen preis liegen. Die Richelieu's und die dü Barry's, die Bastille und das Palais
Royal haben eine französische Revolution möglich gemacht.♦ |
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Hienach wäre überflüssig von den Ursachen der Anarchie oder von den Mitteln
ihr zuvorzukommen, noch ein weiteres zu sagen. Sie aber in ihrem Laufe zu hemmen, oder sie
aufzuheben und zu heilen, ist überhaupt Sache der Weisheit und Kraft derjenigen, denen eigene
Bestrebung, oder Recht, oder Verhängniß eine thätige Rolle im Sturm anweisen, ja vielmehr des
Verhängnisses allein, als dessen durch Auflösung der Gesellschaftsbande entfesselter Strom der
ohnmächtigen Leitung der Menschen spottet. |
(v. Rotteck.) |
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