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ERZIEHUNG. Rousseau sagt in seinem Emile: Nous naissons foibles, nous avons besoin des forces; nous naissons dépourvus de tout, nous avons besoin d’assistance; nous naissons stupides, nous avons besoin de jugement. Tout ce que nous n’avons pas à notre naissance et dont nous avons besoin étant grands, nous est donné par l’éducation — und dehnt hier, wie in dem unmittelbar
Folgenden, wo er von der éducation de la nature, des hommes und des
choses spricht, den Begriff der Erziehung sehr weit aus. Er versteht
darunter Alles, was das hilflose Kind zu einem freien, selbständigen
Wesen macht, und schließt weder die Entwickelung jedes Einzelnen
durch den gewöhnlichen Lauf der Natur, noch die absichtslose
Einwirkung der Umgebungen auf die Zöglinge aus, ja selbst der
Gedanke an eine Beschränkung des Begriffs mit Rücksicht auf das
Alter scheint ihm an diesen Stellen ganz fern gelegen zu
haben.♦ |
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In diesem Sinne kann hier von Erziehung nicht die
Rede sein, wie man denn auch gewöhnlich einen andern Begriff damit
zu verbinden pflegt. Gewöhnlich beschränkt man das Wort auf das
Knaben- und Jünglingsalter, wo die physische und moralische Reise
noch nicht vollendet ist, und bezieht es bald nur auf die
absichtlichen Einwirkungen Anderer auf die leibliche und geistige
Entwickelung der unmündigen Menschheit; bald steckt man dem
Begriffe, den man damit verbindet, noch engere Grenzen, indem man
nicht selten Erziehung und Unterricht von einander scheidet. Eine
ähnliche Verschiedenheit im Gebrauche der entsprechenden Wörter
educatio, agogē u. s. f. findet auch bei Römern und Griechen statt.
Ich sehe hier natürlich von dem Gegensatze, worin Erziehung und
Unterricht häufig zu einander gedacht werden, ganz ab, und halte
mich an die Bedeutung des Wortes, welche ich eben als die
gewöhnliche bezeichnet habe. |
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Dabei kann es mir nur darauf ankommen, die
allgemeinsten Grundsätze der Erziehung mit Rücksicht auf die Praxis
unter den bedeutendsten Völkern zu entwickeln. Die Theorie ist in
dem Artikel Pädagogik gleichfalls mit Rücksicht auf die
bedeutendsten Leistungen der classischen Völker des Alterthums, wie
des Mittelalters und der neuern Zeit besprochen. |
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ERZIEHUNG |
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Die Erziehung kann nichts schaffen, wozu kein
Keim in dem Zöglinge vorhanden ist; sie hat es lediglich mit der
Pflege und Wartung dessen zu thun, was sie in dem Menschen findet;
sie kann nur entwickeln und bilden. Hierauf führt zunächst die
Sprache, welche in ihren Lauten gewöhnlich auf das Treueste
verkündet, welchen Gang die Entwickelung der Begriffe und Ideen bei
den verschiedenen Völkern genommen hat.♦ |
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Die Ausdrücke, womit die Hebräer den Begriff des
Erziehens bezeichnen, {hebräischer Text} sind alle von Wurzeln
herzuleiten, die auf das Bestimmteste beweisen, daß sie dabei nur an
ein Großziehen, Vermehren, Erhöhen der in dem Kinde liegenden Kräfte
gedacht haben. Selbst {hebräischer Text} a. r. {hebräischer Text},
auf dem Arme tragen (Klagel. 4, 5), heißt eigentlich nur ein Wärter
(4 Mos. 11, 12). ♦ |
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Ebenso bezieht sich tréphein bei den Griechen
ursprünglich nur auf das Fest- und Starkmachen, und wird dann auch
von Pflanzen gebraucht, wie denn auch umgekehrt solche Ausdrücke,
welche zunächst auf die Cultur der Pflanzen gehen, auf die Erziehung
der Menschen übergetragen werden. Hierher ist sogar agōgē und
anagōgē zu zählen, deren Abstammung von ágein überdies
unwidersprechlich erweist, daß darin ursprünglich nur der Begriff
der Leitung und Führung gelegen habe. Dasselbe gilt von dem
lateinischen educare und educatio, wie denn auch unser teutsches
„Ziehen" nichts Anderes als die Kraftäußerung bezeichnen kann,
vermöge welcher wir einen Gegenstand ausdehnen, verlängern,
fortbewegen. Wie die Sprache, so erweist auch die Erfahrung aller
Zeiten, daß der Erzieher keinen neuen Keim in seine Zöglinge
pflanzen könne; es liegt ihm nur die Wartung und Pflege der
vorhandenen ob; er soll dieselben nur so behandeln, daß sie Stengel
treiben, die zu ihrer Zeit Blüthen und Früchte tragen. |
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Darum muß er zuvörderst der Natur folgen — ein
Grundsatz, den man in der Praxis gewiß zu allen Zeiten befolgte, der
sich jedoch in der Theorie erst seit Rousseau allgemeine Geltung
verschafft hat. Selbst die Pädagogen, welche die menschliche Natur
seit Adam's Fall für böse und verderbt halten, können sich, wie
weiland Amos Comenius, nicht mehr ganz von ihm losmachen, während
die Consequentesten, besonders nach Jean Paul's Vorgange, wieder in
Übereinstimmung mit der Praxis aus ihm einen andern, nicht minder
wichtigen, herleiten. ♦ |
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Soll der Erzieher seinen Zöglingen blos zur
Entwickelung, Bildung und Vollendung ihrer ursprünglichen Natur
behilflich sein, so hat er nicht blos auf das Gemeinsame, was den
Charakter der menschlichen Gattung überhaupt ausmacht, sondern auch
und vornehmlich auf das Eigenthümliche jedes Einzelnen zu achten,
jedoch nicht so, daß er von Anfang an ein einzelnes,
hervorstechendes Talent unter Vernachlässigung des ganzen Menschen
mit besonderer Vorliebe ausbildete, sondern, immer in dem bewußten
Streben, Alles aus dem Kinde herauszubilden, was einer Ausbildung
fähig ist. ♦ |
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Es ist nach A. H. Niemeyer's Ausdruck so wenig
blos der Körper, als der Geist, so wenig blos der Verstand, als das
Herz, so wenig blos das Gefühl, als die Vernunft; es ist der ganze
Mensch, den er ins Auge fassen soll, und auch |
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ERZIEHUNG |
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dieser Grundsatz findet in der Praxis der
verschiedenen Völker und Zeilen in sofern seine Bestätigung, als
sich aus der Geschichte der Erziehung nachweisen läßt, daß er im
Verlauf der Jahrhunderte, und namentlich seit dem Auftreten und
Verbreiten des Christenthums, eine immer größere Geltung gewonnen
hat. |
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Bei den Griechen der heroischen Zeit herrschte
die Rücksicht auf das Physische vor. Denn obschon Achilles, das
Ideal dieser Zeit, ebenso wol musisch als gymnastisch gebildet ist,
obschon Phönix, auf den letzten Zweck der Erziehung in dieser Zeit
hinweisend, sagt (Ilias IX, 402): |
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{zwei Zeilen griechische Verse} |
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und obschon wir an den Höfen des Menelaus,
Ulysses und Alcinous musische Bildung antreffen, so führt doch der
ganze Ton des heroischen Zeitalters auf die Annahme, daß in der
Praxis ein höherer Werth auf die gymnastische, als auf die musische
Bildung gelegt worden. Erklärt doch Laodamas, indem er den Ulysses
zur Theilnahme an den Wettkämpfen auffodert (Odyss. VIII, 147. 148),
gradezu: |
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{zwei Zeilen griechische Verse} |
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Und erscheint doch die Gymnastik viel
ausgebildeter als die Musik; denn während die verschiedenartigsten
gymnastischen Übungen erwähnt werden, als Laufen, Ringen, Springen,
Werfen mit dem Wurfspieß und mit dem Diskus, Faustkampf,
Bogenschießen, Wagenrennen, Kampf in Waffen und Tanz, lassen sich im
Grunde nur Gesang und Saitenspiel als die für das Leben bildenden
musischen Künste nennen. Die Idee der kalokagàthía mag Einzelnen
vorgeschwebt haben; zu ihrer Verwirklichung kam es im heroischen
Zeitalter nicht; indessen würde sie gewiß aus den vorhandenen
Keimen, sowol im Peloponnes als unter den kleinasiatischen Griechen,
reiner entwickelt und im Leben immer vollendeter dargestellt sein,
wenn nicht dort die Einwanderung der Dorier, hier besonders die Nähe
des Orients einen eigenthümlichen und in gewisser Beziehung
hemmenden Einfluß geübt hätte; wenigstens finden wir jene Idee unter
den Doriern, wie unter den Joniern in Kleinasien, nur in einer
einseitigen Entwickelung vor. Bei jenen überwog das Gymnastische,
bei diesen das Musische. ♦ |
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Der Beweis für diese Behauptungen liegt, was die
Spartaner, als die hauptsächlichsten Repräsentanten des Dorischen
Stammes anlangt, theils darin, daß die Institutionen ihres Staates
zu einer Zeit stationair wurden, wo der musischen Bildung noch sehr
enge Grenzen gesteckt waren, theils in dem politischen Geiste dieser
Institutionen selbst; denn diese waren insgesammt nicht blos aus
Erweckung von Gemeinsinn, sondern auch und vornehmlich auf Belebung
eines kriegerischen Geistes berechnet. Die Knaben wurden nicht blos,
wie bekannt, schon in der frühesten Kindheit (mit dem siebenten
Lebensjahre) dem Familienleben entrissen und der allgemeinen
öffentlichen Disciplin unterworfen, sondern diese trug auch einen
rein militairischen Charakter an sich. (Aristot. Pol. VII, 2.) Die
Teilnahme der Mädchen und Jungfrauen an den gymnasti- |
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ERZIEHUNG |
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schen Übungen, die zeitige Gewöhnung der Kinder
an Durst und Hunger, Hitze und Kälte, das Dringen auf dürftige
Kleidung und schmale Kost, das Verbot warmer Bäder, die Sitte des
Stehlens und der Kryptie zeigen das ebenso deutlich, als die
eigenthümliche Gestaltung, welche die Gymnastik und die Musik in
Sparta, unter dem Einflusse des kriegerischen Geistes, der dort alle
Lebensverhältnisse durchdrang, annahmen. ♦ |
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Man muß in dieser Beziehung, ohne die Bedeutung
des religiösen Moments in beiden Künsten für die richtige Würdigung
des Dorischen Lebens zu verkennen, im Betreff der Gymnastik
besonders auf den Umfang der kriegerischen Spiele unter den
Spartanern, auf den Eifer, womit grade diese Spiele getrieben
wurden, sowie auf die ausgedehnte Anwendung der Pyrrhiche, eines
Tanzes, der nach Plato alle vorsichtigen Wendungen zum Vermeiden von
Stößen, sowie alle auf den Angriff des Feindes berechnete Bewegungen
darstellte, hinweisen, während die spartanischen Embaterien und
Enoplien den kriegerischen Charakter, den selbst das musische
Treiben in Sparta angenommen hatte, außer Zweifel setzen. Hatte
aber, wie schon nach diesen allgemeinen Andeutungen nicht in Abrede
gestellt werden kann, die Verfassung des spartanischen Staates eine
militairische Tendenz, so mußte die Gymnastik um so gewisser als
Hauptbildungsmittel in den Vordergrund treten, je augenfälliger es
war, daß sie unmittelbarer und kräftiger zum Kriege vorbereitete,
als die Musik. |
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Dagegen sagte die unbequeme Gymnastik dem
weichlichen Sinne der kleinasiatischen Jonier nicht lange zu; sie
trat bald in den Hintergrund und wurde endlich nur noch von denen
getrieben, die sich zu eigentlichen Athleten ausbilden wollten,
während das Musische an Umfang gewann, aber zugleich seine Bedeutung
als Erziehungsmittel für das sittliche Leben verlor. |
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Nur in Athen durchdrangen sich beide Elemente
eine Zeit lang; nur hier strebte man, so lange die alte Zucht, aus
der die Sieger bei Marathon hervorgegangen waren, die herrschende
blieb, nach der harmonischen Ausbildung des Leibes und der Seele.
Die Athenische Jugend hatte einen dreifachen Curs durchzumachen: den
gymnastischen bei den Pädotriben in den Palästren, den musischen im
engern Sinne bei den Kitharisten und den wissenschaftlichen bei den
Grammatisten. Und Alle, die es irgend vermochten, schickten ihre
Knaben in diese Schulen; denn nur wer sich die in ihnen überlieferte
Bildung zu eigen gemacht, galt für einen freien, gebildeten Mann,
wie denn in der That die Idee der kalokagàthía auf diesem Wege am
sichersten erfüllt und wirklich Großes erreicht wurde. ♦ |
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Die Vorübungen zum Fünfkampf, wie dieser Kampf
selbst, zu dem die Jünglinge methodisch angewiesen wurden, gaben dem
Körper Kraft und Gewandtheit, und wäre ja noch etwas Rohes und
Wildes zurückgeblieben, — schon die Orchestik, welche gleichzeitig
eintrat und als Übergang von dem gymnastischen zum musischen Treiben
anzusehen ist, war vollkommen geeignet, jeder Beirrung dieser Art
vorzubeugen, und der Gymnastik, die allerdings ursprünglich nur für
den Körper geordnet sein mochte, zugleich einen wahrhaft sittlichen
Einfluß zu |
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sichern. Einen solchen übte auch der Curs bei dem
Kitharistes, der die Jugend in der Handhabung musikalischer
Instrumente, namentlich der Kithara, in Versbau, Rhythmik und
Melodik unterwies. Alles war bei ihm, wie Jacobs sagt, harmonisch
und Eins. Die Worte ernst, fromm und belehrend, die Rhythmen
großartig und feierlich, die Melodie einfach und angemessen.
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In der Schule des Grammatistes endlich, wo nicht
blos die ersten Elemente, besonders Lesen und Schreiben, getrieben,
sondern auch dafür gesorgt wurde, daß die Knaben mit den Gedichten
der trefflichsten Dichter bekannt wurden, namentlich mit denen des
Homer, Hesiod, Theognis u. s. f., erhielt der Geist weitere Nahrung
und Ausbildung, und doch erscheint auch diese Erziehung, selbst in
der Zeit, auf welche schon Aristophanes mit Bewunderung
zurückblickt, einseitig. Sie erfaßte nicht den ganzen Menschen. Das
ästhetische Element überwog, wie denn das griechische Leben
überhaupt von der Idee des Schönen getragen wurde, ohne dem Gemüthe
die Nahrung zu geben, welche der germanische Volksstamm nach seiner
Eigenthümlichkeit mit Recht fodert, und welche besonders in dem
Heiligthume eines heitern Familienkreises zu finden ist. Aber
ebendieses Heiligthum blieb den Griechen verschlossen. Selbst in
Sparta, wo die Hausfrau noch am meisten Geltung hatte, während sie
bei den Joniern, besonders in Athen, in ganz unwürdigen
Verhältnissen lebte, war von keinem Familienleben die Rede. |
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Anders in Rom. Hier wuchsen die Kinder im Schooße
der Familie, in unbedingter Abhängigkeit vom Vater, unter den Augen
der Mutter auf. Die Erziehung war eine educatio domestica, und nur
in sofern zugleich eine einfache Unterweisung zum Patriotismus, als
die Bürger, vom Geiste des öffentlichen Lebens durchdrungen, diesen
Geist auch in ihren Familienkreisen geltend machten. Von dieser
Seite betrachtet scheint die Erziehung, wie sie sich unter den
Römern gestaltete, Vorzüge vor der griechischen zu haben; es scheint
beim ersten Blick, als ob in Rom die gerügte Einseitigkeit der
Hellenen vermieden wäre. Aber näher betrachtet ergibt sich, daß man
hier nicht einmal den Gedanken einer harmonischen Ausbildung des
Leibes und der Seele faßte, geschweige ihn, soweit es die
Eigenthümlichkeit der Nationalität zuließ, verfolgte. Man
verschmähte die aus dem Bereiche des Schönen entlehnten
Erziehungsmittel der Hellenen, die Gymnastik wie die Musik, und
blieb, auch nachdem unter griechischem Einflusse die
wissenschaftlichen Curse bei dem Grammatisten, dem Grammaticus und
dem Rhetor geordnet waren, in praktisch-verständiger Richtung dem
höheren Leben des Geistes abhold. Dazu fehlte den Römern, wie den
Griechen, indem ihre religiösen Ideen der Wahrheit entbehrten und
durchaus mit bedenklichem Aberglauben verkettet waren, ein sicheres
Fundament für das Gedeihen ihrer sittlichen Bildung. |
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In dieser Hinsicht hatten die Juden einen
wesentlichen Vorzug vor beiden. Die Lehre von einem Gott, dem
allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, die Überzeugung, daß
von ihm sowol die Geschicke der Einzelnen, als die des ganzen Volks
bis zum Eintreten des |
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ERZIEHUNG |
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messianischen Reichs geleitet würden, sowie die
Vorstellungen von diesem Reiche selbst, bewirkten, daß in der
geistigen Entwickelung der Nation das religiöse Element das
vorherrschende blieb. Daher hat die hebräische Sprache, obschon in
jeder andern Beziehung arm, doch für religiöse Begriffe einen großen
Reichthum und eine bedeutende Gewandtheit entwickelt; daher fassen
und behandeln die Historiker die Geschichte ihres Volkes durchaus
von theokratischem Standpunkte; daher wird die Gesetzgebung, durch
welche selbst das Privatleben oft in das geringste Detail geregelt
ist, als eine unmittelbare Offenbarung Jehova's betrachtet; daher
geht das Wenige, was sich von Philosophie bei den Juden findet, von
religiösen Betrachtungen aus, oder kommt auf dergleichen zurück;
daher sind die Poesie und Prophetie, die höchsten Blüthen, welche
der jüdische Geist getrieben, entweder ganz unmittelbare Ergüsse
religiöser Begeisterung, oder stehen doch fast ausschließlich im
Dienste der Religion, und ebendaher trägt denn auch die Erziehung
unter den Juden einen durchaus religiösen Charakter; aber über der
Religion wird nicht blos die Ausbildung des Leibes vergessen,
sondern es kann auch zuerst wegen der Rohheit des Zeitalters, dann
wegen der aufkommenden hierarchischen Tendenzen das eigentlich
wissenschaftliche Leben nicht gedeihen. Auch die Erziehung unter den
Juden erfaßte also den ganzen Menschen nicht, ja das rein
Menschliche trat bei allen bisher besprochenen Erziehungsweisen
hinter dem Nationalen auf erschreckende Weise zurück. |
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Erst das Christenthum machte die reine Auffassung
und consequente Durchführung jenes Grundsatzes möglich. Denn wie es
als die Religion der Liebe die Schranken, welche die Nationen, die
Geschlechter und Stände von einander trennten, der Idee nach
stürzte, so enthielt es auch gleich bei seinem Eintritte in die Welt
nicht blos die lautersten Anschauungen von Gott und unserm
Verhältnisse zu ihm, sondern sein Stifter trug dieselben auch in
einer durchaus faßlichen und populairen Form vor, ohne im vollen
Bewußtsein der Wahrheit seiner Lehren die wissenschaftliche
Forschung irgendwie abzuschneiden oder zu beschränken. Die wahre
Wissenschaft kann dem wahren Christenthume nur förderlich
sein.♦ |
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Aber freilich wurde das Alles erst im Laufe der
Zeit erkannt. Denn wie Anfangs die Völker in strenger nationaler
Abgeschiedenheit verharrten und das weibliche Geschlecht in vielen
christlichen Staaten lange in einer dem christlichen Geiste
widersprechenden Unterordnung verblieb, ja wie sich sogar die
Nationen, welche den abscheulichsten Sklavenhandel trieben, geraume
Zeit hindurch besonderer Christlichkeit rühmten, so mußten erst
Jahrhunderte vergehen, ehe sich die Christenheit aus den
Einseitigkeiten der heidnischen und jüdischen Welt herausarbeitete
und den Grundsatz geltend machte, daß die Erziehung den ganzen
Menschen erfassen müsse. ♦ |
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Nach der Völkerwanderung, durch welche die
letzten Blüthen classischer Bildung vernichtet und an die Stelle der
Studien, welche den Geist allseitig zu bilden im Stande waren, das
trivium und quadrivium gesetzt wurden; nach den Zeiten Karl's
des |
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Großen, der zwar dem Erziehungs- und
Unterrichtswesen in seinem Reiche einen neuen Aufschwung gegeben,
indem er Schulen der verschiedensten Art gestiftet, und seinem Volke
die Überzeugung nahe gebracht hatte, daß Geistesbildung einen
höheren Werth habe als Körperkraft und Gewandtheit, der aber doch
mit allen seinen Bemühungen nicht über das trivium und quadrivium
hinausgekommen war; nach den Jahrhunderten, wo einerseits das
Ritterthum nicht ohne eine religiöse Basis zu haben die körperliche
und ästhetische Erziehung darstellte, auf der andern die
Geistlichkeit sich durch das Treiben der überlieferten Wissenschaft
und unfruchtbarer Scholastik um die Verstandesbildung im Dienste der
Kirche abmühete, scheint mir zuerst Victorin Rambaldoni aus Feltre
(geb. 1378), in seinen Lehr- und Erziehungsanstalten zu Padua,
Venedig und Mantua darauf ausgegangen zu sein, sämmtliche Anlagen
seiner Zöglinge harmonisch zu entwickeln. Er suchte den Körper als
Träger des Geistes durch Einführung gymnastischer Übungen aller Art
ebenso kräftig als gelenk zu machen und den Geist nach seinen
verschiedenen Functionen, nicht einseitig, also das Gedächtniß nicht
auf Kosten des Verstandes, den Verstand nicht auf Kosten des
Gemüths, oder umgekehrt, sondern alle gleichmäßig und methodisch
auszubilden, ohne wie andere Vertreter der classischen Literatur in
der damaligen Zeit das religiöse Element hintanzusetzen.♦ |
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Und was er Einzelnen zu gewähren anfing, das ist
nach den Zeiten der Wiederbelebung der Wissenschaften in Teutschland
und nach den Zeiten der Reformation Gemeingut geworden. Der
Grundsatz, daß die Erziehung den ganzen Menschen erfassen müsse,
wird nicht blos aller Orten ausgesprochen, sondern man strebt auch
allgemein nach seiner Verwirklichung. Die Beweise für diese
Behauptung liegen in der Erneuerung eines methodisch ausgebildeten
Turnwesens, woran allmälig das ganze heranwachsende Geschlecht Theil
nehmen soll, in dem Streben, die Erziehung des Hauses mit den
Grundsätzen, die in den Schulen herrschend geworden sind, in
Einklang zu bringen, in der Umsicht, womit die Lectionsplane für die
einzelnen Schulen überall angeordnet zu werden pflegen, in der
Verbreitung einer den Geist wirklich bildenden Methode, die schon
bei dem Elementarunterrichte eintreten kann, endlich in dem Ringen
nach einem vernünftigen Christenthume, als der sichersten Grundlage
für die Bildung zur Sittlichkeit. |
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Ist aber jene Behauptung hierdurch wirklich
gerechtfertigt, so richtet sich auch die Einseitigkeit der Ältern
und Erzieher von selbst, die sich begnügen, das aus dem Kinde
herauszubilden, was es einmal in seinen bürgerlichen Verhältnissen
werden soll, ohne an die Entwickelung des rein Menschlichen in dem
Zögling zu denken. Denn soll nach jenem Grundsatze der ganze Mensch
gebildet werden, so muß doch jede uns als Menschen gegebene Anlage
und Fähigkeit ins Auge gefaßt, also zunächst nicht das, was uns zum
Ergeifen irgend eines Berufs, sondern das, was uns zu Menschen
macht, berücksichtigt werden. |
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Und da sich das am lautersten in der Vernunft of-
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ERZIEHUNG |
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fenbart, so ergibt sich folgerecht weiter, daß
die Kräfte nicht blos zu wecken, die Anlage nicht blos zu bilden,
sondern gleichzeitig auf Alles hinzulenken ist, was der Vernunft als
des Menschen würdig erscheint, oder mit andern Worten, was der Idee
des Guten, den Foderungen reiner Sittlichkeit entspricht. Hat der
Erzieher diese Aufgabe gelöst, dann ist sein Geschäft vollbracht. |
(H. Niemeyer.) |
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