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ERZIEHUNG (physische). Wie der Zweck der
Erziehung überhaupt in nichts Anderem bestehen kann, als in der
Förderung der möglichst gleichmäßigen Ausbildung aller natürlichen,
dem Zustande der Gesundheit entsprechenden, geistigen wie
körperlichen Anlagen und Kräfte, so hat die physische Erziehung
vorzugsweise die Aufgabe, jenen körperlichen Anlagen und Kräften
eine solche Ausbildung zu verschaffen, daß sie nicht nur zur
möglichst freien, gleichmäßigen Thätigkeit gelangen, sondern auch
mit den geistigen stets in dem erfoderlichen Einklange stehen. Da
indessen Geist und Körper nicht getrennt und blos neben einander,
sondern mit und durch einander existiren, so ist es klar, daß die
körperliche oder physische Erziehung wol theoretisch bis zu einem
gewissen Punkte von der geistigen getrennt betrachtet werden kann,
in der Praxis aber stets mit ihr Hand in Hand gehen muß, damit der
Mensch seiner Vollendung möglichst nahe gebracht werde. ♦ |
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Alle Anlagen und Kräfte sind nur bis zu einem
gewissen Grade der Ausbildung fähig; wenn dieser erreicht ist, hört
die Entwickelung auf, und es kann nur noch von der Erhaltung der
erlangten Ausbildung die Rede sein; demnach muß es auch für den
Körper und seine Organe einen gewissen Punkt geben, wo sie für die
fernere Ausbildung unfähig sind, die Erziehung mithin ihr Ende
erreicht hat; wir sagen dann, der Mensch sei erwachsen, er sei reif.
Weder die allgemeine Reife des Körpers, noch die seiner einzelnen
Organe, lassen sich auf einen für alle Menschen geltenden Zeitpunkt
zurückführen; das Mädchen reift früher als der Knabe, der Südländer
früher als der Nordländer, und wie zahllos sind nun erst die
individuellen Verschiedenheiten, welche durch Krankheiten etc. der
Ältern wie der Kinder, durch zufällige äußere Einflüsse
hervorgerufen werden, oder von denen wir gar nicht einmal im Stande
sind, einen haltbaren Grund aufzufinden; ebendeshalb ist es auch
durchaus unmöglich, einen für alle, oder auch nur für eine größere
Anzahl von Fällen gültigen Erziehungsplan aufzustellen, vielmehr
bleibt das Meiste dem Ermessen der einzelnen Erzieher überlassen.
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Da diese selbst nun wieder ungleich erzogen, von
ungleicher Ausbildung sind, so wird die Ungleichheit der Resultate
der von ihnen unternommenen Erziehung noch leichter erklärlich, und
wir können uns nicht wundern, daß die Theorie der Erziehung nicht
nur im Ganzen nicht vor-, sondern sogar rückgeschritten ist; denn
offenbar standen die Griechen auf einer beiweitem höhern Stufe in
der Erziehungskunst, wenigstens in sofern sie ihre Anwendung auf das
männliche Geschlecht fand, als wir, und es ist hohe Zeit, daß wir
uns ernstlich mit den von ihnen gewonnenen Resultaten bekannt machen
und sie in das praktische Leben einzuführen suchen. Die Zahl
der |
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ERZIEHUNG |
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Schriften über physische Erziehung ist allerdings
nicht gering, allein, fast alle verwechseln die physische Erziehung
mit der Diätetik des kindlichen Alters, und zeigen wol, wie man
ernähren und kleiden, nicht aber wie man die körperlichen Anlagen
und Kräfte zur Entwickelung und Ausbildung gelangen lasten soll.
Unter solchen Verhältnissen wird Niemand verlangen können, daß wir,
obschon zur Erkenntniß des wirklichen Mangels gelangt, hier diesem
wirklich abhelfen und eine fertige Theorie der körperlichen
Erziehung aufstellen sollen, vielmehr glauben wir genug gethan zu
haben, wenn wir Andeutungen und einige leitende Ideen mittheilen,
nach denen das körperliche Erziehungsgeschäft vorgenommen werden
muß. |
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Vor Allem ist festzuhalten, daß der Mensch in
geistiger wie in körperlicher Hinsicht mit den Anlagen zu dem
gezeugt und geboren wird, was er als vollendeter Mensch dereinst
sein und erreichen soll, und daß in ihm selbst der Trieb rege ist,
sich zu entwickeln und auszubilden, nichts in der Welt aber im
Stande ist, irgend eine Kraft, irgend eine Thätigkeit zu wecken und
einzubilden, wozu die Anlage fehlt. Demnach besteht also die
Hauptaufgabe der physischen Erziehung darin, alles zu meiden, was
der Selbstentwickelung hindernd in den Weg zu treten, und alles zu
thun, was sie zu fördern und zu unterstützen vermag; daß dies nur
für den möglich, welcher eine vollendete Kenntniß der körperlichen
Anlagen und Kräfte besitzt, versteht sich von selbst; denn man muß
bereits wissen, was sich entwickeln kann und will, und wie diese
Entwickelung vor sich geht, wenn man negativ wie positiv darauf
einen thätigen Einfluß ausüben will. Diese Unbekanntschaft der
Erzieher mit dem Substrat ihrer Thätigkeit ist eben das
vorzüglichste Hinderniß bei der Erziehung von jeher gewesen und wird
es wol lange noch sein. ♦ |
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Daß man den Menschen sich selbst entwickeln
lassen solle, hat man zwar längst erkannt und ausgesprochen, allein
man hat daraus gar häufig den ganz irrigen Schluß gezogen, man
brauche gar nichts zu thun, ebenso wie Andere, von einer irrigen
Theorie geleitet, im Gegentheil wieder glaubten, aus sich selbst
werde der Mensch gar nichts, es müsse ihm Alles erst an- und
eingebildet werden. Dieser Irrthum ist es besonders, welcher sich in
der neuern Zeit geltend gemacht hat, wo man soviel erzieht, daß man
anstatt erzogene eine übermäßige Menge verzogener oder zu Maschinen
gezogener Menschen sieht. ♦ |
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Alle organische Thätigkeit ist in einem
fortwährenden Steigen und Fallen begriffen, und nur durch
Wechselwirkung der Organe besteht der Organismus; jenes Steigen und
Fallen hält aber keineswegs stets immer die nöthigen Grenzen ein,
und gar häufig hält das eine oder andere länger an, als es für die
Integrität dienlich ist. Hier gilt es nun eben thätig einzugreifen
und das Träge anzuspornen, das übermäßig Thätige zu zügeln und
herabzustimmen, damit das Gesetz der Gewohnheit nicht in der
Disharmonie sich geltend und, wie leider so häufig, alle spätern
Versuche zur Abänderung und Regelung unmöglich mache; denn das ist
die zweite Hauptrücksicht, welche der Erzieher zu nehmen hat, daß
der Mensch in geistiger wie körperlicher Hinsicht eine überwiegende
Nei- |
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ERZIEHUNG |
⇧ Inhalt |
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gung hat, sich an das Gute wie an das Schlechte
zu gewöhnen, und daß es eben darauf ankomme, ihm nur die Gewöhnung
an das Gute zu verstatten. ♦ |
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Jenes Steigen und Fallen der organischen
Thätigkeiten macht sich auch in der Entwickelung der Organe selbst
geltend, von denen jedes einen gewissen Zeitpunkt hat, in welchem
die Entwickelung beginnt und bis zu einem gewissen Grade vollendet
ist, wodurch die Entwickelungsperioden gegeben werden, welche für
die Erziehung von ungemeiner Wichtigkeit sind, da hier Eingriffe am
leichtesten nützen, aber auch am leichtesten schaden können, und der
Grund zu den meisten organischen Krankheiten des Körpers, wie
besonders zu fernen Verkrüppelungen, wird in jenen
Entwickelungsperioden gelegt, eben weil die Erzieher unbekannt sind
mit dem, was zu jenen Zeiten in dem Körper vor sich geht.
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Obwol jene Entwickelungsperioden bestimmt sind,
so geschieht die Entwickelung doch keineswegs stetig, vielmehr
treten längere oder kürzere Pausen ein, indem eine Menge äußerer
Einflüsse, deren Beseitigung oder Regulirung außer der Macht des
Menschen liegt, die entwickelnde Thätigkeit bald hemmen, bald
steigern, obschon bei mehren auch hier eine Regelmäßigkeit vorhanden
ist, wodurch gewissermaßen kleinere Entwickelungsperioden bedingt
werden; so z. B. steigert der Winter die Thätigkeit der Lungen und
beschleunigt ihre Entwickelung; im Frühling und Vorsommer findet
dasselbe mit der Haut, im Sommer und Nachsommer mit dem Darmkanal,
und besonders mit der Leber statt; nimmt nun die körperliche
Erziehung hierauf keine Rücksicht, so ist es natürlich, daß, zumal
wenn jene kleinern Entwickelungsperioden mit den größern
zusammenfallen, nothwendig leicht sehr bedeutender Nachtheil
entstehen muß. ♦ |
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Da die Entwickelungsperioden nun meistens mit der
Schulzeit zusammenfallen, so sind selbst Ärzte in den Irrthum
gerathen, daß die Schule an der Verwahrlosung des Körpers
vorzugsweise und allein Schuld sei, was eben kein glänzendes Zeugniß
für ihre physiologischen Kenntnisse ablegt; wenigstens hätten ganz
andere Momente zur Sprache gebracht werden müssen, wenn der von
Lorinser angeregte Streit ein für die Erziehung fruchtbarer hätte
werden sollen. ♦ |
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An den Einfluß der Jahreszeiten auf die
Entwickelung des Körpers schließt sich der so wenig beachtete des
Genius epidemicus und der Constitutio epidemica, worüber wir in dem
Artikel Epidemie (1. Sect. 35. Bd.) bereits einige Andeutungen
gegeben haben, indem wir besonders auch den Einfluß jener Momente
auf die im Mutterleibe vor sich gehende Entwickelung nachzuweisen
suchten. Deshalb war die Lehre des Mittelalters von dem Einflusse
der Constellationen auf die Zeugung und Geburt des Menschen,
besonders in Hinsicht auf sein Temperament, als den Ausdruck des
Verhältnisses, in welchem der Körper zu dem Geiste und dieser zu
jenem in dem Individuum steht, keineswegs so ganz grundlos und
albern, als man uns in unserm „philosophischen Jahrhundert" so gern
glauben machen möchte. ♦ |
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Nicht weniger ist die Abstammung des
Zuerziehenden von dem Erzieher ins Auge zu fassen, denn ein von
gesunden Ältern Gezeugter und Geborener ist in |
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ERZIEHUNG |
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vielfacher Beziehung anders zu erziehen, als ein
von kranken Ältern Gezeugter und Geborener, mag er scheinbar auch
ganz gesund sein; ist er nun gar selbst krank, mit sogenannten
kachektischen Dispositionen geboren, so wird die Differenz in der
Erziehungsweise noch weit größer sein; indessen ist man bei diesen
Verhältnissen glücklicherweise schon längst zu der Überzeugung
gelangt, daß solche Menschen als krank nach den speciellen Angaben
des Arztes erzogen werden müssen, daher von diesen Fällen hier nicht
weiter die Rede zu sein braucht. |
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Gehen wir jetzt nach diesen allgemeinen,
allerdings mehr aphoristischen Andeutungen zur speciellen
körperlichen Erziehung des Menschen über, so wird es nach dem oben
Mitgetheilten am zweckmäßigsten sein, wenn wir uns dabei
vorzugsweise an die großem Entwickelungsperioden halten, indem wir
so am leichtesten den Weg aufzufinden vermögen, welchen die Natur
einschlägt, um den Menschen in körperlicher Hinsicht der Vollendung
zuzuführen. Keineswegs absurd würde es sein, wenn wir mit der
Erziehung des Kindes im Mutterleibe begönnen, denn die körperlichen
Krankheiten des Fötus, wie die Lehre vom Versehen der Schwangern,
zeigen uns deutlich, daß eine Menge Einflüsse auf das werdende Kind
einwirken, welche seiner Ausbildung mehr oder weniger hindernd
entgegentreten; indessen kann hier nur durch den Körper der Mutter
eingewirkt werden, und wie diese sich deshalb zu verhalten hat, wird
in dem Art. Schwangerschaft, und zwar in dem diätetischen Theile
desselben, erörtert werden. ♦ |
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Beginnen wir daher mit dem Momente, wo das Kind
den Schoos der Mutter verlassen hat, so sind es besonders die Lungen
und die Haut, welche einer neuen Entwickelungsperiode entgegengehen,
indem sie zum ersten Male als die kräftigsten Vermittler zwischen
der Außenwelt und dem Menschen durch das Aufnehmen von Luft
auftreten. Wer sieht es nun nicht ein, von welcher großen
Wichtigkeit es sein muß, welche Beschaffenheit die Luft hat, welche
zum ersten Male durch die Poren der Haut, wie durch die Wände der
Lungen in den Körper dringt? Vermögen schon wenige Athemzüge in
einer irrespirabeln oder verdorbenen Luft den erwachsenen Menschen
zu tödten oder in ein tödtliches, säfteentmischendes Fieber zu
werfen, wie soll der der Luft ganz ungewohnte Neugeborne nicht
afficirt werden, wenn eine unreine, mit allerhand Dünsten
geschwängerte Luft plötzlich auf ihn eindringt und sich einen Weg in
das Innere seines Körpers bahnt? Und doch wie wenig sieht man
hierauf Bedacht nehmen? Ja selbst Ärzte scheinen nicht zu ahnen, wie
häufig der Keim zum Siechthume auf diese Weise in den Körper des
Menschen gelegt wird und mühen sich lieber ab, das ohnehin schon
umfangreiche Capitel der Erbkrankheiten durch spitzfindige Theorien
zu vergrößern. ♦ |
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Aber nicht die Mischung der Luft allein ist es,
welche der Berücksichtigung bedarf, auch die Temperatur verdient der
Beachtung. Mit der Kälte nimmt auch der Dichtigkeitsgrad der Luft
zu, und beide können nur nachtheilig auf den fast an Blutwärme
gewöhnten Organismus des Kindes einwirken; dasselbe ist der Fall,
wenn umgekehrt die Luft |
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ERZIEHUNG |
⇧ Inhalt |
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zu warm und mithin auch zu dünn ist, da sie
hierdurch die erfoderliche reizende Einwirkung auf die Lungen
verliert. Daher sind die Kinder, welche im Winter geboren werden,
beiweitem mehr gefährdet als die im Frühling und Sommer gebornen,
zumal in den nördlichen Ländern, wo die Kälte zum Einheizen zwingt
und Kohlenstaub und Dunst, der sich so leicht, wie wir bei den
Arbeitern in den Kohlengruben sehen, in den Lungen ablagert , die
Atmosphäre durchzieht, denn die Entkohlung des ohnehin
kohlenstoffreichern Blutes des Kindes wird dadurch bedeutend
gehindert und somit der Kohlenstoff im Körper direct und indirect
vermehrt. ♦ |
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Mit dem Eindringen der Luft in die Lungen beginnt
die Bewegung derselben, sie ist aber längere Zelt hindurch nur
schwach, da die Ausdehnung und Zusammenziehung weniger durch die
Lungen selbst als durch äußere Momente bedingt wird, indem die
Ausdehnung vorzugsweise durch die eindringende Luft und die
Brustmuskeln, die Zusammenziehung durch die Bauchmuskeln und das
Zwerchfell vermittelt wird. Die Wirkung dieser Muskeln ist Anfangs
gleichfalls nur schwach, da sie durch die Übung erst erstarken
müssen, und namentlich haben die Bauchmuskeln das Übergewicht über
die Brustmuskeln, daher das Ausathmen der Kinder immer stärker als
das Einathmen vor sich geht. Was ist nun natürlicher, als daß wir
Alles vermeiden müssen, was die freie Entwickelung der Thätigkeit
der Brustmuskeln hindern könnte? ♦ |
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Aber grade das Gegentheil sehen wir täglich und
zwar mit ängstlicher Sorgfalt bewirkt werden; bis unter die Arme
wird das hilflose Geschöpf eingewickelt und oft so fest, daß eine
Bewegung des Thorax fast ganz unmöglich gemacht wird, und damit man
ihm auch die letzte Hilfe raube, werden auch die Arme an den Leib
festgebunden. Wie soll das Kind nun im Stande sein, die nöthige
Ausdehnung seiner Lungen zu bewerkstelligen? Ist es ein Wunder, wenn
diese nur unvollkommen geschieht, einzelne Theile wol ganz unthätig
bleiben und so mit dem Brustfell verwachsen oder Ablagerungsstellen
für mannichfache Krankheitsproducte werden, was freilich häufig erst
in den Jahren der Pubertät und unter günstigen Umständen noch später
bemerkt wird. ♦ |
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Der Thorax muß nothwendig gleichfalls
misgestaltet werden, denn durch das feste Zusammenschnüren biegen
sich die leicht nachgebenden knorpeligen Enden der Rippen ein und
letztere verlieren ihre Wölbung, sodaß in den leichtern Graden
mindestens eine flache Brust die Folge ist, welche in der That jetzt
bei der Mehrzahl der ohnehin beiweitem schwächlicher als sonst
geborenen Menschen bemerkt wird. Eine vernünftige Erziehung muß also
darauf sehen, daß der Thorax ohne alle Einzwängung nur leicht
bedeckt sei und die Arme ganz freien Spielraum haben, ja durch
öfteres vorsichtiges In-die-Höhe-heben sogar direct eine Erweiterung
des Thorax bewirken. Dagegen ist der mit nachgiebigen Wänden
versehene Unterleib allerdings mäßig fest, ohne Druck,
hervorzurufen, einzuwickeln, damit den Bauchmuskeln die zum Athmen
etc. nothwendige Contraction erleichtert werde. ♦ |
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Nicht weniger Rücksicht als die Lungen bedarf die
Haut mit ihrer Thätigkeit. Vor |
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ERZIEHUNG |
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der Geburt besorgt sie mit ihrem drüsigen
Apparate nicht allein zum großen Theil die Ernährung, sondern auch
einen Theil des Athmungsgeschäfts, der Entkohlung des Blutes, und
letzteres zwar weniger in gasförmiger Gestalt als vielmehr durch die
Fettbildung, indem das Fett theils unter ihr abgelagert, theils
durch die Hautdrüsen als Vernix cnseosa mit den Resten des nicht
assimilirten Schafwassers abgeschieden wird. Als Ernährungsorgan war
die Haut bisher besonders durch Aufsaugung thätig. Beide Functionen
werden nun plötzlich unterbrochen, das Athmen durch die beginnende
Lungenthätigkeit, das Ernähren durch die gleichfalls beginnende
Thätigkeit des Darmkanals; dennoch aber würde noch eine geraume Zeit
die Hautthätigkeit das Übergewicht haben, wenn sie nicht künstlich
durch die verkehrte Behandlung des Hautorgans gewaltsam unterdrückt
würde. ♦ |
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Der erste Hmzutritt der Luft zur Haut bei der
Geburt hat weniger auf sich, da die Haut durch den käsigen Überzug,
womit das Kind geboren, hinreichend davor geschützt ist, allein
nachdem er, nicht eben immer mit besonderer Sorgfalt und Schonung
entfernt, bedeckt man die Haut mit trockenen, nicht selten sogar
hartem und rauhem Zeuche; wie soll sie da nun ihre nothwendige
Thätigkeit fortsetzen? Freilich sagt man, das Kind dürfe sich nicht
erkälten, man müsse es also vor dem Zutritte der Luft schützen und
warm halten, außerdem aber dahin trachten, die Haut sobald als
möglich trocken und unempfindlich machen gegen die äußeren
Einflüsse; aber was in aller Welt kann verkehrter sein und den
gänzlichen Mangel an Kenntniß der physiologischen Dignitat des
Hautorgans mehr beurkunden, als dieses selbst von Ärzten gebilligte
Verfahren? ♦ |
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Denkt man zuvörderst nur daran, daß das Kind ¾
Jahr im Mutterleibe von warmer wässeriger Flüssigkeit umgeben war,
und darin schwamm, so gehört doch wahrlich nicht viel dazu, um
einzusehen, daß das plötzliche Versetzen in eine beständig trockene
Umgebung nothwendig mit dem größten Nachtheile verbunden sein muß.
Daß ein aus dem Wasser genommener und auf das Trockene gebrachter
Fisch bald absterben muß, wenn er nicht bald wieder in das Wasser
kommt, weiß ein Jeder, und Niemand, der ihn erhalten will, wird dies
thun; mit dem zarten Kinde macht man aber dies Experiment ungescheut
und ohne sich etwas Arges dabei zu denken, täglich. ♦ |
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Allerdings muß die weiche, schleimhautähnliche
Haut des Kindes erhärten, um als schützende Decke dienen zu können,
allein sie hat weit wichtigere Functionen als dieses und darf nur
nach und nach mit großer Vorsicht zu einem gewissen Grade der Härte
und Trockenheit geführt werden. Bei dem Kinde ist die Haut noch sehr
thätiges Ernährungsorqan, es muß ihr also immer noch in Pausen
Nahrungsstoff geboten werden, und je jünger das Kind, desto kürzer,
je älter es wird, desto länger müssen die Pausen werden. Daher muß
jeder Neugeborene in den ersten vier Wochen wenigstens täglich zwei
Mal wieder in eine flüssige, gehörig erwärmte Umgebung (in ein Bad)
versetzt werden und zwar in den ersten acht Tagen mindestens eine
halbe Stunde lang, späterhin mag ¼ Stunde ausreichen. Da das
Bad |
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ERZIEHUNG |
⇧ Inhalt |
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nicht blos zur Reinlichkeit, sondern auch zur
Ernährung dienen soll, so ist es einleuchtend, daß es in dieser Zeit
nicht aus bloßem Wasser bereitet werden darf, vielmehr Zusätze
enthalten muß, welche leicht durch die Haut aufnehmbar und
assimilirbar sind; am besten eignet sich hierzu Milch und vom Fette
gereinigte Fleischbrühe, welche man aus Knochen, Thierfüßen etc.,
ohne großen Kostenaufwand bereiten und etwa in der Quantität eines
Maßes auf jedes einzelne Bad zuschütten läßt. ♦ |
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Je schwächlicher das Kind ist, desto länger muß
es diese täglichen Bäder gebrauchen, bei deren Schluß man die Kinder
in die Höhe nimmt, mit Weizenkleie abreibt und dann wieder abspült,
worauf sie mit gehörig erwärmten Tüchern abgetrocknet, und in
ebensolche eingehüllt werden, um sie eine Zeit lang (5—10 Minuten)
darin liegen und sich frei bewegen zu lassen. Nach Verlauf von vier
Wochen läßt man täglich nur ein Mal baden und zwar in einfachem
Kleienwasser, da die Ernährungsthätigkeit der Haut jetzt schon
herabgestimmter ist, indem der Darmkanal, wie die Lungen in Bezug
auf das Athmen, das Übergewicht erhalten hat. Die täglichen Bäder
sollte man aber so lange fortsetzen, bis das Kind die ersten Zähne
bekommen hat, da sie ja auch am besten die so nothwendige
Reinlichkeit herbeiführen und durch sie der Nachtheil, welcher durch
Naßmachen einzelner Hautstellen entsteht, wie dies beim Waschen der
Fall ist, gemieden wird. ♦ |
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Jene Reinlichkeit der Haut ist darum so
nothwendig, weil mit dem Zurücktreten der Aufsaugungsthätigkeit die
Absonderung der Haut durch die Hautdrüsen überwiegend wird, was da,
wo das Kind gar nicht oder höchst selten gebadet wird, die Haut also
sich mit trockner Epidermis überzieht, nur an einzelnen Stellen, in
den Einbiegungen und Falten möglich wird, hier dann aber oft um so
stärker hervortritt und zu dem sogenannten Wundwerden (Intertrigo)
Veranlassung gibt. ♦ |
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So vortheilhaft die feuchte Wärme, so nachtheilig
ist die feuchte Kälte für das Kind, zumal wenn sie durch
excrementielle Stoffe hervorgebracht wird, die aber noch auf andere
Weise beiweitem schädlicher werden, indem sie wegen der noch regen
Aufsaugungsthätigkeit der Haut, so leicht durch diese wieder in den
Körper geführt werden, und so die Säfte verunreinigen; daher müssen
die verunreinigten Windeln stets schnell entfernt und mit trockenen
vertauscht werden. Hätte man sich nicht stets mit nur
oberflächlicher Beobachtung begnügt, so hätte schon dieses Phänomen
auf die fortgesetzte Thätigkeit der Haut als Ernährungsorgan
hinführen müssen; so aber hat man immer nur die allerdings nicht
wegzuleugnende Erkältung im Auge gehabt. ♦ |
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Wegen dieser Ernährungsfunction der Haut ist es
auch nöthig, das Kind in der ersten Zeit öfters der Dunstatmosphäre
der Mutter auszusetzen, welche, besonders so lange die
Milchsecretion noch nicht vollständig ausgebildet und das
Stillgeschäft geregelt ist, zum großen Theile noch brauchbare Stoffe
enthält, die von dem kindlichen Körper aufgenommen und assimilirt
werden; auch dies wird leider durch das feste Einhüllen der Kinder
in Kleider und Betten bedeutend erschwert, wenn nicht ganz unmöglich
gemacht. Ist die Zeit der |
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ERZIEHUNG |
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sogenannten Wochenschweiße aber vorüber, dann
hüte sich die Mutter, das Kind in ihrem Bette schlafen zu lassen, da
ihre Ausdünstung alsdann mehr schädliche Stoffe enthält, die durch
die Haut des Kindes, wie durch die Lungen aufgenommen die Säfte
desselben verderben und so Veranlassung zu einem nicht zu
beseitigenden Siechthume geben; die Kinder verniesen, wie das Volk
sagt, während der Körper der Mutter die noch viel taugliche Stoffe
enthaltende Ausdünstung des Kindes begierig einsaugt und in eben dem
Maße blühend wird, als das Kind verblüht; ein Moment, welches viel
zu wenig von den Ärzten beachtet wird, wenngleich man schon im
Alterthume und noch jetzt im Orient eine Verjüngungsmethode daraus
begründet hat 1). — ♦ |
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Fast täglich vernehmen wir Klagen über die
Unzulänglichkeit der menschlichen Sinne, sowie über die große Menge
von Täuschungen, denen wir bei ihrem Gebrauche ausgesetzt sind; aber
man gefällt sich lieber in Deklamationen über die Gebrechlichkeit
der menschlichen Natur überhaupt, als daß man ernsthaft über die
Ursachen jener Unzulänglichkeit nachdenkt und auf Mittel und Wege zu
ihrer Beseitigung zu einer Zeit sinnt, wo diese allein möglich sein
kann. Sollte es denn in der That so schwer einzusehen sein, daß wir
erst fühlen, riechen, schmecken, hören, sehen lernen müssen, und daß
dieses Lernen auf eine verkehrte Weise geschehen, somit zur
ergiebigen Quelle von Mangelhaftigkeit in der Ausbildung der
Sinnesorgane werden kann? ♦ |
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Wer weiß es nicht, daß zu frühes angestrengtes
Denken gar bald zum Stumpfsinn, zu frühes angestrengtes Üben des
Gedächtnisses zur Gedankenlosigkeit führt, ebenso wie zu späte
Ubungen dieser Art oft eine niemals zu beseitigende Unvollkommenheit
zurücklassen. Behalten nicht Kinder, mit denen sich Niemand
beschäftigt, um sie deutlich sprechen zu lehren, oft für ihr ganzes
Leben eine undeutliche Aussprache, oder gewöhnen sie sich nicht
Betonungen, Lautverbindungen, Redeweisen etc. an, welche sie im
reifern Alter ungeachtet des bessern Wissens und oft trotz aller
angestrengten Aufmerksamkeit nicht zu entfernen vermögen?
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Sicher verhält es sich nun mit der Entwickelung
und |
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- 1) H. J. Cohausen, Hermippus redivivus sive
exercitatio physico-medica curiosa de methodo rara ad CXV annos
propagandae sanitatis per anhelitum puellarum ex veteri monumento
Romano deprompta. (Francof. ad Moen. 1742. 99 S. Teutsch ibid. 1753.
230 S. Englisch von John Hill. London 1749. Französisch von de la
Place. Bruxelles et Paris 1789. 2 Voll.)
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Endlich bedarf die Haut noch einer besondern
Rücksicht, weil sie Gefühlsorgan ist, und nächst dem Geruche vor
allen Sinnesorganen am frühzeitigsten eine selbständige, freie
Thätigkeit zu entwickeln beginnt. Obgleich Physiologen und
Philosophen uns längst demonstrirt haben, daß daß Gefühl die
Grundlage aller sinnlichen Wahrnehmung ausmacht, alle übrigen Sinne
nur Modificationen des Gefühlssinnes sind, so ist man doch noch gar
wenig bedacht gewesen, hierauf bei der Erziehung Rücksicht zu nehmen
und eine normale Ausbildung dieses Sinnesorgans, sowie auch der
übrigen zu erzielen. ♦ |
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S. 468 Sp. 1 |
ERZIEHUNG |
⇧ Inhalt |
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Ausbildung der Thätigkeit der Sinnesorgane nicht
anders; bleiben wir zunächst bei der Betrachtung des Gefühlsorganes
stehen, so ist leicht ersichtlich, daß die Gefühlswärzchen der
feinen, ihrer schützenden Schleimdecke beraubten Haut des
Neugebornen der durch Schallstrahlen so leicht in Schwingungen
verletzbaren Luft ausgesetzt, durch Geräusch aller Art, ebenso wie
durch Druck etc. auf das Empfindlichste berührt werden müssen. Wer
hat es nicht schon beobachtet, daß lautes Sprechen und Schreien, das
Zuwerfen einer Thür, das Hinabfallen eines schweren Gegenstandes,
den Säugling erschütterte, zusammenfahren ließ, ja selbst wol in
Zuckungen und Krämpfe versetzte, und so Veranlassung gegeben ward,
wenn nicht zu plötzlichem Tode, so doch zu einer Menge ihrer Ursache
nach freilich wenig verstandener Leiden, namentlich zu der
sogenannten nervösen Reizbarkeit und Nervenverstimmung mit ihren
Folgen, die sich dann beim erwachsenen Menschen zu Hysterie und
Hypochondrie etc. ausbildete. ♦ |
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Besonders leicht nachtheilig werden diese
Schallschwingungen der Luft bei der verkehrten Bekleidungsweise der
Kinder, wodurch zwar die größere Hautfläche vor der Berührung
geschützt, das Gesicht aber und so der Kopf mit seinem so leicht
erregbaren Gehirne die ganze Macht des Schalles allein zu empfinden
bekommt, zumal da der ganze Kopf des Neugebornen Gehörorgan ist. Ist
der Schall nun gar mit Erschütterung des Bodens verbunden, auf
welchem das Kind ruht, so werden dadurch noch außerdem Gehirn und
Rückenmark empfindlich getroffen. Die möglichste Stille in der
Umgebung, das Fernhalten von allem Geräusche ist daher eine der
wesentlichsten Bedingungen zum Wohlsein des Kindes überhaupt und
seines Nervensystems insbesondere, weshalb auch seine Lagerstätte
möglichst vom Boden und gegen seine Erschütterungen isolirt werden
muß. Nicht aus festvereinigten Bretern bestehe das Lagergestelle,
sondern aus Flechtwerk von Weiden etc. in Gestalt eines Korbes, der
auf einem hölzernen Gestelle befestigt wird, welches ihn mindestens
1½ Fuß vom Boden entfernt hält und auf dicken Filz oder Pappstücken
steht, welche als schlechte Leiter der Schwingungsbewegungen bekannt
sind. — ♦ |
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Nicht weniger nachtheilig, wenn auch minder
schnell und auffallend, wirkt der Druck von festen Körpern auf die
Haut des Kindes; freilich in entgegengesetzter Beziehung, denn er
hindert die freie Entwickelung und Ausbildung der Gefühlswärzchen
und führt endlich zum Torpor derselben, welcher dann später in
vielfacher Hinsicht nachtheilig auf den Organismus zurückwirkt; vor
Allem verliert das Kind dadurch seinen ersten und wichtigsten
Wächter für alle Schädlichkeiten, die von Außen ihm Gefahr drohen;
es liegt ebenso, ruhig in der Nässe und im Kothe, wie es ruhig sich
von Insekten, Flöhen, Läusen, die Säfte entziehen läßt. Grobe
Wäsche, Hemden und Windeln, sowie das Einknebeln durch Wickel- und
andere Bänder sind daher sorgfältig zu meiden. ♦ |
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Noch wissen wir leider zu wenig über die
Entwickelung der Gefühlsthätigkeit, als daß wir im Stande wären,
speciellere Erziehungsregeln dafür aufzustellen. Nicht viel besser
steht es mit |
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S. 468 Sp. 2 |
ERZIEHUNG |
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den übrigen Sinnen. Am frühesten entwickelt sich
offenbar der Geruch zu einer freien, selbständigen Thätigkeit, da er
den Wächter abgeben muß für Alles, was es behufs der durch den Mund
einzuführenden Nahrung bedarf und zu vermeiden hat, daher erkennt
das Kind durch ihn sehr bald die ihm Nahrung reichende Mutter oder
Amme, wie das Thier durch den Geruch seinen Herrn erkennt. Wäre man
nicht so achtlos darauf und ließe auf das Kind schon frühzeitig, ehe
es hinreichendes Erinnerungsvermögen besitzt, eine zahllose Menge
von Gerüchen einstürmen, es würde bald dahin gelangen, daß es, wie
das Thier die schädlichen Nahrungsmittel von den unschädlichen
unterschiede, und seiner Umgebung andeutete, was seinem Körper als
Nahrung zuträglich oder nicht. Die Unvorsichtigkeit, mit welcher man
die Kinder den Gerüchen aussetzt, wird aber nicht selten directe
Ursache von Krankheiten, welche vom Gehirne ausgehen, weshalb auch
die Ärzte sich sehr hüten müssen, in der Kinderpraxis starkriechende
Mittel besonders auch in Form der Einreibungen anzuwenden.
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Daß der Geschmack, welcher viel später zur
Thätigkeit erwacht als der Geruch, gleichfalls der Erziehung bedarf,
ist kaum zu bezweifeln, wenn schon das Wie? erst durch künftige
Forschungen festgestellt werden muß. So lange das Kind gesäugt wird,
ist keine Aufmerksamkeit nöthig, wol aber eine sehr sorgfältige
dann, wenn die Entwöhnung stattfindet. ♦ |
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Was das Gehör anbetrifft, so kommt es bei den
wenigsten Menschen zur vollständigen Ausbildung, weil man fast gar
nichts für dasselbe thut. Schon die verkehrte Behandlung des äußern
Ohres wirkt mehrfach störend und hemmend ein. Unsern sonderbaren
Begriffen von Schönheit gemäß haben wir nichts Eiligeres zu thun,
als durch festanliegende Mützen das Ohr soviel als möglich an den
Kopf fest zu drücken und zu halten, damit es ja nicht etwa abstehe;
so büßt es einen Theil seiner Muschelform ein, wird platt und
verliert seine Beweglichkeit, welche die Natur ihm, um sich der
Richtung der Schallstrahlen zuwenden und die allzu zerstreuten
besser auffangen zu können, zugedacht, dermaßen, daß mehre zu diesem
Zwecke vorhandene Muskeln niemals in Action gesetzt werden können
und so in einem unvollkommenen Zustande verharren oder selbst
atrophisch werden. Daß hierdurch auch der äußere Gehörgang an seiner
Länge wie an seinem Durchmesser verlieren muß, ist leicht
ersichtlich, und vortheilhaft kann dies für das Hören unmöglich
sein. ♦ |
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Das beständige Bedecktsein des äußern Gehörganges
durch die noch dazu oft wattirten etc. Mützen, erhält fortwährend
einen erhöhten Wärmegrad in demselben, der die das Ohrenschmalz
absondernden Drüsen zu erhöhter Thätigkeit reizt und so zu den bei
Kindern gar nicht selten beobachteten Blennorrhöen des Gehörganges
(laufende Ohren) Veranlassung gibt, welche dann durch das Einstopfen
von Baumwolle etc. erst noch recht begünstigt und unterhalten
werden; gleichzeitig wird aber auch die Resorption gesteigert, ein
Theil des flüssigen, krankhaften Ohrenschmalzes wieder in den Körper
geführt und so dieser gezwungen, das Krankheitsproduct an andere
Stellen abzusetzen. Daß unter |
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allen diesen Verhältnissen die Schallstrahlen
nicht gehörig zum Trommelfell gelangen können, ist unschwer
einzusehen; das Kind vernimmt nur undeutliche Töne und vermag weder
ihre Entfernung, noch ihre Höhe und Tiefe in den feineren Nuancen zu
unterscheiden, es wird kurzhörig und gelangt nie zu einem
musikalischen Gehöre. Beseitige man daher die so eben gerügten
Mängel, sowie die oben erwähnten starken Schallstrahlen, so wird die
Selbstausbildung des Gehöres wenigstens nicht gehindert; allein dies
reicht noch nicht aus, man muß auch thätig dieselbe unterstützen.
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Zunächst übe man das Kind im Fernhören, was am
besten mittels einer Taschenuhr geschieht, welche man täglich mehre
Male dem Kinde so vorhält, daß man sieht, es nimmt den Schlag
derselben wahr; späterhin gehe man zu den Übungen in der
Unterscheidung der Höhe und Tiefe der Töne über. Der Gebrauch, den
Kindern, um sie zu beruhigen und zum Schlafen zu bringen, etwas
vorzusingen, würde hierzu ein ganz passendes Mittel abgeben, wenn
nicht die Wärterinnen etc. selbst meistens ohne alles musikalisches
Gehör und gar oft mit einer Stimme begabt wären, die zu Allem eher
als zum Singen tauglich ist, sodaß hierdurch nur zu häufig der
Tonsinn des Kindes von Vorn herein verdorben wird, obschon die
wirklichen Volkswiegenlieder durch die Einfachheit ihrer Tonsetzung
ganz zur Weckung und Ausbildung desselben geeignet sind. Dennoch hat
sie kaum Jemand von dieser Seite her einer Aufmerksamkeit gewürdigt.
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Am besten eignet sich zur Weckung des Tonsinnes
die aus Glasplatten gefertigte Harmonika, auch das Fortepiano und
die Harfe, auf welcher man aber nur im Anfange die einzelnen
Grundtöne angeben darf, grade wie es bei der Erlernung dieser
Instrumente nöthig ist, denn das Kind wird dadurch vollständig
zufrieden gestellt, da es sehr bald im Stande ist, die einfache
Tonreihe zufassen, wie man sich leicht beim Versuche überzeugen
kann. — ♦ |
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Das Auge bedarf nicht weniger der thätigen
Aufmerksamkeit des Erziehers. In den ersten Tagen des Lebens sieht
das Kind noch nicht, sondern genießt blos die wohlthuende Reizung
des Lichtes, daher sucht es dasselbe erst durch die Wendung des
Kopfes, dann durch die Richtung der Augäpfel. Wie widernatürlich ist
es daher, den Neugebornen mit nächtlichem Dunkel zu umgeben und ihm
den so sehr ersehnten Lebensreiz zu entziehen. Der scharfe Strahl
des Sonnenlichtes darf allerdings nicht sein Auge treffen, wenn er
bereits einige Tage alt ist, aber der wohlthätigen Helle sollte man
ihn nicht berauben. ♦ |
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Da er das Licht sucht, so muß sein Lager sich
stets so befinden, daß sein Blick nur sich nach Vorwärts zu richten
hat, um es zu finden; nirgends dürfen glänzende Gegenstände so in
seiner Nähe sein, daß er seitwärts, über sich, oder gar hinter sich
blicken muß, um sie mit dem Auge zu erreichen, denn dadurch wird er
gezwungen, dem Augapfel schiefe Stellungen zu geben und leicht ist
lebenslängliches Schielen die Folge davon. Ist es nicht mehr das
Licht und die Helle allein, welche des Kindes Auge sucht, sondern
beginnt es überhaupt auf einzelne Gegenstände zu achten, dann dürfen
diese gleichfalls niemals die angegebene Rich- |
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tung zu ihm haben, denn dies würde dieselben
Folgen bringen. Daher sind unter andern auch die Striche an den
Mützen der Kinder, welche ihm über die Augen hängen, so nachtheilig,
denn es wird unwillkürlich veranlaßt, beständig dorthin zu sehen,
zumal wenn es sich selbst überlassen daliegt; aus gleichem Grunde
darf das wachende Kind keine dachförmigen Bedeckungen über seinem
Lager haben. ♦ |
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Sobald man sieht, daß das Kind auf die einzelnen
Gegenstände achtet, beginne man die Übungen in der Fernsicht, das
heißt, man bilde das Accommodationsvermögen der Augen des Kindes
aus, was man mit den Übungen im Fernhören verbinden kann, indem man
die glänzende Taschenuhr mit ihren beweglichen Zeigern dazu benutzt,
welche letztere jedoch vor dem 4—5. Lebensmonate kaum von ihm
beachtet werden, daher man die ganze Uhr bewegen muß, denn schon
nach dem dritten Monate haßt das Kind die passive Ruhe, wenn es
wacht, es will sich bewegen, vermag dies aber noch nicht
willkürlich, und da es die Außendinge mit sich identificirt, so will
es diese sich bewegen sehen, um sie erfreut mit den Augen verfolgen
zu können; zumal dies auch der einzige Weg ist, wie es sich von
ihnen, als von seiner Umgebung getrennten, besonderen Theilen,
überzeugen kann, wenn bei ihm die Erkenntniß zu tagen beginnt.
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Ebendeshalb muß man das Kind auch zu den
Gegenständen, auf welche es seine Aufmerksamkeit richtet, hinführen,
damit es das ihm unbekannte Raumverhältniß durch das ihm schon
bekanntere Zeitverhältniß kennen lerne. Wegen der starken Wölbung
der Hornhaut und der Kugelform der Krystalllinse ist das Kind
Anfangs kurzsichtig und bemerkt bis zum vierten Monat nur, was ihm
zunächst ist; indessen darf man sich dadurch nicht verleiten lassen,
ihm die Gegenstände zu nahe zu bringen, weil man es sonst unter
Beihilfe des Gesetzes der Gewohnheit leicht für immer kurzsichtig
macht. — ♦ |
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Nicht von geringerer Bedeutung ist die Ausbildung
des Farbensinnes, denn ein großer Theil der Menschen besitzt ihn nur
unvollkommen, und zwar fand Rud. Wagner unter 20 Personen stets eine
oder mehre, welche einzelne Farbennuancen nicht zu unterscheiden
vermochten; ja wir finden sogar Menschen, welche einzelne
Grundfarben, z. B. Roth, durchaus nicht erkennen können 2). Die
Physiologie ist uns die Deutung dieses Phänomens bis jetzt noch
schuldig geblieben, aber wir glauben sicher, daß die Erziehung einen
nicht geringen Theil an diesem Mangel an Ausbildung des Farbensinnes
hat, indem das Kind grade zu der Zeit, wo er erwacht, entweder mit
einer Menge verschiedener oder undeutlicher und ineinanderlaufender
Farben überschüttet wird. Die Sache ist jedoch an und für sich noch
zu dunkel und bedarf noch zu sehr sorgfältigerer Untersuchunaen, als
daß wir einen Erziehungsplan aufzustellen vermochten, jedenfalls
aber verdient die große Vorliebe der Kinder für bunte Bilder mehr
Berücksichtigung, als man ihr gewöhnlich schenkt, da die große Menge
schlecht colorirter und gezeichneter Bilder, welche ihnen gewöhnlich
in die Hände gegeben werden, nicht nur der Entwickelung des
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- 2) Viet. Szokalski, Über die Empfindung der
Farben in physiologischer und pathologischer Hinsicht, (Gießen
1842.)
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Schönheitssinnes, sondern auch der des
Farbensinnes hinderlich ist. Vielleicht sind auch die Medien,
wodurch der Sonnenstrahl auf das Auge des Kindes in jener Zeit
fällt, nicht ohne Einfluß, namentlich auch die Farbe der Hüte,
welche man ihnen aufsetzt, und besonders der Schleier, womit man sie
zu bedecken gewohnt ist. — ♦ |
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Mit der Ausbildung der Sinnesorgane beginnt auch
die der Sprachorgane, welche aber nur erst dann zu einiger
Selbständigkeit gelangen, wenn erstere bereits einen größern Vorrath
von Ideen und Bildern herbeigeschafft haben, zu deren Mittheilung
und Entäußerung des Kindes Innere mächtig antreibt. Die ersten
Thöne, die es von sich gibt, sind fast nur die unwillkürlichen
Folgen des kräftigen Aus- und Einathmens, deren Möglichkeit das Kind
dann kennen lernt, und die es im Lallen dann zu willkürlichen
erhebt, bis der Nachahmungstrieb sich etwa im achten Monat ihrer
bemeistert, um den Versuch zu machen, das abgesehene Wort
nachzubilden. ♦ |
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Ebendeshalb ist es zuerst auch weniger der Ton,
den das Kind von sich selbst zu hören wünscht, als vielmehr die
Bewegungen, welche es gleich dem ihm Vorsprechenden zu fühlen
versucht; denn viel weniger hört es dem Sprechenden zu, als es ihm
zusieht, wie er die Worte bildet. Daher ist es Aufgabe dessen,
welcher das Kind sprechen lehrt, daß er die dem Kinde geltenden
Worte nicht nur langsam, sondern mit dem möglichst deutlichen
Ausdrucke aller dazu nöthigen Bewegungen seiner Sprachorgane von
sich gebe. Besonders ist diese Aufmerksamkeit auf die Aussprache der
Endsylben zu richten, welche man in der gewöhnlichen Unterhaltung
zur Hälfte zu verschlucken pflegt; diese müssen vielmehr dem Kinde
gegenüber stets stark betont werden, weil sie sonst seiner Willkür
anheimfallen und zu zahllosen Corruptionen Veranlassung werden,
welche das deutliche Sprechen nicht nur längere Zeit erschweren,
sondern selbst wol für das ganze Leben unmöglich machen, zumal wenn,
wie gewöhnlich, die Umgebungen an den Verdrehungen Gefallen finden,
und nun absichtlich dieselben dem Kinde nachsprechen. ♦ |
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Auch die Ausbildung des Athmungsorganes ist
hiermit zu verbinden. Das Kind pflegt häufig aber nur oberflächlich
zu athmen, daher nur ein geringer Theil der in den Lungen
befindlichen Luft erneuert wird, was die Lungen selbst an ihrer
Ausbildung und Kräftigung hindert. Sehr anzurathen ist es demnach,
wenn man das Kind im Sprechen unterrichtet, zumal da sich dieser
Unterricht Anfangs doch immer nur auf einzelne Worte erstreckt, daß
man vor jedem auszusprechenden Worte möglichst tief einathmet und
mit der scharf betonten Endsylbe ein möglichst kräftiges Ausathmen
verbindet. Dergleichen Übungen sind nun auch in freier Luft
vorzunehmen, zumal mit solchen Kindern, welche von Geburt an
schwächlich und nur selten die dunstgeschwängerten Zimmer der Ältern
verlassen durften. Nähme man hierauf mehr Rücksicht, wir hätten
wahrlich mehr als ein Drittheil lungenkranker Kinder und Erwachsener
weniger. ♦ |
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So lange noch keine Willkür möglich ist, sorgt
die Natur selbst für das Bedürfniß, denn mit einem Schrei tritt das
Kind in das selbständige Leben, und so lange es der Sprache beraubt
ist, verkündet es alle |
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seine Bedürfnisse durch Schreien, welches öfters
sogar scheinbar ohne alle Bedürfnisse stattfindet, entweder weil das
Kind Langeweile hat, oder weil ihm eine kräftige Erneuerung der Luft
in den Lungen, sowie Übung derselben Noththut. — ♦ |
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Nach dem Begriffe, welchen wir von der Erziehung
festgestellt haben, ist über den Nahrungskanal nur wenig hier zu
sagen, da das meiste denselben betreffende der Ernährung oder Diät
anheimfällt, mag nun der Säugling von der Mutterbrust, oder auf
andere Weise seine Nahrung erhalten. Hunger und Durst fallen bei ihm
noch zusammen, oder werden wenigstens durch dieselben Medien
gestillt; daher kommt es bei der Erziehung nur darauf an, dafür zu
sorgen und das Kind daran zu gewöhnen, daß sie in den für ihn
passenden Zeitabschnitten sich einstellen und befriedigt werden.
Wird dies in den ersten zwei Jahren consequent durchgeführt, so ist
die Ordnung darin für das garne Leben leicht hergestellt, da das
Gesetz der Gewohnheit hier am mächtigsten eingreift. ♦ |
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Dasselbe gilt in Bezug auf Wachen und Schlaf. In
den ersten vier Wochen verlangt der Säugling, da er nur kleine
Portionen auf einmal zu sich nehmen kann, aller 2—3 Stunden die
Brust, und verfällt dann meistens in Schlaf, während dessen er die
eingenommene Nahrung verdaut; daher erwacht er auch, wenn er gesund
ist und sich nicht etwa verunreinigt hat, nicht eher, als bis die
Verdauung vollendet ist. Erfolgt das Erwachen in dieser Periode
früher, so darf er nicht angelegt werden, wenn er vor dem Schlafe
wirklich ordentlich getrunken hatte, sondern er muß so lange warten,
bis die Zeit abgelaufen ist. ♦ |
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Gegen Ende des zweiten Monats, wo er schon mehr
auf einmal trinkt, erwacht er schon früher, als die Verdauung
vollendet ist, und es vergehen 4—6 Stunden, letztere Zahl besonders
des Nachts, ehe er wirklich wieder Nahrung bedarf, und die Mutter
oder Amme muß nun darauf sehen, daß er streng sich an diesen
Zeitraum bindet und dem gesunden Kinde keine Nahrung eher reichen,
woran es sich alsdann bald gewöhnt, und selbst nach der Entwöhnung
nicht eher Speise verlangen wird, als bis seine Uhr geschlagen.
Nichts ist nachtheiliger für den kindlichen Organismus, als das
Nahrungeinnehmen zu unbestimmten Zeiten und zu unbestimmten Mengen,
und Hunger und Durst verlieren dadurch ihre Bedeutung für die
wirklichen Bedürfnisse. ♦ |
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Auch das Niederlegen zum Schlafe muß stets zu
derselben Stunde gleichwie das Baden und Waschen geschehen; ist dies
der Fall, so werden auch die Excretionen des Afters und der Blase zu
bestimmten Zeiten erfolgen und die Ordnung für das vegetative Leben
ist hergestellt und für immer festgesetzt. Aber bei wie wenigen
Menschen wird darauf gesehen! Kann man sich da wundern, daß es dem
Physiologen so schwer wird, die Gesetze in der Aufeinanderfolge der
Functionen und ihres gegenseitigen Verhaltens aufzufinden und
nachzuweisen, und er durch das Mislingen seiner Forschungen und
Beobachtungen zu dem Zweifel an dem Vorhandensein einer
Gesetzmäßigkeit auch im Zeitlichen geführt wird? Was nun im gesunden
Zustande nicht mehr vorhanden, wie soll es im kranken sich
manifestiren? Ist die Mehr- |
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zahl der Ärzte nicht scheinbar gerechtfertigt,
wenn sie in dem Verlaufe der Krankheiten fast nur regellose Willkür
sehen, von keinem auch im Zeitlichen ausgesprochenen Typus des
Krankheitsprocesses etwas wissen wollen und des großen Weisen von
Kos Lehre von den kritischen Tagen mit der Zahlenspielerei der
Pythagoreer verwechseln oder für ein auf griechischem Boden
gedichtetes Mährchen halten? Werden auf diese Weise die Gesetze der
körperlichen Verrichtungen verwirrt und der Willkür unterworfen, wie
soll da in den vielfach von ihnen abhängenden geistigen die
natürliche Gesetzmäßigkeit sich ausbilden und nach allen Richtungen
geltend machen können? Wo soll der Charakter, die Stetigkeit im
Handeln herkommen, wenn die Stetigkeit in den geistigen, wie
körperlichen Actionen mangelt? |
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Während nun in kurzer Zeit fast alle Organe sehr
bald nach der Geburt mit raschen Schritten ihrer Ausbildung zueilen
und dadurch einen nicht unbedeutenden Grad freier und selbständiger
Thätigkeit erreichen und das Kind sich als der höchsten Classe in
der Reihe animalischer Wesen angehörend documentirt, mangelt ihm
doch noch lange Zeit eins der Hauptunterscheidungszeichen der Thiere
von den Pflanzen, das Vermögen der willkürlichen Ortsveränderung,
und den Polypen gleich, bleibt es gefesselt an den Stamm der Mutter
und von ihm abhängig. Sucht das Kind auch schon vom dritten
Lebensmonate an seine Arme und Hände als Fang- und Lastorgane
willkürlich in Bewegung zu setzen, so erregen doch erst im fünften
Monate die Füße seine Aufmerksamkeit, welche es frei auf dem Lager
liegend, anscheinend mit ernstem Nachdenken betrachtet, als suchte
es zu ergründen, wozu diese Anhängsel wol zu gebrauchen, bis es ihr
unwillkürliches Zappeln wahrnimmt und durch einen glücklichen
Versuch in ein willkürliches verwandelt, worauf sie dann zu seinem
öfter in Anspruch genommenen Spielwerke dienen müssen, wobei es
nicht selten den Versuch macht, sie gleich den Händen zu Fang- und
Tastorganen auszubilden, was um so leichter ist, als die Beuger noch
immer die Oberhand über die Strecker haben. ♦ |
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Um diese Zeit muß man dafür sorgen, daß alles die
Füße in freier Bewegung Hindernde entfernt wird, zumal da diese
Bewegung jetzt dazu dient, die Ausdehnung des Beckens in die Breite
zu befördern, grade wie die Bewegung der Arme die Ausdehnung des
Thorax befördert, damit es dem Rumpfe beim Sitzen als hinreichender
Stützpunkt dienen könne. Ist dieser erlangt und sind die Muskeln des
Rumpfes hinreichend erstarkt, dann ist auch das indessen erlernte
Aufrechtsitzen dem Kinde nicht mehr genügend; es strengt sich an,
den Ort gewaltsam zu verlassen, was ihm Anfangs, den Fischen und
Schlangen ähnlich, nur durch Fortschnellen möglich ist, bis ihn
dieses zum Rutschen führt, mit welchem es aber bald die Versuche zum
Aufstehen verbindet. Alle directe Unterstützung hierbei ist nicht
nur überflüssig, sondern sogar schädlich, es bedarf weiter nichts,
als dem Kinde die Möglichkeit zu solchen Versuchen zu geben, indem
man es auf den flachen Boden niedersetzt, und nur wenn es fällt,
wieder aufhebt, aber auch dies nicht zu |
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voreilig, weil es sonst sich bald auf diese
Beihilfe verläßt und man ihm das Vergnügen raubt, durch eigene Kraft
und durch eigenes Nachdenken zum Ziele gelangt zu sein. Weder
stehen, noch gehen sollte man daß Kind lehren, da es selbst am
besten fühlt, wenn es stark genug dazu und die Lust an Bewegung viel
zu rege in ihm ist, als daß es sich derselben nicht sollte mit aller
Kraft hingeben. Gängelbänder, Laufkörbe etc. sind ganz zu verwerfen,
da sie leicht Veranlassungen zu Verbiegungen der Brust und des
Stammes werden, aber auch Schuhe sollte man dem Kinde nicht eher
geben, als bis es wirklich zu laufen vermag, da Verunstaltung der
Zehen fast stets die Folge davon ist, indem es noch lange Zeit
dauert, ehe der ganze Fuß als Stützpunkt dienen kann, diesen
vielmehr die Zehen abgeben müssen, auf welchen die Kinder ihre
ersten Wanderungen beginnen, weshalb sie frei müssen die Zehen
spreizen können, damit der Stützpunkt hinlänglich breit werde. Dies
vermitteln allerdings die Schuhe und wir geben zu, daß das Kind
damit früher laufen lerne, aber die Natur will absichtlich nicht den
Zeitpunkt vorschnell herbeiführen, wo das Kind sich den Armen der
Mutter entreißt und auf eigenen Füßen in die Welt tritt. ♦ |
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Ist dies aber einmal geschehen, so ist auch die
körperliche Erziehung in ihren Grundlagen und Hauptzügen vollendet,
aus dem unbeholfenen Säuglinge wurde ein rühriger Knabe oder ein
hüpfendes Mädchen, die nicht mehr die Mutter allein in wohnlicher
Stube zum Zeugen und Leiter ihrer Entwickelung haben dürfen. Die
Ältern müssen mit der Gesellschaft oder dem Staate von jetzt an die
Sorge für die fernere Ausbildung in geistiger, wie in körperlicher
Hinsicht theilen und an die Stelle der häuslichen Erziehung des
Körpers tritt die Gymnastik, wie sie der harmonische Sinn der
Griechen, wenigstens für den Knaben, schuf, um ihn zum schönen
Jünglinge und Manne zu bilden, welche aber auch auf das Mädchen
auszudehnen und dieses der Vollendung des Weibes zuzuführen, die
Aufgabe der christlichen Völker der Gegenwart ist. |
(J. Rosenbaum.) |
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