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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-3-01-210-10
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Artikel: OBSCURANT und OBSCURANTISMUS
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OBSCURORUM VIRORUM EPISTOLAE ⇨

     
Forts. S. 210 Sp. 1 OBSCURANT und OBSCURANTISMUS. {1} Obscurant und Obskurantismus sind der Wortbedeutung nach vom lateinischen obscurare (verdunkeln, verfinstern) abzuleiten und im Teutschen mit Finsterling und Verfinsterung zu übersetzen; der Sachbestimmung nach aber versteht man unter Verdunkler oder Obscuranten einen solchen Menschen, welcher alle wahre geistige Aufklärung von sich und Andern abzuhalten und überhaupt nicht aufkommen zu lassen geneigt ist, sowie unter Obscurantismus nicht blos diese natürliche Neigung zur Dunkelheit und dieses Streben nach Verdunkelung, sondern auch alle diejenigen Erscheinungen, welche als nothwendige Begleiter und Folgen dieser Richtungen der Sele auf ihre eigne und Anderer Verfinsterung sich in der Erfahrung wahrnehmen lassen oder im Wesen des Finsterlings gedacht werden müssen. ♦ {1} Vgl. Aufklärung
  Der letztere ist der angegebenen Bestimmung zufolge gerade das Entgegengesetzte vom Aufklärer oder Illuminaten, und desgleichen der Obscurantismus entgegengesetzt der Aufklärerei oder dem Illuminatismus. Da sich aber beide jederzeit als einseitige und zur Neigung, ja wol gar
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  zur Leidenschaft gewordene Richtungen der Sele zu erkennen geben, so sind beide auch zu den eigentlichen Selenkrankheiten zu zählen, und ihre Erscheinung nur dann vollkommen begreiflich und erklärlich, wenn man ihren Grund in der menschlichen Sele selbst aufsucht, wie es nun hier für die des Dunklers und der Dunklerei geschehen soll.
  Wenn wir vernünftiger und selbstbewußter Weise annehmen dürfen, daß unsere Sele ursprünglich ein einfach geistiges Wesen sey, welches diese seine Einfachheit und Unbestimmtheit selbst erst dadurch aufhebt, daß es sich sowol in die besondere Leibes-, als auch in die allgemeine Sinnen- und Geisteswelt hineinbildet, und seiner selbst und dem Weltganzen gemäß entwickelt und bestimmt: so leuchtet ein, daß, wenn auf die Unterschiede und Stufen geistiger Freiheit der Sele gesehen wird, alles zunächst auf die angegebene Einbildung, Entwickelung und Bestimmung ankommen müsse; weil in ihnen sich auch jederzeit der Mangel an Geistigkeit und Freiheit der Sele enthüllen wird. ♦
  Bei der Entwickelung selbst muß aber wieder wesentlich auf folgende zwei Hauptpunkte geachtet werden, zuerst nämlich auf das, was sich entwickelt, und sodann auch auf das, worin es sich entwickelt, d. h. also auf das einfach geistige Selenwesen und auf den Stoff ihrer Selbstbeschaffung und irdischen Auslegung; denn beide sind gleichsam als Faktoren zu betrachten, aus denen des Menschen leibliches und geistiges Dasein, als Ergebniß und Erzeugniß derselben hervorgeht, und von denen mithin ebenso die Vollkommenheit wie die Unvollkommenheit oder der Mangel an Erfüllung des Endzwecks oder der Idee des Menschen abhängig ist.
  Hält man zunächst die eine Seite, nämlich die sich selbst entwickelnde Sele als Grundbedingung aller geistigen Freiheit und Klarheit fest: so läßt sich ohne Zweifel annehmen, daß dieser einfachen Sele oder dem Wesen nach alle Menschen übereinstimmen und gleich sind, daß mithin die Entwickelung bei allen von einerlei Voraussetzung ausgehe, oder einen und denselben Anfang nehme, und wenigstens im Selenwesen selbst, als solchem, kein Mangel oder kein Fehlen irgend eines wesentlichen Bestimmungsgrundes gesetzt werden dürfe. ♦
  In diesem Anfange selbst aber läßt sich die Sele nur als ein allgemein geistiges Vermögen, als die reine Möglichkeit und Grundbedingung zur Wirklichkeit denken; und es würde daher nicht mit der Vernunft und Erfahrung widerstreitend seyn, anzunehmen, daß als solches Vermögen die Selen verschiedener Menschen auch in Etwas verschieden seyn können, daß es überhaupt gleichsam ursprünglich schwache und starke, wenig und viel vermögende Selen gebe. Wir hätten hienach einen der wichtigsten Gründe für die aus der Erfahrung bekannte geringere oder größere Geistigkeit der Menschen gefunden.
  Nehmen wir nun hienach die Sele gleichsam als einen Samen, oder noch bestimmter nur als den bloßen Keim zu einem eigenthümlichen Menschenleben an, so kommt es zweitens nicht minder auch darauf an, in welchen Boden derselbe gepflanzt wird, und unter welchen irdischen und himmlischen Bedingungen, Hemmungen oder Begünstigungen sich sein Dasein entwickeln kann. Wie bei der Pflanze, aber ist auch hier dieses Element, in welches sich die einfache Sele hineinbildet, und welches sie ebenso selbst auch mitbildet, wieder zwiefach, nämlich ein sinnliches oder physisches und ein gei-
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  stiges oder ideelles, und die Entwickelung der Sele zur geistigen Freiheit und Klarheit ebenso zwiefach zu betrachten. ♦
  Es ist nämlich erstlich aus der, wenn auch noch nicht hinreichenden, doch im Allgemeinen schon genug begründeten und festgestellten Erfahrung bekannt, welchen Einfluß Nahrung, Luft und Himmel auf die leibliche Entwickelung der Sele haben. Nimmt man hiezu noch die äußeren Störungen, Hemmungen und Unterbrechungen, welche die Sele in ihrer Einverleibung von den mannigfaltigen äußern Zufällen und Schicksalen, z. B. durch unachtsame und unvorsichtige Wartung und Pflege, durch zu große leibliche und geistige Anstrengung und Arbeit, durch Krankheiten und zerstörende Leidenschaften o. dergl. zu erfahren hat: so dürften auch im leiblichen Organismus Gründe in großer Anzahl aufzufinden seyn, durch welche die Sele in ihrer Entwickelung zur lichtreinen und klaren Geistigkeit nicht nur überhaupt behindert, sondern oft für immer in einem gewissen geistigen Helldunkel schon stehen zu bleiben gezwungen wird, und dies hauptsächlich deshalb, weil gerade das Mittel, der Leib, wodurch und auf dessen Grunde sie zu ihrem wahren und reinen Selbst, der vernünftigen Geistigkeit, gelangen soll, ihrer freien Entwickelung zu frühe oder einseitige Schranken setzt. ♦
  Aber nicht geringer ist zweitens die Anzahl derjenigen Gründe, welche in der Art und Weise der geistigen oder ideellen Vermittelung der Sele mit der vorhandenen Geisteswelt liegen. Es ist bekannt und bestätigt genug, wie nicht blos schwache, sondern selbst starke und geisteskräftige Selen durch die erste und fortgesetzte Geistesnahrung zum Lichte ebenso, wie zur Finsterniß gebildet werden können; in jedem Falle aber durch eine einseitige und falsche Bildung, durch frühzeitig eingesogene Vorurtheile und Meinungen, durch verderbliche Sitten und Beispiele u. dergl. das geistige Selenleben bedingt wird, und weil es das Licht des Geistes nur durch ein trübes Mittel, oder nur gebrochen in sich aufgenommen hat, es selbst sich an diese Erleuchtung gewöhnt, die Welt selbst in diesem Lichte sieht, und darum nie zum reinen und hellen Sehen gelangt.
  Hiemit sind nun aber die wesentlichsten Schranken und Hemmungen der Sele in ihrer freien geistigen Entwickelung angegeben, und hienach jetzt im Allgemeinen auch die Folgen und Erscheinungen derselben in der Erfahrung zu bezeichnen. Im Ganzen genommen werden sich dieselben als Beschränktheit der Sele zeigen, und auf sie sich alle Stufen und Unterschiede der geistigen Unklarheit, Dunkelheit, ja auch der Dunklerei oder der Lichtscheue und Finsternißliebe zurückführen lassen. Da die Beschränktheit nun aber selbst wieder entweder allgemein oder einzeln seyn kann, so wird auch die geistige Unfreiheit und Unklarheit ebendieselben Unterschiede in der Erfahrung ausweisen. ♦
  Die allgemeine Beschränktheit der Sele, welche entweder aus ihrer eigenen ursprünglichen Ohnmacht und Schwachheit, oder aus der Misbildung ihres Leibes entspringt, und in der gänzlichen Unterdrückung aller freien und geistigen Selenvermögen und Thätigkeiten beruht, nehmen wir auf die niedrigste und wahrhaft abschreckende Weise im Kretinismus, desgleichen an solchen Erscheinungen wahr, wo die Sele, in einseitiger Richtung auf das rein Thierische und Sinnliche, sich selbst gleichsam in dem Übermaße des Leibes eine Schranke bereitet hat, aus der sie nur der Tod befreien kann; wie sich z. B. an den riesigen Körpergestalten die Beschränktheit der Sele ganz gewöhnlich als Blöd-
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  sinn offenbart. ♦
  Eben hieher sind auch alle Erscheinungen des Blödsinns und der Verdunkelung der Sele zu zählen, welche durch eine nicht ursprüngliche, sondern erst später Hinzugekommene Leibes- oder Selenkrankheit veranlaßt werden. Diese allgemeine Beschränktheit hat indessen auch wieder viele Abstufungen, welche vom Blödsinn herab durch die eigentliche Dummheit oder der Halbdunkelheit bis zu der Lichthelle fortgeht, welche für das gewöhnliche Leben und die Alltagsgeschäfte vollkommen ausreicht; aber da sogleich als Beschränktheit der Sele in ihrer freien Selbstheit hervortritt, wo es den Begriff höherer, auf das rein Geistige, Göttliche und übersinnliche bezüglicher Dinge gilt; da erscheint sie als Verschlossenheit und Bornirtheit. ♦
  Daß die Sele in dieser Halbfreiheit sich in einem gewissen leidenden Zustande befinde, gibt sich zur Gnüge auch darin zu erkennen, daß Menschen auf dieser Stufe nicht blos zu allem Handgreiflichen, sobald sie darin ein Vorbild und Beispiel haben, sondern auch überhaupt zu allem sehr geschickt sind, wozu schon das bloße Gedächtniß, d. h. das Vermögen der geistigen Aneignung und Aufbewahrung hinreicht, und wo man kein Urtheil und keine freie Produktion verlangt. Es leuchtet von selbst ein, daß die Mehrzahl der Menschen sich in diesem geistigen Halbdunkel, welches man das Gefühl zu nennen pflegt, befinden, und deshalb jeder Leidenschaft und Selbstsucht so leicht Eingang gestatten. ♦
  Dies führt aber zweitens auf den Mangel einzelner geistiger Vermögen der Sele. Wie sich nämlich in der Erfahrung Belege in Fülle für eine mehr oder weniger allgemeine Unterdrückung der geistigen Wirksamkeit finden, so auch solche, welche auf eine Beschränktheit und Dunkelheit der Sele nur im Einzelnen, d. h. in einigen besonderen, hauptsächlich der höheren und höchsten Geistesentwickelungen der Sele hinweisen, die aber als solche den meisten Menschen und selbst sogenannten Menschenkennern nicht selten entgehen, und besonders dann, wenn dieser Mangel an Licht und Geistesklarheit durch andere glänzende Seiten der Selenthätigkeit gleichsam verdeckt, und beschönigt wird. ♦
  Die Psychologie lehrt nun in Beziehung auf den Mangel einzelner Vermögen und Thätigkeiten der Sele, daß es Menschen, und zwar jederzeit in einem offenbar krankhaften Zustande gibt, welche bei einem sehr lebendigen Gefühle, einer starken Einbildungskraft und einem großen Reichthume der Vorstellungen ihres weiten und treuen Gedächtnisses, dennoch des sogenannten höheren Erkenntniß- oder Denkvermögens, wenn auch nicht ganz, was bei vernünftigen Wesen unmöglich ist, so doch in hohem Grade ermangeln, und da hierauf alles Begreifen, Urtheilen und Schließen beruht, die Erscheinungen darbieten, welche man Albernheit, Thorheit und Narrheit nennt. Daß hier das Licht und die Klarheit des verständigen Geistes fehlt, ergibt sich ebenso von selbst, als es bekannt ist, wie dieser Mangel bald aus einer ursprünglichen Schwäche der Sele, bald auch aus einer später hinzugetretenen Schwächung derselben durch leibliche Krankheit entspringt. ♦
  Diesem Zustande in Manchem entgegengesetzt ist der, wo gerade von einem, fast ganz im äußern Lichtschein der Sele sich entwickelnden Verstande die übrigen Geistesvermögen, z. B. das Gefühl, das bildliche Vorstellen und die in der Auschauung des Wesens oder der Ideen sich offenbarende Vernunft sehr verdunkelt und überschattet werden; so daß es merkwürdig ist, neben der feinsten Lichtäußerung eines spitzig und schneidend scharfen Verstandes die dunkelsten
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  Stellen und Abgründe der Nacht zu erblicken. Da wo der Verstand zurückweicht und neben der lebendigen Einbildungskraft und der Stärke eines tief fühlenden Gemüthes auch das höhere Vernunftvermögen der Sele thätig ist, da bricht das reine und farblose Licht des Geistes in den bald hoch, bald tief gestimmten Farbentönen des Pietismus und Mysticismus hervor. Darin aber, daß das aufhellende Licht des Verstandes nicht im Stande ist, die gefärbten Schatten zu zerstreuen, gibt sich eine Schwäche kund, die ebenso ursprünglich, als als aus späterem Leiden hervorgegangen seyn kann. — ♦
  Hiemit mögen nun aber auch einerseits die allgemeinen Ursachen und Quellen angedeutet seyn, aus denen die mancherlei Beschränkungen der zum Lichte strebenden Sele erfolgen, so wie andererseits die wesentlichsten Arten dieser Beschränktheit selbst. Es ist nun aber, dem Zwecke dieser Abhandlung gemäß, und auf dem Grunde der vorausgegangenen psychologischen Erörterung, auch noch mit wenigen Grundzügen zu bezeichnen, wie sich der Beschränkte oder Dunkler allgemein anthropologisch, oder überhaupt in den geistigen Verhältnissen des gesellschaftlichen Lebens selbst darstelle, und wie er aus seiner natürlichen Dunkelei durch leidenschaftliche oder anderweitige äußere Veranlassungen zur wirklichen Dunklerei oder dem eigentlichen Obscurantismus übergehe.
  Aus dem Bisherigen dürfte nun also wol feststehen, daß alles Dunklerwesen aus einer ursprünglichen oder spater hinzugekommenen Beschränktheit der Sele in ihrer geistigen Kraftäußerung hervorgehe, und mithin jeder Dunkler, er möge sich äußerlich noch so gebildet, sein und klug zeigen, dennoch in irgend einer Hinsicht ein Beschränkter sey. Nun ist es aber natürlich und nothwendig, daß jeder, er möge sich auf einer Stufe geistiger Freiheit und Einsicht befinden, auf welcher er wolle, nach dieser seinen Lebens- und Geschäftskreis, ja selbst seinen Denk- und Wissenskreis bestimmt und wählt, und sobald seine Sele durchaus unvermögend ist, sich über ihre Beschränktheit hinaus zu erheben, sich mit denen zusammenschließt, die im Wesentlichen Ihresgleichen sind. ♦
  Dies gilt nun besonders von der Beschränktheit, Unfreiheit und Unselbständigkeit des Dunklers. Sein bestimmter Licht- und Gesichtskreis ist ihm nicht nur sein Natur- und Normalzustand, sondern zugleich auch das Maß, womit er sich selbst und Andere mißt, womit er aber auch von Andern wieder gemessen wird; oder was dasselbe ist, er beurtheilt Andere ebenso nach sich, weil über seinen beschränkten Standpunkt hinaus es für ihn keinen höhern, lichtvolleren und geistigeren gibt, wie andere über ihm stehende ihn für das nehmen, was er wirklich ist, nämlich für einen Beschränkten. ♦
  Indem nun aber den meisten beschränkten Selen, wenn gleich ihnen die Kraft fehlt, sich über diese Schranken zu erheben, dennoch jederzeit ein mehr oder oder weniger deutliches Bewußtseyn oder Gefühl von dieser ihrer Schranke, ja gewöhnlich auch davon eigen ist, daß Andern diese Schranke nicht entgeht: so ist die nächste Folge die, daß der Beschränkte sich entweder ganz auf sich und in sich zurückzieht, fern von der höher gebildeten Gesellschaft hält, und sein Wesen, wie man sagt, für sich im Dunkeln treibt, oder höchstens nur solche daran Theil nehmen läßt, die desselben Geistes Kinder sind. Auf diese Weise sehen wir den Obscurantismus erster Art einen ganz natürlichen Anfang nehmen, und selbst als etwas Nothwendiges entstehen. ♦
  Über diesen Kreis des subjectiven Thuns und Treibens wagt sich nun
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  der Beschränkte nicht hinaus, er vermeidet alles höhere Geistige, Allgemeine und Öffentliche; oder wenn er in dasselbe eintreten muß, geschieht es nicht ohne Widerwillen und Furcht; denn beide sind die natürlichen Begleiter der Beschränktheit der Sele, sofern sie sich ihrer Schranke bewußt ist.
  Nicht immer aber verbirgt sich der Beschränkte in seine eigene Dunkelheit; nicht immer tritt er mit Furcht und Scheu in der Öffentlichkeit auf, ja nicht immer erträgt er die Urtheile und Behandlungsweisen anderer, sich aufgeklärt und gebildet Dünkenden mit Gleichmuth und gleichgiltiger Ruhe. Auch er wird, wie jeder Andere, von Affekten und Leidenschaften zur That getrieben, und von diesen oft mehr als irgend ein anderer beherrscht, weil der Sele die Klarheit und Kraft der Vernunft fehlt, welche erfoderlich sind, um seine Triebe und Leidenschaften ganz beherrschen zu können. ♦
  Mehr als irgend einen andern sehen wir daher den Beschränkten seine Schranken vergessen, sobald seine Ansichten, Meinungen, Thaten und Werke nicht geachtet und für vollgiltig genommen, ja wol gar verachtet und belacht werden. Treiben ihn nun aber die Leidenschaften der Eigenliebe, der Selbstsucht, Habsucht u. s. w., und findet er sich wirklich an seiner Ehre gekränkt und verletzt, sein Besitzthum und Erwerb geschmälert und seinen Einfluß verringert; so geht sein anfänglicher Widerwille in Haß gegen alle Aufgeklärtheit, Freiheit und Öffentlichkeit, bald auch in heimliche und versteckte Verdächtigung der geistigen Freiheit und Aufklärung bei andern, vornehmlich Seinesgleichen, ja zuletzt in eine furcht-, und oft selbst schaamlose und dummdreiste öffentliche Hintertreibung und Bekämpfung derselben über. ♦
  Auf diese Weise erst wird der vorhin bezeichnete natürliche und unschädliche Obscurantismus zum eigentlichen und wahren, d. h. zur Leidenschaft und wirklichen Krankheit der Sele; eine Leidenschaft aber, die für die wahre Aufklärung und Freiheit des Geistes um so gefährlicher wird, je größer und mächtiger der Dunkler selbst, sein Anhang im Volke, und je höher sein Amt und seine Würde im State ist. Ja die Gefahr vergrößert sich noch mehr, wenn die Beschränktheit des Dunklers nur einseitig, z. B. nur in allgemein und rein vernünftigen oder in Dingen von höherer Einsicht und Geistesfreiheit ist, so daß sie nicht leicht von der Menge entdeckt wird; wenn er begabt ist mit einer allezeit fertigen, wortreichen und erschütternden Rede, oder mit einem praktischen, scharfsinnigen und gewandten Verstande und mit einer ausgebreiteten Erfahrung und Geschäftskenntniß; wenn die Selbstsucht, der Ehrgeiz und die Habsucht seine Sele beherrschen, und ihn über alle Schranken der Vernunft hinaussetzen; oder er wirklich in Gefahr ist, von Seiten der Aufklärung um Ansehen, Ehre und Macht zu kommen, und wenn er sich in seinen geheimsten Schlupfwinkeln und verborgensten Künsten von seinem Erbfeinde, dem Aufklärer, bedroht, belauscht und entdeckt findet. ♦
  Und entgehen ihm endlich auch die Mißgriffe der Aufklärer und die nachtheiligen Folgen nicht, welche aus einer voreiligen und unzeitigen oder oberflächlichen und ebenso einseitigen Aufklärung für das allgemeine Wohl des Volkes, des Stats und der Religion, ja selbst für die vom Aufklärer erstrebte Freiheit und Klarheit des geistigen Lebens selbst erwachsen; dann wächst nicht allein sein Muth und seine Standhaftigkeit, sondern hält er es auch für eine heilige Pflicht, diesem falschen oder verblendenden Lichte der Aufklärerei und Freigeisterei entgegenzuwirken, und scheut er kein Opfer, kein Mittel, den verderb-
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  lichen und bösen Geist des Gegners zu bekämpfen, obgleich er selbst nicht weiß und begreift, daß er allenthalben nur gegen Schatten und Gespenster ficht, die er ursprünglich selbst ins Dasein gerufen, deren Grund und Quelle in ihm selber liegt; indem sein eigener Geist der Finsterniß und Unfreiheit den Geist des Lichts und der Freiheit zum Kampfe herausgefodert hat.
  Auf diese Weise entwickelt sich der großartigste, aber nicht selten gefährlichste und unmittelbar oft verderblichste aller heimlichen und öffentlichen Kämpfe zwischen Licht und Finsterniß, Aufklärung und Verdunkelung. Gefährlich und verderblich nämlich für Volk, Religion und Statswesen hauptsächlich deswegen, weil er das Volksbewußtseyn oder die öffentliche Meinung selbst zuerst in zwei Parteien spaltet, und man kann sagen, im Innersten zerreißt, und darauf auch wieder das so entzweite Bewußtseyn zum Richter des Streites aufruft; ein Richter aber, der selbst im Streite betheiligt und befangen, und deshalb unfähig zu jeder gerechten Entscheidung ist. ♦
  Dahin aber muß es kommen, weil sich selbst der Geist der Vernunft und des Lichts in diesem Kampfe mit dem der Finsterniß und Unvernunft vermischt, und beide zuletzt auf gleicher Stufe der Leidenschaft und Ausartung stehend, nur noch nach Gründen und Ungründen, zur List und Falschheit greifen, um das Siegsfeld zu gewinnen; mithin Tag in Nacht, Wahrheit in Falschheit verkehren, und durch diese Verkehrung endlich in alle bestehenden Verhältnisse Verwirrung und Auflösung bringen. ♦
  So wenig noch jemals die eigentliche Sache des geistigen Lichts oder der Wahrheit in solchem Kampfe gefördert worden ist, weil die Kämpfenden selbst mit ungleichen Waffen kämpfen, und auf die Länge stets die Beschränktheit, Dummheit und Dunklerei den Sieg davontragen wird: ebenso wenig hat da ein Volks- und Statswesen auf die Länge bestehen können, wo die Regirer selbst mit in diesen Parteienkampf verflochten sind, nicht über demselben stehend, von oben herab den Streit zu Gunsten der wahren Freiheit und Aufgeklärtheit des Geistes beilegen, sondern von der Leidenschaft hingerissen und geblendet, selbst Theilnehmer in demselben sind, und wol gar noch auf einen Antheil an der Beute zur Belohnung für die dem Sieger geleisteten guten Dienste Anspruch machen. ♦
  Dies ist im Allgemeinen der Entwickelungsgang des Obscurantismus, er möge eine Form und Farbe annehmen, welche er wolle. Um nun aber diese Dunkelei und Nebelei auch noch in ihren besonderen, erfahrungsmäßigen und geschichtlichen Gestaltungen kennen zu lernen, darf es nicht unzweckmäßig scheinen, nur die geistige Welt, wie sie war und ist, hierüber reden und richten zu lassen.
  Alle Arten des eigentlichen Obscurantismus haben ihren Boden in dem natürlichen und sofern es zu jeder Zeit beschränkte Selen gibt, auch nothwendigen, leidlichen und nicht gefährlichen Obscurantenwesen, welches durch alle Völker und Zeiten, durch alle Länder, Städte und Dörfer, durch alle Stände, Ämter und Würden verbreitet und unvermeidlich ist. Obscuranten von einer natürlichen Beschränktheit ihrer geistigen Vermögen und Thätigkeiten, die, weil sie von den allgemeineren und höheren Interessen eines Volks oder der ganzen Menschheit wenig oder gar nicht berührt und bewegt werden, sich auf den engen Kreis ihres eignen Selbst, ihres Geschäftes und ihrer Behausung zurückziehen, sind nicht selten sehr brauchbare, meistentheils Gemüths-, oder Gefühls- und
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  Glaubensmenschen, und sehr häufig von phlegmatischem und melancholischem Temperamente. So lange sie nicht von deftigen Affekten erschüttert oder von selbstsüchtigen Leidenschaften getrieben werden, ist ihnen allen in der Regel eine große Gutmüthigkeit und selbst Liebenswürdigkeit nicht abzusprechen. ♦
  Von diesem Obscurantismus haben wir einen ebenso natürlichen und nothwendigen, aber nicht blos vorübergehenden und mehr oder weniger außerordentlichen zu unterscheiden, dessen Wesen daher mehr nur eine bloße Erscheinung, oder selbst nur ein Schein desselben genannt werden kann. Wir meinen nämlich jenen, wo außerordentliche und große, also recht eigentlich licht- und geistreiche Menschen oft unvermuthet aus dem gesellschaftlichen und öffentlichen Leben gleichsam verschwinden, und sich in ihr selbst zurückziehen, sey es auf Stunden, Tage oder Jahre, selbst auf ihr ganzes Leben, weil in ihnen sich eine neue, viel höhere und reichere als die bisherige Welt erschließen will, die aber, wie alles wahrhaft Große in der Natur nur in der Stille und Verborgenheit zur vollkommenen Reife und Gediegenheit gelangen kann, die, wenn sie ans Licht tritt, wirklich heilsam und segensreich für Menschen und Völker ist. Solche reichbegabten Selen und Geister sind es, die oft recht eigentlich in der Stille mit dem Geiste der Geister ringen, und das Licht aus sich selber gebären. Mystisch, d. h. dunkel und tief sind solche Naturen jederzeit.
  Von diesem genialen Obscurantismus, der keiner weitern Belege bedarf, weil die religiöse, politische, Kunst- und Wissenschaftsgeschichte gerade an ihn am meisten erinnert, und nicht selten bei ihm am liebsten verweilt, ist nun weiter gar sehr derjenige zu unterscheiden, der der eigentliche und wahre, oder der mehr künstliche genannt werden kann, und der sich jederzeit durch eine vorsätzliche, bösartige und böswillige Trübung und Verdunkelung der geistigen Klarheit und Freiheit auszeichnet. Wie der erste natürliche mehr ein passiver ist, so kommt diesem eher das Prädikat des aktiven zu; daher auch von jenem seine Gefahr für Stat und Religion, Kunst und Wissenschaft zu besorgen ist, dieser dagegen für alle gleich gefährlich und unheilbringend ist und werden muß, wenn ihm nicht der Geist des Lichts und der Wahrheit mit Kraft und Würde entgegen tritt und seinen Bestrebungen zeitig Schranken setzt.
  Dieser hiemit im Allgemeinen und vorläufig bezeichnete thätige Obscurantismus hat sich von jeher bis auf heute hauptsächlich auf den vier nachbenannten Gebieten des geistigen Lebens geltend gemacht, und nach diesen eigenthümliche Gestalten gegeben. Diese Gebiete aber sind das der Religion, des Stats, der Wissenschaft und der Kunst, so daß hienach das Wesen des eigentlichen Obscurantismus sich als religiöses, politisches, wissenschaftliches und künstlerisches näher bezeichnen, und als solches, der Geschichte und Wirklichkeit gemäß, im Folgenden durch einige bestimmte Andeutungen darstellen läßt.
  Geht man nun in die Geschichte und Erfahrung, so zeigt sich unter den angegebenen vier Arten des Obscurantismus keiner allgemeiner, ausgebreiteter, und in jeder menschlichen Beziehung erfolg- und einflußreicher als der religiöse. Daß aber ein Volks- und Statswesen in die größte Gefahr gerathe, ja seinem sichern Untergänge entgegengehe, wo er die Herrschaft erlangt, lehrt die Geschichte und Erfahrung nicht
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  minder, und wird auch hier noch aus seinen näheren Bestimmungen begreiflich werden. Jede herrschende Religion eines Volks ruht ursprünglich auf einer positiven Grundlage, d. h. auf einer geschichtlichen Offenbarung des Wesentlichen dieser Religion. Dieses Positive der Religion mit allen seinen inneren und äußeren, wesentlichen und zufälligen Bestimmungen, kurz alle Satzungen in Lehren, Sitten und Gebräuchen einer unmittelbar geoffenbarten Religion sind aber gerade dasjenige, was alle Bekenner derselben rein im Glauben festzuhalten, und gegen jede innere oder äußere, theoretische oder praktische Veränderung und Umgestaltung zu bewahren für heilige Pflicht halten. Es ist daher dem religiösen Glauben ganz gemäß, wenn alle Bekenner desselben sich gegen jede Neuerung in demselben als gegen eine Entstellung und Aufhebung desselben auf alle Weise auflehnen. ♦
  Da aber in jeder Religion die eigentlichen Stellvertreter der Gottheit und ihre wirklichen und vermeintlichen Organe die Geistlichen oder Priester sind; so geht alle Aufrechthaltung des ursprünglichen Wesens dieser Religion zunächst von ihnen aus. Insofern nun aber diese Aufrechthaltung wieder nur darin besteht, daß alle weitere Aufklärung und Entwickelung des wissenschaftlichen Geistes innerhalb dieser Religion schlechthin ausgeschlossen, oder unterdrückt und verneint wird, so daß der vernünftige Geist über sein eigenes religiöses Wesen, über seinen Glauben und seine religiösen Werke durchaus zu keinem Bewußtseyn oder zu keiner Aufklärung über sich selbst kommen soll: erscheint selbige als ein offenbarer Obscurantismus. Hieraus aber ist schon vorläufig zu folgern, daß jede positive Religion und orthodoxe Glaubensgenossenschaft von Natur sich obscurant zeigen, d. h. ihrem Wesen nach ein Feind aller Aufklärung und wissenschaftlichen Einsicht des religiösen Volksgeistes seyn müsse. ♦
  Damit stimmt nun in der That auch die Erfahrung vollkommen überein; denn wir finden diesen religiösen Obscurantismus namentlich in allen Priesterstaten, z. B. in Indien, Ägypten, im Judenthum, von geringer Bedeutung im republikanischen Griechenland und Rom; überhaupt mehr in monarchischen als republikanischen Staten. Es hat indessen auch dieser allgemeine religiöse Obskurantismus noch seine besondern Entwickelungsstufen und Unterschiede, welche einer besondern Betrachtung nicht unwerth scheinen mögen.
  Wir können nämlich zunächst auch den religiösen Obskurantismus in seiner natürlichen, unschädlichen und gemüthlichen Form in unzähligen Gliedern der gläubigen Gemeine einer positiven Religion finden, die des weitern Lichts im Religiösen weder bedürfen, noch es suchen, noch auch eigentlich hassen und verfolgen, so lange sie, selbst unbekannt mit demselben, nicht durch Priester dazu gereizt und aufgemuntert werden, und hienach eigentlich nur den Eifer oder die Leidenschaft Andrer theilen. ♦
  An diese rein gläubige fromme Form des Obscurantismus schließt sich eine andere, schon mehr thätige an, welche wir die pietistische oder frömmlerische nennen wollen. Der frömmelnde Dunkler hat nicht blos die feste Überzeugung, daß alle geoffenbarten Satzungen vollkommen wahr und gewiß, ja die höchste, vollkommenste Wahrheit selbst, und ganz hinreichend sind zur endlichen und unendlichen Beseligung und Heiligung des Menschen, zur Erkenntniß Gottes, der Welt und des Menschen; sondern in diesem seinem völlig abgeschlossenen und dem denkenden Wissen durchaus unzugänglichen Glauben leugnet er
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  auch alle Möglichkeit, durch ein lichtvolles und vernünftiges Denken über die Bestandstücke oder positiven Lehren der Religion noch zu einer höheren und vollkommenern Erkenntniß zu gelangen, ja er hält es für eine strafbare Vermessenheit und Anmaßung der klügelnden Vernunft des Menschen, über das, was Gott selbst in der Religion geoffenbart hat, noch weiter hinausgehen zu wollen. ♦
  Diese frömmlerische Dunklerei, wofür der psychologische Grund gewöhnlich nicht schwer zu finden ist, indem er sich nur zu bald als wirklich allgemeine oder besondere Beschränktheit des Geistes, oder in vielen Fällen auch in einer leiblichen Krankhaftigkeit offenbart, ist eben deshalb nicht nur an sich ein natürlicher Feind aller wissenschaftlichen Aufklärung und vollkommen geistigen Ausbildung, sondern sucht diese ihre Überzeugung von den Dingen des Glaubens und Wissens auch ebenso auf andere Gleichgesinnte überzutragen, und für sie besonders im Volke die Schwachgeistigen zu gewinnen. Alles dieses aber geschieht jedoch, ihrer natürlichen Schwäche sich wohl bewußt, und aus Scheu vor der Öffentlichkeit, wenigstens anfangs mehr noch im Stillen und Geheimen; bald aber auch öffentlich hervortretend durch eine auffallende Bekehrungssucht oder Missionseifer in Wort und Schriften, wie in der neuesten Zeit durch die bekannten Erbauungsschriften, Traktätchen genannt, oder durch erbauliche Zusammenkünfte, die sogenannten Konventikel, durch allgemeine Brüdervereine u. dergl. ♦
  Daß der frömmlerische Obscurantismus aber nicht immer bei diesen, im Grunde noch nicht durchaus verwerflichen oder schon statsgefährlichen öffentlichen Äußerungen stehen bleibt und bleiben kann, sondern in seiner Überzeugung, daß Rechte und Wahre allein ergriffen zu haben und um jedes Opfer vertheidigen zu müssen, und gegenüber einer einseitigen Aufklärungspartei, zu einem, die Schranken des Glaubens selbst übersteigenden religiösen Eifer, und leidenschaftlichen, ja schwärmerischen Widerspruch und Bekämpfung aller Andersgesinnten übergeht, lehrt die Erfahrung aller Zeiten, besonders aber der neuesten. In seiner beschränkten Meinung nur für ein Höheres zu kämpfen, merkt er selbst nicht, daß die im Hintergrunde seiner Bethätigungen sich regende Selbst- und Parteisucht die Triebfeder vieler seiner nicht blos unüberlegten, sondern wirklich dummdreisten öffentlichen Schritte sey, und daß er durch sie schon die Neigung verrathe, im Geiste des Jesuitismus, sich aller Mittel zu bedienen, welche ihn zum Zwecke führen können. ♦
  Daß seine Erleuchtung, deren er sich vom heiligen Geiste rühmt, nicht, wenigstens nicht immer die des Geistes der Wahrheit, Reinheit und wissenschaftlichen Klarheit sey, begreift man dann erst recht, wenn man die Beweggründe näher kennen lernt, welche die meisten in die Arme der Kirche treiben; oder die unzähligen Beispiele von Scheinheiligkeit, Heuchelei und leidenschaftlicher Sündhaftigkeit; oder die Schwäche und Verschlossenheit ihres Geistes in Vertheidigung ihrer eigenen und Widerlegung aller andern Ansichten, überhaupt ihr Nichtwissen und Nichtwissenwollen von aller allgemeinen und reinen Vernunfterkenntniß und ihre, oft im hohen Grade langweilende Geschwätzigkeit, Ungründlichkeit und Unwissenschaftlichkeit in Betracht nimmt.
  Wie gefährlich nun auch immer der frömmlerische Obscurantismus seyn möge, so übertrifft ihn doch, wie die Erfahrung bezeugt, noch um Vieles der eigentlich hierarchische, an den sich auf der einen Seite der mönchische, und auf der andern der jesuitische anschließt. Denn die
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  Geschichte lehrt, daß wo er herrscht, sein Wesen gleichsam wie eine ewige Nacht über ganzen Völkern und Skaten der Erde ruht, und jeden Strahl des himmlischen Lichts schon in seinem Werden auffängt. Wie nun einerseits einzuräumen ist, daß, wenn einmal der absolute Bruch des menschlichen Bewußtseyns und Lebens in geistliches oder göttliches und in weltliches oder ungöttliches geschehen ist, dem ersteren der Vorrang und die höhere Stufe zukomme, und daß der Geistliche dieses sein höheres Bewußtseyn auch im Weltlichen geltend machen könne und müsse: so tritt er andererseits dadurch auch wieder mit sich selbst und allem wahrhaft vernünftigen und allgemein göttlichen Bewußtseyn in Widerspruch, daß er unter dem religiösen Scheine, die geschehene Entzweiung in Geistliches und Weltliches aufzuheben, und beides in einander zu bilden, doch in Wahrheit den Unterschied beider entweder nur noch mehr zu befestigen, oder das letztere ganz zum Seinen zu machen trachtet. ♦
  Ebenso liegt aber auch darin ein Widerspruch, daß er im Besitz der Wahrheit einer höheren Offenbarung und einer überirdischen Macht, beides, so wie auch die höhere Würde, welche sie verleihen, entweder ganz nur für sich behalten, oder doch nur den äußeren Schein, d. h. nur so viel vom Wesen derselben mittheilen will, als er ohne Abbruch seiner selbst thun zu können glaubt. Nicht die Uberzeugung also, daß man nicht Allen Alles und zu jederzeit mittheilen dürfe was man selbst sey und besitze, weil dies eher schade als fromme, sondern der Grundsatz, daß man es niemals thun dürfe, weil man dadurch sein Selbst vergebe und am Ansehen verliere; mithin eine reine Selbstliebe, Ehrsucht und Habsucht sind die Beweggründe, warum der sogenannte Laie oder der Weltliche nicht aufgeklärt, sein Geist für immer in Dunkelheit, Beschränktheit und Dummheit erhalten werden soll; sind ferner die Beweggründe, weshalb er jede, wider sein Wissen und Willen verbreitete Aufklärung oder vernünftige Entwickelung des Geistes, nicht blos darum, weil sie zur Unzeit nachtheilig ist, sondern überhaupt schon als solche, und weil sie vielleicht seinen religiösen Satzungen widerstreiten und sein Ansehen vermindern könnte, unterdrückt, verfolgt und bestraft. ♦
  Wer anders, als der Geist dieses geistlichen Obscurantismus hat in Indien und Ägypten durch die Unterscheidung des Volks in feste Stände die Mehrzahl der Menschheit von aller geistigen Bildung und vernünftigen Aufklärung ausgeschlossen; wer anders als dieser Geist hat auch im papistischen Christenthum den Unterschied von Klerus, den Auserwählten Gottes, und Laien, dem fleischlich gesinnten und unwissenden Haufen festgestellt? Und obgleich wir sehr wohl wissen, daß das Mönchthum und sein Obscurantismus eines geistigeren Ursprungs sind, so hat ersteres doch jederzeit und besonders im Papstthume zum dienenden Organe des geistlichen Obscurantismus werden müssen. ♦
  Die furchtbarste, verderblichste und gefährlichste unter allen Ausgeburten des geistlichen Obscurantismus aber ist, nach den Zeugnissen der Geschichte aller christlichen Völker, der Jesuitismus. Was es von Arten, Künsten, Mitteln und Wegen der Dunklerei nur immer gibt, vereinigt er allein in sich. Dadurch aber hat er sich auch Ansehn und Besitzthümer zu erwerben gewußt, wie kein anderer, so daß er zuletzt selbst seinem Erzeuger zu gefährlich geworden ist. Aber warnend und tröstend zugleich hält uns die Geschichte die Lehre entgegen, daß sich noch jederzeit der Obscurantis-
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  mus, durch sich selbst gestürzt, und dem Geist des Lichts das Feld geräumt habe. Wie in dem alten Indien der Brahmaismus den freieren Buddhaismus aus sich erzeugte, wie das altägyptische Priesterthum dem geistigeren Griechenthume, der Pharisäismus dem Christenthume weichen mußte: so ist auch dem dunklerischen Papstthume der freiere und lichtvollere Geist des Protestantenthums entgegengetreten, und wird ferner auch der Geist des Lichts über alle Umtriebe geistlicher und jesuitischer Dunklerei den Sieg behalten.
  Ein anderer, zwar minder wichtiger und gefährlicher, aber doch ebenso allgemein herrschender Obscurantismus ist der politische. Jeder Stat, wie jede Religion, ist nur dadurch ein wirklicher Stat, daß seine Einheit und Ganzheit theils auf gewissen, aus der Natur des Menschen und des Volks hervorgegangenen Grundbestimmungen oder Rechten und Gesetzen ruht, theils an einen bestimmten irdischen Grund und Boden gebunden ist, und selbigen zu seinem Besitz gemacht hat. Wie nun Besitzthum und Rechte unter die einzelnen Statstheilnehmer vertheilt sind, hängt hauptsächlich vom Wesen des Volks ab, welches sich an einem Orte bürgerlich niedergelassen hat, aber auch von mancherlei äußern Bedingungen z. B. Krieg und Eroberung. ♦
  Sobald nun aber der Stat erst als solcher besteht, ist es nicht weniger Pflicht für das Statsganze, als für jeden Theil desselben, alle ursprünglichen Sitten und Gewohnheiten, Rechte und Gesetze, Besitz- und Würdevertheilungen den jedesmaligen Zeitumständen gemäß aufrecht zu erhalten. Dies ist nun aber gerade dasjenige, worauf sich der politische Obscurantismus stützt. Es ist indessen auch an ihm wieder noch die natürliche, oder aus einer gewissen Geistesbeschränktheit entspringende von der mehr künstlichen oder erzwungenen und vorsätzlichen Seite zu unterscheiden; die erstere kann man schlechthin den altväterischen Obscurantismus nennen. — ♦
  Jedes in sich geschlossene Volks-und Statswesen hat in sich den Trieb, das was es an sich ist, seine innern Anlagen und Fähigkeiten, auch äußerlich zu verwirklichen, sich in Zeit und Raum zu entwickeln, von Stufe zu Stufe auf der Linie statlicher Verfassung und Begründung zu erheben, kurz nie stille zu stehen, sondern stets in der Entwickelung fortzuschreiten. Nun aber kann es sich wol treffen, und trifft sich wirklich, weil es im Wesen des Menschen und des Volks ebenso begründet ist, daß es einen großen Theil der Statsglieder gibt, welcher aus einer natürlichen Beschränktheit des Geistes den Trieb und das Bedürfniß fortzuschreiten, und sich über das Alte zu Neuem und Besserem zu erheben, in geringem Grade in sich tragt, vielleicht gar nicht kennt, und sich durch das Alte und Bestehende vollkommen befriedigt findet. Hegen sie nun zwar auch im ruhigen Besitz ihrer Rechte und Habe jederzeit einen gewissen Widerwillen gegen alles Neue, und dagegen einen entschiedenen Hang zum Alten und Hergebrachten, so sind sie doch keine eigentlichen Feinde und Gegner des Neuen, ja sie lassen sich sogar manche Neuerung gefallen, sobald sie nur nicht gerade zu viel aus ihrem altväterischen Gleise herausgebracht werden. Eine ganz andere Gestalt des politischen Obfturantismus aber geht aus ihm hervor, wenn es gilt, bestimmte Rechte, Sitten und Gewohnheiten dem Statsganzen zum Opfer zu bringen.
  AuS dem altväterischen erzeugt sich also erst der eigentlich politische Obscurantismus, welcher auch wol der aristokratische genannt werden kann; denn gerade die
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  Aristokraten sind es, welche die Lehre „daß die Zeit der größte Neuerer sey", am wenigsten begreifen wollen. Weil sie nämlich zu der geringeren Anzahl von Statsbürgern gehören, welche bei der Gründung eines Volks- und Statswesens durch Verdienst und Auszeichnung gewisse Vorrechte und irdische Besitzthümer erworben, hiedurch aber nicht selten auch störende Misverhältnisse und zweckwidrige Unterschiede in ein lebendiges Volks- und Statswesen gebracht haben, die der sich immer freier und seinem Wesen angemessener entwickelnde Statsgeist im Laufe der Zeit aufzuheben und möglichst auszugleichen strebt und streben muß: so sind sie es besonders, die von der Zeit selbst immer am meisten bedroht sind und gefährdet werden. ♦
  Daher es auch wol natürlich und begreiflich ist, warum gerade diese Bevorrechteten nicht nur am meisten an dem Altväterischen hangen, sondern auch ihre Abneigung gegen jede Neuerung, sobald ihre Rechte, Würden und Besitzthümer unmittelbar oder mittelbar durch Einräumung gleicher Rechte, Würden etc. an Andere nicht ihres Standes beeinträchtigt und irgendwie geschmälert werden, in wirklichen Haß gegen jedes Neue, und in heimliche und öffentliche Bekämpfung und Hintertreibung aller Neuerung und Volksaufklärung übergehen lassen. Es offenbart sich also in diesem Obscurantismus, der äußerlich noch mancherlei andere Gestaltungen und Unterschiede zuläßt, im Allgemeinen nicht weniger die Selbstsucht, Ehrsucht und Habsucht, als bei dem hierarchischen. ♦
  Daher ihre Verbindung gar nichts Neues in der Geschichte, ja es ebenso natürlich ist, daß sie jeden Schritt, den der Volks- und Statsgeist sowol zur vollkommenen Selbstverständigung, als auch zur vollständigen Ausgleichung aller{2} seiner Beweggründe, Rechte und Kräfte, und zur endlichen Vollbringung seines absoluten Statszwecks thut, als den Anfang einer Statsumwälzung betrachten, verschreien, bekämpfen und vor dem großen Haufen der natürlichen politischen Obscuranten darzustellen sich bemühen. ♦ {2} ergänzt aus: ler
  Daß hiezu ein ebenso leidenschaftlich getriebener und unbesonnener Volksgeist auch gegründete Veranlassung geben kann, soll hiemit gar nicht geleugnet werden; ja es ist vielmehr recht eigentlich auf die Gefahr für das Statswesen hinzuweisen, wo der gebundene Geist des Alten und der ungebundene Geist des Neuen, beide aus Mangel wahrer, zeit- und vernunftgemäßer Aufklärung, gegen einander feindlich in die Schranken treten, und im Kampfe selbst nicht zu einer gegenseitigen Anerkennung, Berechtigung und Befriedigung gelangen.
  Die Geschichte aller Zeiten und Völker liefert zahlreiche und belehrende Belege zu dem Gesagten. Der feste Ständeunterschied in den großen Staten des Alterthums namentlich Indiens und Ägyptens war nicht nur eine unmittelbare Folge des sehr frühen Obscurantismus, sondern muß denselben auch fortwährend lebendig erhalten. Einen, in Beziehung auf die Würde des Menschen niederschlagenden Beleg bietet das im Alterthume und noch bis heute sogar unter christlichen Völkern geduldete Verhältniß von Freien und Sklaven dar; in Wahrheit ein Obscurantismus der niedrigsten Art. Kaum wird es die Nachwelt glauben, daß noch im Jahre 1830 der christlichen Zeit ein christliches Volk, nämlich der Bundesstat Georgien in Nordamerika, ein Gesetz hat geben können, welches verbietet, bei Geld-, Körper-oder Gefängnißstrafe den Sklaven
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  lesen und schreiben zu lehren. Jene Sklavenkriege zu Sparta und Rom waren merkwürdige, aber im Allgemeinen fruchtlose Versuche des Sklavengeistes, sich durch Gewalt vom Geiste der Freien die Freiheit zu erzwingen, eine Freiheit, die ihm erst das Christenthum verliehen hat. Erinnert darf hier nur werden an den aristokratischen Obscurantismus in den alten Republiken, namentlich an den Kampf der Patricier und Plebejer in Rom; ebenso an den der italienischen Freistaten, ja Frankreichs, Englands und selbst der teutschen Reichsstädte im Mittelalter und darüber hinaus.
  Eine dritte Art des Obscurantismus ist der wissenschaftliche. Ist derselbe gleich weniger gefährlich für das allgemeine und öffentliche Wohl eines Stats- und Volkswesens, indem die Erfahrung zeigt, daß letzteres sehr wohl auch bei einer gewissen Mittelstufe wissenschaftlicher Bildung und Aufklärung und bei aller widervilligen Fernhaltung von den höchsten Stufen derselben bestehen kann: so wird doch auch ein solches für die Dauer und besonders wenn der denkende Geist sich zunächst im Einzelnen über die unbefriedigenden Anfangs- oder Mittelstufen seiner wissenschaftlichen Bildung erhebt, nicht frei von manchen krampfartigen Zuckungen in seinem Innern bleiben. ♦
  Im Allgemeinen also offenbart sich dieser Obscurantismus als ein natürlicher Widerwille gegen alles klare, reine und bestimmte wissenschaftliche Denken, überhaupt gegen alles, was schon den Namen Wissenschaft trägt, insofern ihm von dieser zugemuthet wird, sich über das Helldunkel des allgemeinen Volksbewußtseyns zu einem klaren Wissen und verständigen Denken zu erheben. Da ihm hiezu aber theils die natürliche Fähigkeit und Kraft, theils auch die höhere wissenschaftliche Geistesbildung fehlt: so sehen und hören wir nicht selten diesen Obscurantismus, den man daher sehr wohl auch den unwissenschaftlichen nennen kann, sich in mancherlei Spöttereien, Witzeleien, Schmähreden und andere Anfeindungen besonders gegen alles Gelehrten- und Schriftwesen auslassen.
  So gewöhnlich nun dieser Obscurantismus in der Erfahrung ist, und auch wol manche schädliche Vorurtheile verbreitet und geflissentlich unterhält: so wenig wirkt er doch nachtheilig auf ein ganzes Volk, besonders wenn dieses sich im Allgemeinen des Nutzens der Wissenschaften fürs Leben bewußt ist, und ihre Früchte in der Anwendung derselben genießt. Es gibt aber noch eine andere Art von wissenschaftlichem Obscurantismus, der gerade von der Seite ausgeht, gegen die der vorige im Ganzen gerichtet ist, nämlich von dem Gelehrtenwesen im eigentlichen und engeren Sinne, d. h. von solchen, die mittelst einer mehr äußeren und formellen Verstandesbildung bis zu einem gewissen Grade von wissenschaftlichem Denken und Schaffen gelangt sind; aber bis zur Stufe wahrer Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit, d. h. bis zur rein vernünftigen oder philosophischen Beschaffung der Wissenschaften sich doch nicht erheben können. ♦
  Dieses ihr Vermögen und Unvermögen offenbart sich einerseits in einem gänzlichen Hingeben theils an das Gebiet der unbegrenzten Erfahrungswissenschaft, theils an das des historisch Positiven und Gegebenen, auf welchen beiden es denn auch einen weiten Spielraum findet für unzähliche Beobachtungen, Bemerkungen, Unter-
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  suchungen, Zerlegungen und Samlungen; andererseits aber auch entweder in einem verständig kritischen, oder skeptischen oder auch gar in einem unbedingt negativen Verhalten gegen alle freie und philosophische Einigung und Verbindung des Allgemeinen und Wesentlichen nach reinen Vernunftideen oder Gedanken, überhaupt gegen jeden Versuch, das Sinnliche aufs Übersinnliche, das Empirische aufs Spekulative oder Vernünftige, das Reale aufs Ideale etc. zurückzuführen, oder beide unter eine höhere Einheit zusammenzufassen. ♦
  Wir stoßen daher hier auf die merkwürdige Erscheinung, wo ein empirisch reflektirender und volksmäßig philosophirender Verstand in seiner mehr äußeren Klarheit und Denkfertigkeit auf der einen Seite sich als der größte Gegner alles bisherigen Obscurantismus beweist, und in seinem Eifer für Geistesfreiheit und Klarheit bis zur Aufklärerei oder zum Illuminatismus fortgeht; auf der andern Seite doch wieder als ein Obscurant erscheinen kann, und in Beziehung auf wahre Wissenschaft und eine Aufklärung, welche von dieser ausgeht, dafür gehalten werden muß. ♦
  Mit einem eigenen Namen würde dieser Obskurantismus der philosophische zu nennen sein. Die Geschichte und Erfahrung ist auch für ihn gar nicht karg an Belegen aus allen Zeiten und Völkern, wo die Wissenschaften sich bis zur höchsten Stufe ihrer selbst, d. h. bis zur Philosophie erhoben haben. ♦
  Die Geschichte der griechischen Philosophie allein liefert eine Reihe von Charaktergemälden dieses unphilosophischen und philosophischen Obskurantismus. Pythagoras und sein Schülerbund ging unter den Verfolgungen des unphilosophischen Obscurantismus zu Grunde; Herakleitos und Demokritos ertrugen wie Weise seine Schmähungen und Verspottungen; Sokrates unterlag der philosophischen Dunklerei der Sophisten und Afterweisen seiner Zeit, Anaxagoras, Platon und Aristoteles mußten dieser dunklerischen Vernünftelei und Volksrednerei weichen. ♦
  Auch die Geschichte der christlichen Philosophie ersterer, mittlerer und letzter Zeit ist in Wahrheit nicht arm an Ereignissen, die denen der griechische» zu Seitenstücken dienen können. Und wie nicht selten auch anderswo die Extreme sich stets einander suchen, berühren und selbst die Kette des Lichts und der Finsterniß schließen: so stimmt auch dieser philosophische Obscurantismus vollkommen mit dem hierarchischen und papistischen überein, indem letzterer nicht allein mehr als ein Jahrtausend lang Philosophen verfolgt und selbst bis zum Scheiterhaufen geführt hat, sondern auch noch heute in der verderblichen Philosophie den Grund zur Entzweiung der allgemeinen Kirche in eine alte und neue sieht.
  Der obigen Angabe zufolge haben wir endlich auch noch den künstlerischen Obscurantismus mit Wenigem näher zu bezeichnen. Daß ein solcher wirklich statt findet und zu allen Zeiten, und da, wo eine Kunst geblüht hat, stattgefunden habe, wird Keiner leugnen, der mit irgend einer der schönen Künste näher bekannt, oder auch nur mit der Geschichte derselben vertraut ist. Die obige allgemeine Annahme, daß auch diese Dunklerei auf einer geistigen Beschränktheit der Seele, und zunächst des Kunstsinnes oder Kunstgeistes beruhe, dürfte sich auch bei ihr bestätigt finden, sobald wir nur einen tiefern Blick auf den Grund derselben thun wollen. ♦
  Im Allgemeinen tritt dieser Obskurantismus als ein Festhalten an Formen und Gestalten einer früheren Stufe der Kunstentwickelung, oder auch als Zurückstreben aus der Gegenwart zu den
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  Kunstformen der Vergangenheit auf, indem er zugleich sich gegen jeden Fortschritt in derselben, d. h. gegen den Übergang des Kunstgeistes von einer niedern und ihm nicht mehr angemessenen Entwickelungsstufe zu einer höhern, überhaupt zu entwickelteren, freieren und geistigeren Formen in der Kunst auflehnt. Es liegt nämlich nicht minder im Wesen der Kunst, wie in der Wissenschaft und andern Natur- und Kunsterzeugnissen, daß sie da, wo sie zum Daseyn kommt, dieses ihr Daseyn selbst nur in gewissen Entwickelungsepochen vollkommen erreicht. ♦
  Es ist nun aber in dem Vermögen des Kunstgeistes selbst begründet, und die Erfahrung bestätigt es, daß auf der ersten Stufe der Kunstbildung die plastischen Formen der Kunst im Allgemeinen von der rein geistigen Idee des Künstlers noch nicht vollkommen durchdrungen, also noch nicht ihr vollkommenster Ausdruck sind. Es offenbart sich diese Unvollkommenheit besonders in einer gewissen Steifheit, Eckigkeit, Rauhheit, Gezwungenheit, Unnatürlichkcit und Vermischung der Kunstgestalten selbst. Solche unmittelbare Kunstbildungen können recht eigentlich Erzeugnisse des allgemeinen oder volklichen Kunstsinnes und Geistes genannt werden; dagegen die späterhin folgenden mehr Bildungen von einzelnen Kunstgeistern und für einzelne Kunstkenner hervorgebracht und da sind. ♦
  Der allgemeine Schönheitssinn eines Volksgeistes ist aber durch jene ersteren Bildungen schon vollkommen befriedigt, darin erkennt er sich selbst und die höheren Ideen, die ihn beleben. Im Anschauen dieser Gestalten hat er seine Andacht. Wie diese Erstlinge der Kunst auch beschaffen seyn mögen, sie sind ihm jederzeit lieb und heilig. Eine, selbst die geringste Veränderung daran stört aber seine Andacht, er faßt deren innern Sinn und Bedeutung nicht; seine Götter erscheinen ihm fremd. Am wenigsten vermag er den viel reicheren und geistigeren Gehalt eines Kunstwerks zu fassen, zu dem der sich selbst in der Kunst entwickelnde und fortbildende Kunstgeist fortgeht, und darin erst das eigentliche und wahrhafte Ideal des Kunstschönen erzeugt. ♦
  Es ist daher nothwendig, daß der ganze Kunstgeist eines Volkes auf diese Weise mit sich selbst in Widerspruch und Kampf geräth über das Alte und Neue seiner Produktion, und ebenso natürlich, daß die Mehrzahl auf Seiten des ersteren steht. Der sich dem Neuen widersetzende und selbiges bestreitende ältere Kunstgeist offenbart sich aber so als Obscurant, d. h. als ein solcher, welcher sich nicht mehr zu der vollkommen freien Erfassung, Erkennung und Beurtheilung des wirklich und wahrhaft oder vollkommen erschienenen Kunstschönen erheben kann. Welche Kämpfe daher die wahren Künstler, wie die wahren Wissenschafter, mit dem ungebildeten oder halbgebildeten Volksgeiste zu bestehen, und welche Vorsicht sie in der Vollbringung des Neuen stets nöthig gehabt haben, lehrt die Geschichte und heutige Erfahrung zur Genüge. ♦
  Die meisten Hindernisse und Beschränkungen aber hat der freie Kunstgeist jederzeit an dem positiven Religionsglauben gefunden, wie die Darstellungen und Abbildungen aller Völker beweisen, am meisten aber der Naturvölker im Alterthume. In Ägypten, Indien und Vorderasien, wie unter den ältern Amerikanern und heutigen mongolischen Völkerschaften, ja selbst zum Theil noch im freien Griechenland und Rom waren die Künstler auf dem Gebiete der Religion an die Formen der ersten und unmittelbaren Kunstepoche gebunden, und der religiös künstlerische Obscurantismus hienach eine unwiderstehliche und unüberwindliche Macht.
   
HIS-Data 5139-3-01-210-10: Allgemeine Encyclopädie: Obscurant HIS-Data Home
Stand: 13. Oktober 2017 © Hans-Walter Pries