|
|
|
Forts. S. 210 Sp. 1 |
OBSCURANT und OBSCURANTISMUS. {1} Obscurant und
Obskurantismus sind der Wortbedeutung nach vom lateinischen
obscurare (verdunkeln, verfinstern) abzuleiten und im Teutschen mit
Finsterling und Verfinsterung zu übersetzen; der Sachbestimmung nach
aber versteht man unter Verdunkler oder Obscuranten einen solchen
Menschen, welcher alle wahre geistige Aufklärung von sich und Andern
abzuhalten und überhaupt nicht aufkommen zu lassen geneigt ist,
sowie unter Obscurantismus nicht blos diese natürliche Neigung zur
Dunkelheit und dieses Streben nach Verdunkelung, sondern auch alle
diejenigen Erscheinungen, welche als nothwendige Begleiter und
Folgen dieser Richtungen der Sele auf ihre eigne und Anderer
Verfinsterung sich in der Erfahrung wahrnehmen lassen oder im Wesen
des Finsterlings gedacht werden müssen. ♦ |
{1} Vgl. Aufklärung |
|
Der letztere ist der angegebenen Bestimmung
zufolge gerade das Entgegengesetzte vom Aufklärer oder Illuminaten,
und desgleichen der Obscurantismus entgegengesetzt der Aufklärerei
oder dem Illuminatismus. Da sich aber beide jederzeit als einseitige
und zur Neigung, ja wol gar |
|
S. 210 Sp. 2 |
OBSCURANT |
|
|
zur Leidenschaft gewordene Richtungen der Sele zu
erkennen geben, so sind beide auch zu den eigentlichen
Selenkrankheiten zu zählen, und ihre Erscheinung nur dann vollkommen
begreiflich und erklärlich, wenn man ihren Grund in der menschlichen
Sele selbst aufsucht, wie es nun hier für die des Dunklers und der
Dunklerei geschehen soll. |
|
|
Wenn wir vernünftiger und selbstbewußter Weise
annehmen dürfen, daß unsere Sele ursprünglich ein einfach geistiges
Wesen sey, welches diese seine Einfachheit und Unbestimmtheit selbst
erst dadurch aufhebt, daß es sich sowol in die besondere Leibes-,
als auch in die allgemeine Sinnen- und Geisteswelt hineinbildet, und
seiner selbst und dem Weltganzen gemäß entwickelt und bestimmt: so
leuchtet ein, daß, wenn auf die Unterschiede und Stufen geistiger
Freiheit der Sele gesehen wird, alles zunächst auf die angegebene
Einbildung, Entwickelung und Bestimmung ankommen müsse; weil in
ihnen sich auch jederzeit der Mangel an Geistigkeit und Freiheit der
Sele enthüllen wird. ♦ |
|
|
Bei der Entwickelung selbst muß aber wieder
wesentlich auf folgende zwei Hauptpunkte geachtet werden, zuerst
nämlich auf das, was sich entwickelt, und sodann auch auf das, worin
es sich entwickelt, d. h. also auf das einfach geistige Selenwesen
und auf den Stoff ihrer Selbstbeschaffung und irdischen Auslegung;
denn beide sind gleichsam als Faktoren zu betrachten, aus denen des
Menschen leibliches und geistiges Dasein, als Ergebniß und Erzeugniß
derselben hervorgeht, und von denen mithin ebenso die Vollkommenheit
wie die Unvollkommenheit oder der Mangel an Erfüllung des Endzwecks
oder der Idee des Menschen abhängig ist. |
|
|
Hält man zunächst die eine Seite, nämlich die
sich selbst entwickelnde Sele als Grundbedingung aller geistigen
Freiheit und Klarheit fest: so läßt sich ohne Zweifel annehmen, daß
dieser einfachen Sele oder dem Wesen nach alle Menschen
übereinstimmen und gleich sind, daß mithin die Entwickelung bei
allen von einerlei Voraussetzung ausgehe, oder einen und denselben
Anfang nehme, und wenigstens im Selenwesen selbst, als solchem, kein
Mangel oder kein Fehlen irgend eines wesentlichen Bestimmungsgrundes
gesetzt werden dürfe. ♦ |
|
|
In diesem Anfange selbst aber läßt sich die Sele
nur als ein allgemein geistiges Vermögen, als die reine Möglichkeit
und Grundbedingung zur Wirklichkeit denken; und es würde daher nicht
mit der Vernunft und Erfahrung widerstreitend seyn, anzunehmen, daß
als solches Vermögen die Selen verschiedener Menschen auch in Etwas
verschieden seyn können, daß es überhaupt gleichsam ursprünglich
schwache und starke, wenig und viel vermögende Selen gebe. Wir
hätten hienach einen der wichtigsten Gründe für die aus der
Erfahrung bekannte geringere oder größere Geistigkeit der Menschen
gefunden. |
|
|
Nehmen wir nun hienach die Sele gleichsam als
einen Samen, oder noch bestimmter nur als den bloßen Keim zu einem
eigenthümlichen Menschenleben an, so kommt es zweitens nicht minder
auch darauf an, in welchen Boden derselbe gepflanzt wird, und unter
welchen irdischen und himmlischen Bedingungen, Hemmungen oder
Begünstigungen sich sein Dasein entwickeln kann. Wie bei der
Pflanze, aber ist auch hier dieses Element, in welches sich die
einfache Sele hineinbildet, und welches sie ebenso selbst auch
mitbildet, wieder zwiefach, nämlich ein sinnliches oder physisches
und ein gei- |
|
S. 211 Sp. 1 |
OBSCURANT |
⇧ Inhalt |
|
stiges oder ideelles, und die Entwickelung der
Sele zur geistigen Freiheit und Klarheit ebenso zwiefach zu
betrachten. ♦ |
|
|
Es ist nämlich erstlich aus der, wenn auch noch
nicht hinreichenden, doch im Allgemeinen schon genug begründeten und
festgestellten Erfahrung bekannt, welchen Einfluß Nahrung, Luft und
Himmel auf die leibliche Entwickelung der Sele haben. Nimmt man
hiezu noch die äußeren Störungen, Hemmungen und Unterbrechungen,
welche die Sele in ihrer Einverleibung von den mannigfaltigen äußern
Zufällen und Schicksalen, z. B. durch unachtsame und unvorsichtige
Wartung und Pflege, durch zu große leibliche und geistige
Anstrengung und Arbeit, durch Krankheiten und zerstörende
Leidenschaften o. dergl. zu erfahren hat: so dürften auch im
leiblichen Organismus Gründe in großer Anzahl aufzufinden seyn,
durch welche die Sele in ihrer Entwickelung zur lichtreinen und
klaren Geistigkeit nicht nur überhaupt behindert, sondern oft für
immer in einem gewissen geistigen Helldunkel schon stehen zu bleiben
gezwungen wird, und dies hauptsächlich deshalb, weil gerade das
Mittel, der Leib, wodurch und auf dessen Grunde sie zu ihrem wahren
und reinen Selbst, der vernünftigen Geistigkeit, gelangen soll,
ihrer freien Entwickelung zu frühe oder einseitige Schranken setzt.
♦ |
|
|
Aber nicht geringer ist zweitens die Anzahl
derjenigen Gründe, welche in der Art und Weise der geistigen oder
ideellen Vermittelung der Sele mit der vorhandenen Geisteswelt
liegen. Es ist bekannt und bestätigt genug, wie nicht blos schwache,
sondern selbst starke und geisteskräftige Selen durch die erste und
fortgesetzte Geistesnahrung zum Lichte ebenso, wie zur Finsterniß
gebildet werden können; in jedem Falle aber durch eine einseitige
und falsche Bildung, durch frühzeitig eingesogene Vorurtheile und
Meinungen, durch verderbliche Sitten und Beispiele u. dergl. das
geistige Selenleben bedingt wird, und weil es das Licht des Geistes
nur durch ein trübes Mittel, oder nur gebrochen in sich aufgenommen
hat, es selbst sich an diese Erleuchtung gewöhnt, die Welt selbst in
diesem Lichte sieht, und darum nie zum reinen und hellen Sehen
gelangt. |
|
|
Hiemit sind nun aber die wesentlichsten Schranken
und Hemmungen der Sele in ihrer freien geistigen Entwickelung
angegeben, und hienach jetzt im Allgemeinen auch die Folgen und
Erscheinungen derselben in der Erfahrung zu bezeichnen. Im Ganzen
genommen werden sich dieselben als Beschränktheit der Sele zeigen,
und auf sie sich alle Stufen und Unterschiede der geistigen
Unklarheit, Dunkelheit, ja auch der Dunklerei oder der Lichtscheue
und Finsternißliebe zurückführen lassen. Da die Beschränktheit nun
aber selbst wieder entweder allgemein oder einzeln seyn kann, so
wird auch die geistige Unfreiheit und Unklarheit ebendieselben
Unterschiede in der Erfahrung ausweisen. ♦ |
|
|
Die allgemeine Beschränktheit der Sele, welche
entweder aus ihrer eigenen ursprünglichen Ohnmacht und Schwachheit,
oder aus der Misbildung ihres Leibes entspringt, und in der
gänzlichen Unterdrückung aller freien und geistigen Selenvermögen
und Thätigkeiten beruht, nehmen wir auf die niedrigste und wahrhaft
abschreckende Weise im Kretinismus, desgleichen an solchen
Erscheinungen wahr, wo die Sele, in einseitiger Richtung auf das
rein Thierische und Sinnliche, sich selbst gleichsam in dem Übermaße
des Leibes eine Schranke bereitet hat, aus der sie nur der Tod
befreien kann; wie sich z. B. an den riesigen Körpergestalten die
Beschränktheit der Sele ganz gewöhnlich als Blöd- |
|
S. 211 Sp. 2 |
OBSCURANT |
|
|
sinn offenbart. ♦ |
|
|
Eben hieher sind auch alle Erscheinungen des
Blödsinns und der Verdunkelung der Sele zu zählen, welche durch eine
nicht ursprüngliche, sondern erst später Hinzugekommene Leibes- oder
Selenkrankheit veranlaßt werden. Diese allgemeine Beschränktheit hat
indessen auch wieder viele Abstufungen, welche vom Blödsinn herab
durch die eigentliche Dummheit oder der Halbdunkelheit bis zu der
Lichthelle fortgeht, welche für das gewöhnliche Leben und die
Alltagsgeschäfte vollkommen ausreicht; aber da sogleich als
Beschränktheit der Sele in ihrer freien Selbstheit hervortritt, wo
es den Begriff höherer, auf das rein Geistige, Göttliche und
übersinnliche bezüglicher Dinge gilt; da erscheint sie als
Verschlossenheit und Bornirtheit. ♦ |
|
|
Daß die Sele in dieser Halbfreiheit sich in einem
gewissen leidenden Zustande befinde, gibt sich zur Gnüge auch darin
zu erkennen, daß Menschen auf dieser Stufe nicht blos zu allem
Handgreiflichen, sobald sie darin ein Vorbild und Beispiel haben,
sondern auch überhaupt zu allem sehr geschickt sind, wozu schon das
bloße Gedächtniß, d. h. das Vermögen der geistigen Aneignung und
Aufbewahrung hinreicht, und wo man kein Urtheil und keine freie
Produktion verlangt. Es leuchtet von selbst ein, daß die Mehrzahl
der Menschen sich in diesem geistigen Halbdunkel, welches man das
Gefühl zu nennen pflegt, befinden, und deshalb jeder Leidenschaft
und Selbstsucht so leicht Eingang gestatten. ♦ |
|
|
Dies führt aber zweitens auf den Mangel einzelner
geistiger Vermögen der Sele. Wie sich nämlich in der Erfahrung
Belege in Fülle für eine mehr oder weniger allgemeine Unterdrückung
der geistigen Wirksamkeit finden, so auch solche, welche auf eine
Beschränktheit und Dunkelheit der Sele nur im Einzelnen, d. h. in
einigen besonderen, hauptsächlich der höheren und höchsten
Geistesentwickelungen der Sele hinweisen, die aber als solche den
meisten Menschen und selbst sogenannten Menschenkennern nicht selten
entgehen, und besonders dann, wenn dieser Mangel an Licht und
Geistesklarheit durch andere glänzende Seiten der Selenthätigkeit
gleichsam verdeckt, und beschönigt wird. ♦ |
|
|
Die Psychologie lehrt nun in Beziehung auf den
Mangel einzelner Vermögen und Thätigkeiten der Sele, daß es
Menschen, und zwar jederzeit in einem offenbar krankhaften Zustande
gibt, welche bei einem sehr lebendigen Gefühle, einer starken
Einbildungskraft und einem großen Reichthume der Vorstellungen ihres
weiten und treuen Gedächtnisses, dennoch des sogenannten höheren
Erkenntniß- oder Denkvermögens, wenn auch nicht ganz, was bei
vernünftigen Wesen unmöglich ist, so doch in hohem Grade ermangeln,
und da hierauf alles Begreifen, Urtheilen und Schließen beruht, die
Erscheinungen darbieten, welche man Albernheit, Thorheit und
Narrheit nennt. Daß hier das Licht und die Klarheit des verständigen
Geistes fehlt, ergibt sich ebenso von selbst, als es bekannt ist,
wie dieser Mangel bald aus einer ursprünglichen Schwäche der Sele,
bald auch aus einer später hinzugetretenen Schwächung derselben
durch leibliche Krankheit entspringt. ♦ |
|
|
Diesem Zustande in Manchem entgegengesetzt ist
der, wo gerade von einem, fast ganz im äußern Lichtschein der Sele
sich entwickelnden Verstande die übrigen Geistesvermögen, z. B. das
Gefühl, das bildliche Vorstellen und die in der Auschauung des
Wesens oder der Ideen sich offenbarende Vernunft sehr verdunkelt und
überschattet werden; so daß es merkwürdig ist, neben der feinsten
Lichtäußerung eines spitzig und schneidend scharfen Verstandes die
dunkelsten |
|
S. 212 Sp. 1 |
OBSCURANT |
⇧ Inhalt |
|
Stellen und Abgründe der Nacht zu erblicken. Da
wo der Verstand zurückweicht und neben der lebendigen
Einbildungskraft und der Stärke eines tief fühlenden Gemüthes auch
das höhere Vernunftvermögen der Sele thätig ist, da bricht das reine
und farblose Licht des Geistes in den bald hoch, bald tief
gestimmten Farbentönen des Pietismus und Mysticismus hervor. Darin
aber, daß das aufhellende Licht des Verstandes nicht im Stande ist,
die gefärbten Schatten zu zerstreuen, gibt sich eine Schwäche kund,
die ebenso ursprünglich, als als aus späterem Leiden hervorgegangen
seyn kann. — ♦ |
|
|
Hiemit mögen nun aber auch einerseits die
allgemeinen Ursachen und Quellen angedeutet seyn, aus denen die
mancherlei Beschränkungen der zum Lichte strebenden Sele erfolgen,
so wie andererseits die wesentlichsten Arten dieser Beschränktheit
selbst. Es ist nun aber, dem Zwecke dieser Abhandlung gemäß, und auf
dem Grunde der vorausgegangenen psychologischen Erörterung, auch
noch mit wenigen Grundzügen zu bezeichnen, wie sich der Beschränkte
oder Dunkler allgemein anthropologisch, oder überhaupt in den
geistigen Verhältnissen des gesellschaftlichen Lebens selbst
darstelle, und wie er aus seiner natürlichen Dunkelei durch
leidenschaftliche oder anderweitige äußere Veranlassungen zur
wirklichen Dunklerei oder dem eigentlichen Obscurantismus
übergehe. |
|
|
Aus dem Bisherigen dürfte nun also wol
feststehen, daß alles Dunklerwesen aus einer ursprünglichen oder
spater hinzugekommenen Beschränktheit der Sele in ihrer geistigen
Kraftäußerung hervorgehe, und mithin jeder Dunkler, er möge sich
äußerlich noch so gebildet, sein und klug zeigen, dennoch in irgend
einer Hinsicht ein Beschränkter sey. Nun ist es aber natürlich und
nothwendig, daß jeder, er möge sich auf einer Stufe geistiger
Freiheit und Einsicht befinden, auf welcher er wolle, nach dieser
seinen Lebens- und Geschäftskreis, ja selbst seinen Denk- und
Wissenskreis bestimmt und wählt, und sobald seine Sele durchaus
unvermögend ist, sich über ihre Beschränktheit hinaus zu erheben,
sich mit denen zusammenschließt, die im Wesentlichen Ihresgleichen
sind. ♦ |
|
|
Dies gilt nun besonders von der Beschränktheit,
Unfreiheit und Unselbständigkeit des Dunklers. Sein bestimmter
Licht- und Gesichtskreis ist ihm nicht nur sein Natur- und
Normalzustand, sondern zugleich auch das Maß, womit er sich selbst
und Andere mißt, womit er aber auch von Andern wieder gemessen wird;
oder was dasselbe ist, er beurtheilt Andere ebenso nach sich, weil
über seinen beschränkten Standpunkt hinaus es für ihn keinen höhern,
lichtvolleren und geistigeren gibt, wie andere über ihm stehende ihn
für das nehmen, was er wirklich ist, nämlich für einen Beschränkten.
♦ |
|
|
Indem nun aber den meisten beschränkten Selen,
wenn gleich ihnen die Kraft fehlt, sich über diese Schranken zu
erheben, dennoch jederzeit ein mehr oder oder weniger deutliches
Bewußtseyn oder Gefühl von dieser ihrer Schranke, ja gewöhnlich auch
davon eigen ist, daß Andern diese Schranke nicht entgeht: so ist die
nächste Folge die, daß der Beschränkte sich entweder ganz auf sich
und in sich zurückzieht, fern von der höher gebildeten Gesellschaft
hält, und sein Wesen, wie man sagt, für sich im Dunkeln treibt, oder
höchstens nur solche daran Theil nehmen läßt, die desselben Geistes
Kinder sind. Auf diese Weise sehen wir den Obscurantismus erster Art
einen ganz natürlichen Anfang nehmen, und selbst als etwas
Nothwendiges entstehen. ♦ |
|
|
Über diesen Kreis des subjectiven Thuns und
Treibens wagt sich nun |
|
S. 212 Sp. 2 |
OBSCURANT |
|
|
der Beschränkte nicht hinaus, er vermeidet alles
höhere Geistige, Allgemeine und Öffentliche; oder wenn er in
dasselbe eintreten muß, geschieht es nicht ohne Widerwillen und
Furcht; denn beide sind die natürlichen Begleiter der Beschränktheit
der Sele, sofern sie sich ihrer Schranke bewußt ist. |
|
|
Nicht immer aber verbirgt sich der Beschränkte in
seine eigene Dunkelheit; nicht immer tritt er mit Furcht und Scheu
in der Öffentlichkeit auf, ja nicht immer erträgt er die Urtheile
und Behandlungsweisen anderer, sich aufgeklärt und gebildet
Dünkenden mit Gleichmuth und gleichgiltiger Ruhe. Auch er wird, wie
jeder Andere, von Affekten und Leidenschaften zur That getrieben,
und von diesen oft mehr als irgend ein anderer beherrscht, weil der
Sele die Klarheit und Kraft der Vernunft fehlt, welche erfoderlich
sind, um seine Triebe und Leidenschaften ganz beherrschen zu können.
♦ |
|
|
Mehr als irgend einen andern sehen wir daher den
Beschränkten seine Schranken vergessen, sobald seine Ansichten,
Meinungen, Thaten und Werke nicht geachtet und für vollgiltig
genommen, ja wol gar verachtet und belacht werden. Treiben ihn nun
aber die Leidenschaften der Eigenliebe, der Selbstsucht, Habsucht
u. s. w., und findet er sich wirklich an seiner Ehre gekränkt und
verletzt, sein Besitzthum und Erwerb geschmälert und seinen Einfluß
verringert; so geht sein anfänglicher Widerwille in Haß gegen alle
Aufgeklärtheit, Freiheit und Öffentlichkeit, bald auch in heimliche
und versteckte Verdächtigung der geistigen Freiheit und Aufklärung
bei andern, vornehmlich Seinesgleichen, ja zuletzt in eine furcht-,
und oft selbst schaamlose und dummdreiste öffentliche Hintertreibung
und Bekämpfung derselben über. ♦ |
|
|
Auf diese Weise erst wird der vorhin bezeichnete
natürliche und unschädliche Obscurantismus zum eigentlichen und
wahren, d. h. zur Leidenschaft und wirklichen Krankheit der Sele;
eine Leidenschaft aber, die für die wahre Aufklärung und Freiheit
des Geistes um so gefährlicher wird, je größer und mächtiger der
Dunkler selbst, sein Anhang im Volke, und je höher sein Amt und
seine Würde im State ist. Ja die Gefahr vergrößert sich noch mehr,
wenn die Beschränktheit des Dunklers nur einseitig, z. B. nur in
allgemein und rein vernünftigen oder in Dingen von höherer Einsicht
und Geistesfreiheit ist, so daß sie nicht leicht von der Menge
entdeckt wird; wenn er begabt ist mit einer allezeit fertigen,
wortreichen und erschütternden Rede, oder mit einem praktischen,
scharfsinnigen und gewandten Verstande und mit einer ausgebreiteten
Erfahrung und Geschäftskenntniß; wenn die Selbstsucht, der Ehrgeiz
und die Habsucht seine Sele beherrschen, und ihn über alle Schranken
der Vernunft hinaussetzen; oder er wirklich in Gefahr ist, von
Seiten der Aufklärung um Ansehen, Ehre und Macht zu kommen, und wenn
er sich in seinen geheimsten Schlupfwinkeln und verborgensten
Künsten von seinem Erbfeinde, dem Aufklärer, bedroht, belauscht und
entdeckt findet. ♦ |
|
|
Und entgehen ihm endlich auch die Mißgriffe der
Aufklärer und die nachtheiligen Folgen nicht, welche aus einer
voreiligen und unzeitigen oder oberflächlichen und ebenso
einseitigen Aufklärung für das allgemeine Wohl des Volkes, des Stats
und der Religion, ja selbst für die vom Aufklärer erstrebte Freiheit
und Klarheit des geistigen Lebens selbst erwachsen; dann wächst
nicht allein sein Muth und seine Standhaftigkeit, sondern hält er es
auch für eine heilige Pflicht, diesem falschen oder verblendenden
Lichte der Aufklärerei und Freigeisterei entgegenzuwirken, und
scheut er kein Opfer, kein Mittel, den verderb- |
|
S. 213 Sp. 1 |
OBSCURANT |
⇧ Inhalt |
|
lichen und bösen Geist des Gegners zu bekämpfen,
obgleich er selbst nicht weiß und begreift, daß er allenthalben nur
gegen Schatten und Gespenster ficht, die er ursprünglich selbst ins
Dasein gerufen, deren Grund und Quelle in ihm selber liegt; indem
sein eigener Geist der Finsterniß und Unfreiheit den Geist des
Lichts und der Freiheit zum Kampfe herausgefodert hat. |
|
|
Auf diese Weise entwickelt sich der großartigste,
aber nicht selten gefährlichste und unmittelbar oft verderblichste
aller heimlichen und öffentlichen Kämpfe zwischen Licht und
Finsterniß, Aufklärung und Verdunkelung. Gefährlich und verderblich
nämlich für Volk, Religion und Statswesen hauptsächlich deswegen,
weil er das Volksbewußtseyn oder die öffentliche Meinung selbst
zuerst in zwei Parteien spaltet, und man kann sagen, im Innersten
zerreißt, und darauf auch wieder das so entzweite Bewußtseyn zum
Richter des Streites aufruft; ein Richter aber, der selbst im
Streite betheiligt und befangen, und deshalb unfähig zu jeder
gerechten Entscheidung ist. ♦ |
|
|
Dahin aber muß es kommen, weil sich selbst der
Geist der Vernunft und des Lichts in diesem Kampfe mit dem der
Finsterniß und Unvernunft vermischt, und beide zuletzt auf gleicher
Stufe der Leidenschaft und Ausartung stehend, nur noch nach Gründen
und Ungründen, zur List und Falschheit greifen, um das Siegsfeld zu
gewinnen; mithin Tag in Nacht, Wahrheit in Falschheit verkehren, und
durch diese Verkehrung endlich in alle bestehenden Verhältnisse
Verwirrung und Auflösung bringen. ♦ |
|
|
So wenig noch jemals die eigentliche Sache des
geistigen Lichts oder der Wahrheit in solchem Kampfe gefördert
worden ist, weil die Kämpfenden selbst mit ungleichen Waffen
kämpfen, und auf die Länge stets die Beschränktheit, Dummheit und
Dunklerei den Sieg davontragen wird: ebenso wenig hat da ein Volks-
und Statswesen auf die Länge bestehen können, wo die Regirer selbst
mit in diesen Parteienkampf verflochten sind, nicht über demselben
stehend, von oben herab den Streit zu Gunsten der wahren Freiheit
und Aufgeklärtheit des Geistes beilegen, sondern von der
Leidenschaft hingerissen und geblendet, selbst Theilnehmer in
demselben sind, und wol gar noch auf einen Antheil an der Beute zur
Belohnung für die dem Sieger geleisteten guten Dienste Anspruch
machen. ♦ |
|
|
Dies ist im Allgemeinen der Entwickelungsgang des
Obscurantismus, er möge eine Form und Farbe annehmen, welche er
wolle. Um nun aber diese Dunkelei und Nebelei auch noch in ihren
besonderen, erfahrungsmäßigen und geschichtlichen Gestaltungen
kennen zu lernen, darf es nicht unzweckmäßig scheinen, nur die
geistige Welt, wie sie war und ist, hierüber reden und richten zu
lassen. |
|
|
Alle Arten des eigentlichen Obscurantismus haben
ihren Boden in dem natürlichen und sofern es zu jeder Zeit
beschränkte Selen gibt, auch nothwendigen, leidlichen und nicht
gefährlichen Obscurantenwesen, welches durch alle Völker und Zeiten,
durch alle Länder, Städte und Dörfer, durch alle Stände, Ämter und
Würden verbreitet und unvermeidlich ist. Obscuranten von einer
natürlichen Beschränktheit ihrer geistigen Vermögen und
Thätigkeiten, die, weil sie von den allgemeineren und höheren
Interessen eines Volks oder der ganzen Menschheit wenig oder gar
nicht berührt und bewegt werden, sich auf den engen Kreis ihres
eignen Selbst, ihres Geschäftes und ihrer Behausung zurückziehen,
sind nicht selten sehr brauchbare, meistentheils Gemüths-, oder
Gefühls- und |
|
S. 213 Sp. 2 |
OBSCURANT |
|
|
Glaubensmenschen, und sehr häufig von
phlegmatischem und melancholischem Temperamente. So lange sie nicht
von deftigen Affekten erschüttert oder von selbstsüchtigen
Leidenschaften getrieben werden, ist ihnen allen in der Regel eine
große Gutmüthigkeit und selbst Liebenswürdigkeit nicht abzusprechen.
♦ |
|
|
Von diesem Obscurantismus haben wir einen ebenso
natürlichen und nothwendigen, aber nicht blos vorübergehenden und
mehr oder weniger außerordentlichen zu unterscheiden, dessen Wesen
daher mehr nur eine bloße Erscheinung, oder selbst nur ein Schein
desselben genannt werden kann. Wir meinen nämlich jenen, wo
außerordentliche und große, also recht eigentlich licht- und
geistreiche Menschen oft unvermuthet aus dem gesellschaftlichen und
öffentlichen Leben gleichsam verschwinden, und sich in ihr selbst
zurückziehen, sey es auf Stunden, Tage oder Jahre, selbst auf ihr
ganzes Leben, weil in ihnen sich eine neue, viel höhere und reichere
als die bisherige Welt erschließen will, die aber, wie alles
wahrhaft Große in der Natur nur in der Stille und Verborgenheit zur
vollkommenen Reife und Gediegenheit gelangen kann, die, wenn sie ans
Licht tritt, wirklich heilsam und segensreich für Menschen und
Völker ist. Solche reichbegabten Selen und Geister sind es, die oft
recht eigentlich in der Stille mit dem Geiste der Geister ringen,
und das Licht aus sich selber gebären. Mystisch, d. h. dunkel und
tief sind solche Naturen jederzeit. |
|
|
Von diesem genialen Obscurantismus, der keiner
weitern Belege bedarf, weil die religiöse, politische, Kunst- und
Wissenschaftsgeschichte gerade an ihn am meisten erinnert, und nicht
selten bei ihm am liebsten verweilt, ist nun weiter gar sehr
derjenige zu unterscheiden, der der eigentliche und wahre, oder der
mehr künstliche genannt werden kann, und der sich jederzeit durch
eine vorsätzliche, bösartige und böswillige Trübung und Verdunkelung
der geistigen Klarheit und Freiheit auszeichnet. Wie der erste
natürliche mehr ein passiver ist, so kommt diesem eher das Prädikat
des aktiven zu; daher auch von jenem seine Gefahr für Stat und
Religion, Kunst und Wissenschaft zu besorgen ist, dieser dagegen für
alle gleich gefährlich und unheilbringend ist und werden muß, wenn
ihm nicht der Geist des Lichts und der Wahrheit mit Kraft und Würde
entgegen tritt und seinen Bestrebungen zeitig Schranken setzt. |
|
|
Dieser hiemit im Allgemeinen und vorläufig
bezeichnete thätige Obscurantismus hat sich von jeher bis auf heute
hauptsächlich auf den vier nachbenannten Gebieten des geistigen
Lebens geltend gemacht, und nach diesen eigenthümliche Gestalten
gegeben. Diese Gebiete aber sind das der Religion, des Stats, der
Wissenschaft und der Kunst, so daß hienach das Wesen des
eigentlichen Obscurantismus sich als religiöses, politisches,
wissenschaftliches und künstlerisches näher bezeichnen, und als
solches, der Geschichte und Wirklichkeit gemäß, im Folgenden durch
einige bestimmte Andeutungen darstellen läßt. |
|
|
Geht man nun in die Geschichte und Erfahrung, so
zeigt sich unter den angegebenen vier Arten des Obscurantismus
keiner allgemeiner, ausgebreiteter, und in jeder menschlichen
Beziehung erfolg- und einflußreicher als der religiöse. Daß aber ein
Volks- und Statswesen in die größte Gefahr gerathe, ja seinem
sichern Untergänge entgegengehe, wo er die Herrschaft erlangt, lehrt
die Geschichte und Erfahrung nicht |
|
S. 214 Sp. 1 |
OBSCURANT |
⇧ Inhalt |
|
minder, und wird auch hier noch aus seinen
näheren Bestimmungen begreiflich werden. Jede herrschende Religion
eines Volks ruht ursprünglich auf einer positiven Grundlage, d. h.
auf einer geschichtlichen Offenbarung des Wesentlichen dieser
Religion. Dieses Positive der Religion mit allen seinen inneren und
äußeren, wesentlichen und zufälligen Bestimmungen, kurz alle
Satzungen in Lehren, Sitten und Gebräuchen einer unmittelbar
geoffenbarten Religion sind aber gerade dasjenige, was alle Bekenner
derselben rein im Glauben festzuhalten, und gegen jede innere oder
äußere, theoretische oder praktische Veränderung und Umgestaltung zu
bewahren für heilige Pflicht halten. Es ist daher dem religiösen
Glauben ganz gemäß, wenn alle Bekenner desselben sich gegen jede
Neuerung in demselben als gegen eine Entstellung und Aufhebung
desselben auf alle Weise auflehnen. ♦ |
|
|
Da aber in jeder Religion die eigentlichen
Stellvertreter der Gottheit und ihre wirklichen und vermeintlichen
Organe die Geistlichen oder Priester sind; so geht alle
Aufrechthaltung des ursprünglichen Wesens dieser Religion zunächst
von ihnen aus. Insofern nun aber diese Aufrechthaltung wieder nur
darin besteht, daß alle weitere Aufklärung und Entwickelung des
wissenschaftlichen Geistes innerhalb dieser Religion schlechthin
ausgeschlossen, oder unterdrückt und verneint wird, so daß der
vernünftige Geist über sein eigenes religiöses Wesen, über seinen
Glauben und seine religiösen Werke durchaus zu keinem Bewußtseyn
oder zu keiner Aufklärung über sich selbst kommen soll: erscheint
selbige als ein offenbarer Obscurantismus. Hieraus aber ist schon
vorläufig zu folgern, daß jede positive Religion und orthodoxe
Glaubensgenossenschaft von Natur sich obscurant zeigen, d. h. ihrem
Wesen nach ein Feind aller Aufklärung und wissenschaftlichen
Einsicht des religiösen Volksgeistes seyn müsse. ♦ |
|
|
Damit stimmt nun in der That auch die Erfahrung
vollkommen überein; denn wir finden diesen religiösen Obscurantismus
namentlich in allen Priesterstaten, z. B. in Indien, Ägypten, im
Judenthum, von geringer Bedeutung im republikanischen Griechenland
und Rom; überhaupt mehr in monarchischen als republikanischen
Staten. Es hat indessen auch dieser allgemeine religiöse
Obskurantismus noch seine besondern Entwickelungsstufen und
Unterschiede, welche einer besondern Betrachtung nicht unwerth
scheinen mögen. |
|
|
Wir können nämlich zunächst auch den religiösen
Obskurantismus in seiner natürlichen, unschädlichen und gemüthlichen
Form in unzähligen Gliedern der gläubigen Gemeine einer positiven
Religion finden, die des weitern Lichts im Religiösen weder
bedürfen, noch es suchen, noch auch eigentlich hassen und verfolgen,
so lange sie, selbst unbekannt mit demselben, nicht durch Priester
dazu gereizt und aufgemuntert werden, und hienach eigentlich nur den
Eifer oder die Leidenschaft Andrer theilen. ♦ |
|
|
An diese rein gläubige fromme Form des
Obscurantismus schließt sich eine andere, schon mehr thätige an,
welche wir die pietistische oder frömmlerische nennen wollen. Der
frömmelnde Dunkler hat nicht blos die feste Überzeugung, daß alle
geoffenbarten Satzungen vollkommen wahr und gewiß, ja die höchste,
vollkommenste Wahrheit selbst, und ganz hinreichend sind zur
endlichen und unendlichen Beseligung und Heiligung des Menschen, zur
Erkenntniß Gottes, der Welt und des Menschen; sondern in diesem
seinem völlig abgeschlossenen und dem denkenden Wissen durchaus
unzugänglichen Glauben leugnet er |
|
S. 214 Sp. 2 |
OBSCURANT |
|
|
auch alle Möglichkeit, durch ein lichtvolles und
vernünftiges Denken über die Bestandstücke oder positiven Lehren der
Religion noch zu einer höheren und vollkommenern Erkenntniß zu
gelangen, ja er hält es für eine strafbare Vermessenheit und
Anmaßung der klügelnden Vernunft des Menschen, über das, was Gott
selbst in der Religion geoffenbart hat, noch weiter hinausgehen zu
wollen. ♦ |
|
|
Diese frömmlerische Dunklerei, wofür der
psychologische Grund gewöhnlich nicht schwer zu finden ist, indem er
sich nur zu bald als wirklich allgemeine oder besondere
Beschränktheit des Geistes, oder in vielen Fällen auch in einer
leiblichen Krankhaftigkeit offenbart, ist eben deshalb nicht nur an
sich ein natürlicher Feind aller wissenschaftlichen Aufklärung und
vollkommen geistigen Ausbildung, sondern sucht diese ihre
Überzeugung von den Dingen des Glaubens und Wissens auch ebenso auf
andere Gleichgesinnte überzutragen, und für sie besonders im Volke
die Schwachgeistigen zu gewinnen. Alles dieses aber geschieht
jedoch, ihrer natürlichen Schwäche sich wohl bewußt, und aus Scheu
vor der Öffentlichkeit, wenigstens anfangs mehr noch im Stillen und
Geheimen; bald aber auch öffentlich hervortretend durch eine
auffallende Bekehrungssucht oder Missionseifer in Wort und
Schriften, wie in der neuesten Zeit durch die bekannten
Erbauungsschriften, Traktätchen genannt, oder durch erbauliche
Zusammenkünfte, die sogenannten Konventikel, durch allgemeine
Brüdervereine u. dergl. ♦ |
|
|
Daß der frömmlerische Obscurantismus aber nicht
immer bei diesen, im Grunde noch nicht durchaus verwerflichen oder
schon statsgefährlichen öffentlichen Äußerungen stehen bleibt und
bleiben kann, sondern in seiner Überzeugung, daß Rechte und Wahre
allein ergriffen zu haben und um jedes Opfer vertheidigen zu müssen,
und gegenüber einer einseitigen Aufklärungspartei, zu einem, die
Schranken des Glaubens selbst übersteigenden religiösen Eifer, und
leidenschaftlichen, ja schwärmerischen Widerspruch und Bekämpfung
aller Andersgesinnten übergeht, lehrt die Erfahrung aller Zeiten,
besonders aber der neuesten. In seiner beschränkten Meinung nur für
ein Höheres zu kämpfen, merkt er selbst nicht, daß die im
Hintergrunde seiner Bethätigungen sich regende Selbst- und
Parteisucht die Triebfeder vieler seiner nicht blos unüberlegten,
sondern wirklich dummdreisten öffentlichen Schritte sey, und daß er
durch sie schon die Neigung verrathe, im Geiste des Jesuitismus,
sich aller Mittel zu bedienen, welche ihn zum Zwecke führen können.
♦ |
|
|
Daß seine Erleuchtung, deren er sich vom heiligen
Geiste rühmt, nicht, wenigstens nicht immer die des Geistes der
Wahrheit, Reinheit und wissenschaftlichen Klarheit sey, begreift man
dann erst recht, wenn man die Beweggründe näher kennen lernt, welche
die meisten in die Arme der Kirche treiben; oder die unzähligen
Beispiele von Scheinheiligkeit, Heuchelei und leidenschaftlicher
Sündhaftigkeit; oder die Schwäche und Verschlossenheit ihres Geistes
in Vertheidigung ihrer eigenen und Widerlegung aller andern
Ansichten, überhaupt ihr Nichtwissen und Nichtwissenwollen von aller
allgemeinen und reinen Vernunfterkenntniß und ihre, oft im hohen
Grade langweilende Geschwätzigkeit, Ungründlichkeit und
Unwissenschaftlichkeit in Betracht nimmt. |
|
|
Wie gefährlich nun auch immer der frömmlerische
Obscurantismus seyn möge, so übertrifft ihn doch, wie die Erfahrung
bezeugt, noch um Vieles der eigentlich hierarchische, an den sich
auf der einen Seite der mönchische, und auf der andern der
jesuitische anschließt. Denn die |
|
S. 215 Sp. 1 |
OBSCURANT |
⇧ Inhalt |
|
Geschichte lehrt, daß wo er herrscht, sein Wesen
gleichsam wie eine ewige Nacht über ganzen Völkern und Skaten der
Erde ruht, und jeden Strahl des himmlischen Lichts schon in seinem
Werden auffängt. Wie nun einerseits einzuräumen ist, daß, wenn
einmal der absolute Bruch des menschlichen Bewußtseyns und Lebens in
geistliches oder göttliches und in weltliches oder ungöttliches
geschehen ist, dem ersteren der Vorrang und die höhere Stufe
zukomme, und daß der Geistliche dieses sein höheres Bewußtseyn auch
im Weltlichen geltend machen könne und müsse: so tritt er
andererseits dadurch auch wieder mit sich selbst und allem wahrhaft
vernünftigen und allgemein göttlichen Bewußtseyn in Widerspruch, daß
er unter dem religiösen Scheine, die geschehene Entzweiung in
Geistliches und Weltliches aufzuheben, und beides in einander zu
bilden, doch in Wahrheit den Unterschied beider entweder nur noch
mehr zu befestigen, oder das letztere ganz zum Seinen zu machen
trachtet. ♦ |
|
|
Ebenso liegt aber auch darin ein Widerspruch, daß
er im Besitz der Wahrheit einer höheren Offenbarung und einer
überirdischen Macht, beides, so wie auch die höhere Würde, welche
sie verleihen, entweder ganz nur für sich behalten, oder doch nur
den äußeren Schein, d. h. nur so viel vom Wesen derselben mittheilen
will, als er ohne Abbruch seiner selbst thun zu können glaubt. Nicht
die Uberzeugung also, daß man nicht Allen Alles und zu jederzeit
mittheilen dürfe was man selbst sey und besitze, weil dies eher
schade als fromme, sondern der Grundsatz, daß man es niemals thun
dürfe, weil man dadurch sein Selbst vergebe und am Ansehen verliere;
mithin eine reine Selbstliebe, Ehrsucht und Habsucht sind die
Beweggründe, warum der sogenannte Laie oder der Weltliche nicht
aufgeklärt, sein Geist für immer in Dunkelheit, Beschränktheit und
Dummheit erhalten werden soll; sind ferner die Beweggründe, weshalb
er jede, wider sein Wissen und Willen verbreitete Aufklärung oder
vernünftige Entwickelung des Geistes, nicht blos darum, weil sie zur
Unzeit nachtheilig ist, sondern überhaupt schon als solche, und weil
sie vielleicht seinen religiösen Satzungen widerstreiten und sein
Ansehen vermindern könnte, unterdrückt, verfolgt und bestraft.
♦ |
|
|
Wer anders, als der Geist dieses geistlichen
Obscurantismus hat in Indien und Ägypten durch die Unterscheidung
des Volks in feste Stände die Mehrzahl der Menschheit von aller
geistigen Bildung und vernünftigen Aufklärung ausgeschlossen; wer
anders als dieser Geist hat auch im papistischen Christenthum den
Unterschied von Klerus, den Auserwählten Gottes, und Laien, dem
fleischlich gesinnten und unwissenden Haufen festgestellt? Und
obgleich wir sehr wohl wissen, daß das Mönchthum und sein
Obscurantismus eines geistigeren Ursprungs sind, so hat ersteres
doch jederzeit und besonders im Papstthume zum dienenden Organe des
geistlichen Obscurantismus werden müssen. ♦ |
|
|
Die furchtbarste, verderblichste und
gefährlichste unter allen Ausgeburten des geistlichen Obscurantismus
aber ist, nach den Zeugnissen der Geschichte aller christlichen
Völker, der Jesuitismus. Was es von Arten, Künsten, Mitteln und
Wegen der Dunklerei nur immer gibt, vereinigt er allein in sich.
Dadurch aber hat er sich auch Ansehn und Besitzthümer zu erwerben
gewußt, wie kein anderer, so daß er zuletzt selbst seinem Erzeuger
zu gefährlich geworden ist. Aber warnend und tröstend zugleich hält
uns die Geschichte die Lehre entgegen, daß sich noch jederzeit der
Obscurantis- |
|
S. 215 Sp. 2 |
OBSCURANT |
|
|
mus, durch sich selbst gestürzt, und dem Geist
des Lichts das Feld geräumt habe. Wie in dem alten Indien der
Brahmaismus den freieren Buddhaismus aus sich erzeugte, wie das
altägyptische Priesterthum dem geistigeren Griechenthume, der
Pharisäismus dem Christenthume weichen mußte: so ist auch dem
dunklerischen Papstthume der freiere und lichtvollere Geist des
Protestantenthums entgegengetreten, und wird ferner auch der Geist
des Lichts über alle Umtriebe geistlicher und jesuitischer Dunklerei
den Sieg behalten. |
|
|
Ein anderer, zwar minder wichtiger und
gefährlicher, aber doch ebenso allgemein herrschender Obscurantismus
ist der politische. Jeder Stat, wie jede Religion, ist nur dadurch
ein wirklicher Stat, daß seine Einheit und Ganzheit theils auf
gewissen, aus der Natur des Menschen und des Volks hervorgegangenen
Grundbestimmungen oder Rechten und Gesetzen ruht, theils an einen
bestimmten irdischen Grund und Boden gebunden ist, und selbigen zu
seinem Besitz gemacht hat. Wie nun Besitzthum und Rechte unter die
einzelnen Statstheilnehmer vertheilt sind, hängt hauptsächlich vom
Wesen des Volks ab, welches sich an einem Orte bürgerlich
niedergelassen hat, aber auch von mancherlei äußern Bedingungen z.
B. Krieg und Eroberung. ♦ |
|
|
Sobald nun aber der Stat erst als solcher
besteht, ist es nicht weniger Pflicht für das Statsganze, als für
jeden Theil desselben, alle ursprünglichen Sitten und Gewohnheiten,
Rechte und Gesetze, Besitz- und Würdevertheilungen den jedesmaligen
Zeitumständen gemäß aufrecht zu erhalten. Dies ist nun aber gerade
dasjenige, worauf sich der politische Obscurantismus stützt. Es ist
indessen auch an ihm wieder noch die natürliche, oder aus einer
gewissen Geistesbeschränktheit entspringende von der mehr
künstlichen oder erzwungenen und vorsätzlichen Seite zu
unterscheiden; die erstere kann man schlechthin den altväterischen
Obscurantismus nennen. — ♦ |
|
|
Jedes in sich geschlossene Volks-und Statswesen
hat in sich den Trieb, das was es an sich ist, seine innern Anlagen
und Fähigkeiten, auch äußerlich zu verwirklichen, sich in Zeit und
Raum zu entwickeln, von Stufe zu Stufe auf der Linie statlicher
Verfassung und Begründung zu erheben, kurz nie stille zu stehen,
sondern stets in der Entwickelung fortzuschreiten. Nun aber kann es
sich wol treffen, und trifft sich wirklich, weil es im Wesen des
Menschen und des Volks ebenso begründet ist, daß es einen großen
Theil der Statsglieder gibt, welcher aus einer natürlichen
Beschränktheit des Geistes den Trieb und das Bedürfniß
fortzuschreiten, und sich über das Alte zu Neuem und Besserem zu
erheben, in geringem Grade in sich tragt, vielleicht gar nicht
kennt, und sich durch das Alte und Bestehende vollkommen befriedigt
findet. Hegen sie nun zwar auch im ruhigen Besitz ihrer Rechte und
Habe jederzeit einen gewissen Widerwillen gegen alles Neue, und
dagegen einen entschiedenen Hang zum Alten und Hergebrachten, so
sind sie doch keine eigentlichen Feinde und Gegner des Neuen, ja sie
lassen sich sogar manche Neuerung gefallen, sobald sie nur nicht
gerade zu viel aus ihrem altväterischen Gleise herausgebracht
werden. Eine ganz andere Gestalt des politischen Obfturantismus aber
geht aus ihm hervor, wenn es gilt, bestimmte Rechte, Sitten und
Gewohnheiten dem Statsganzen zum Opfer zu bringen. |
|
|
AuS dem altväterischen erzeugt sich also erst der
eigentlich politische Obscurantismus, welcher auch wol der
aristokratische genannt werden kann; denn gerade die |
|
S. 216 Sp. 1 |
OBSCURANT |
⇧ Inhalt |
|
Aristokraten sind es, welche die Lehre „daß die
Zeit der größte Neuerer sey", am wenigsten begreifen wollen. Weil
sie nämlich zu der geringeren Anzahl von Statsbürgern gehören,
welche bei der Gründung eines Volks- und Statswesens durch Verdienst
und Auszeichnung gewisse Vorrechte und irdische Besitzthümer
erworben, hiedurch aber nicht selten auch störende Misverhältnisse
und zweckwidrige Unterschiede in ein lebendiges Volks- und
Statswesen gebracht haben, die der sich immer freier und seinem
Wesen angemessener entwickelnde Statsgeist im Laufe der Zeit
aufzuheben und möglichst auszugleichen strebt und streben muß: so
sind sie es besonders, die von der Zeit selbst immer am meisten
bedroht sind und gefährdet werden. ♦ |
|
|
Daher es auch wol natürlich und begreiflich ist,
warum gerade diese Bevorrechteten nicht nur am meisten an dem
Altväterischen hangen, sondern auch ihre Abneigung gegen jede
Neuerung, sobald ihre Rechte, Würden und Besitzthümer unmittelbar
oder mittelbar durch Einräumung gleicher Rechte, Würden etc. an
Andere nicht ihres Standes beeinträchtigt und irgendwie geschmälert
werden, in wirklichen Haß gegen jedes Neue, und in heimliche und
öffentliche Bekämpfung und Hintertreibung aller Neuerung und
Volksaufklärung übergehen lassen. Es offenbart sich also in diesem
Obscurantismus, der äußerlich noch mancherlei andere Gestaltungen
und Unterschiede zuläßt, im Allgemeinen nicht weniger die
Selbstsucht, Ehrsucht und Habsucht, als bei dem hierarchischen.
♦ |
|
|
Daher ihre Verbindung gar nichts Neues in der
Geschichte, ja es ebenso natürlich ist, daß sie jeden Schritt, den
der Volks- und Statsgeist sowol zur vollkommenen
Selbstverständigung, als auch zur vollständigen Ausgleichung aller{2}
seiner Beweggründe, Rechte und Kräfte, und zur endlichen
Vollbringung seines absoluten Statszwecks thut, als den Anfang einer
Statsumwälzung betrachten, verschreien, bekämpfen und vor dem großen
Haufen der natürlichen politischen Obscuranten darzustellen sich
bemühen. ♦ |
{2} ergänzt aus: ler |
|
Daß hiezu ein ebenso leidenschaftlich getriebener
und unbesonnener Volksgeist auch gegründete Veranlassung geben kann,
soll hiemit gar nicht geleugnet werden; ja es ist vielmehr recht
eigentlich auf die Gefahr für das Statswesen hinzuweisen, wo der
gebundene Geist des Alten und der ungebundene Geist des Neuen, beide
aus Mangel wahrer, zeit- und vernunftgemäßer Aufklärung, gegen
einander feindlich in die Schranken treten, und im Kampfe selbst
nicht zu einer gegenseitigen Anerkennung, Berechtigung und
Befriedigung gelangen. |
|
|
Die Geschichte aller Zeiten und Völker liefert
zahlreiche und belehrende Belege zu dem Gesagten. Der feste
Ständeunterschied in den großen Staten des Alterthums namentlich
Indiens und Ägyptens war nicht nur eine unmittelbare Folge des sehr
frühen Obscurantismus, sondern muß denselben auch fortwährend
lebendig erhalten. Einen, in Beziehung auf die Würde des Menschen
niederschlagenden Beleg bietet das im Alterthume und noch bis heute
sogar unter christlichen Völkern geduldete Verhältniß von Freien und
Sklaven dar; in Wahrheit ein Obscurantismus der niedrigsten Art.
Kaum wird es die Nachwelt glauben, daß noch im Jahre 1830 der
christlichen Zeit ein christliches Volk, nämlich der Bundesstat
Georgien in Nordamerika, ein Gesetz hat geben können, welches
verbietet, bei Geld-, Körper-oder Gefängnißstrafe den Sklaven |
|
S. 216 Sp. 2 |
OBSCURANT |
|
|
lesen und schreiben zu lehren. Jene Sklavenkriege
zu Sparta und Rom waren merkwürdige, aber im Allgemeinen fruchtlose
Versuche des Sklavengeistes, sich durch Gewalt vom Geiste der Freien
die Freiheit zu erzwingen, eine Freiheit, die ihm erst das
Christenthum verliehen hat. Erinnert darf hier nur werden an den
aristokratischen Obscurantismus in den alten Republiken, namentlich
an den Kampf der Patricier und Plebejer in Rom; ebenso an den der
italienischen Freistaten, ja Frankreichs, Englands und selbst der
teutschen Reichsstädte im Mittelalter und darüber hinaus. |
|
|
Eine dritte Art des Obscurantismus ist der
wissenschaftliche. Ist derselbe gleich weniger gefährlich für das
allgemeine und öffentliche Wohl eines Stats- und Volkswesens, indem
die Erfahrung zeigt, daß letzteres sehr wohl auch bei einer gewissen
Mittelstufe wissenschaftlicher Bildung und Aufklärung und bei aller
widervilligen Fernhaltung von den höchsten Stufen derselben bestehen
kann: so wird doch auch ein solches für die Dauer und besonders wenn
der denkende Geist sich zunächst im Einzelnen über die
unbefriedigenden Anfangs- oder Mittelstufen seiner
wissenschaftlichen Bildung erhebt, nicht frei von manchen
krampfartigen Zuckungen in seinem Innern bleiben. ♦ |
|
|
Im Allgemeinen also offenbart sich dieser
Obscurantismus als ein natürlicher Widerwille gegen alles klare,
reine und bestimmte wissenschaftliche Denken, überhaupt gegen alles,
was schon den Namen Wissenschaft trägt, insofern ihm von dieser
zugemuthet wird, sich über das Helldunkel des allgemeinen
Volksbewußtseyns zu einem klaren Wissen und verständigen Denken zu
erheben. Da ihm hiezu aber theils die natürliche Fähigkeit und
Kraft, theils auch die höhere wissenschaftliche Geistesbildung
fehlt: so sehen und hören wir nicht selten diesen Obscurantismus,
den man daher sehr wohl auch den unwissenschaftlichen nennen kann,
sich in mancherlei Spöttereien, Witzeleien, Schmähreden und andere
Anfeindungen besonders gegen alles Gelehrten- und Schriftwesen
auslassen. |
|
|
So gewöhnlich nun dieser Obscurantismus in der
Erfahrung ist, und auch wol manche schädliche Vorurtheile verbreitet
und geflissentlich unterhält: so wenig wirkt er doch nachtheilig auf
ein ganzes Volk, besonders wenn dieses sich im Allgemeinen des
Nutzens der Wissenschaften fürs Leben bewußt ist, und ihre Früchte
in der Anwendung derselben genießt. Es gibt aber noch eine andere
Art von wissenschaftlichem Obscurantismus, der gerade von der Seite
ausgeht, gegen die der vorige im Ganzen gerichtet ist, nämlich von
dem Gelehrtenwesen im eigentlichen und engeren Sinne, d. h. von
solchen, die mittelst einer mehr äußeren und formellen
Verstandesbildung bis zu einem gewissen Grade von wissenschaftlichem
Denken und Schaffen gelangt sind; aber bis zur Stufe wahrer
Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit, d. h. bis zur rein
vernünftigen oder philosophischen Beschaffung der Wissenschaften
sich doch nicht erheben können. ♦ |
|
|
Dieses ihr Vermögen und Unvermögen offenbart sich
einerseits in einem gänzlichen Hingeben theils an das Gebiet der
unbegrenzten Erfahrungswissenschaft, theils an das des historisch
Positiven und Gegebenen, auf welchen beiden es denn auch einen
weiten Spielraum findet für unzähliche Beobachtungen, Bemerkungen,
Unter- |
|
S. 217 Sp. 1 |
OBSCURANT |
⇧ Inhalt |
|
suchungen, Zerlegungen und Samlungen;
andererseits aber auch entweder in einem verständig kritischen, oder
skeptischen oder auch gar in einem unbedingt negativen Verhalten
gegen alle freie und philosophische Einigung und Verbindung des
Allgemeinen und Wesentlichen nach reinen Vernunftideen oder
Gedanken, überhaupt gegen jeden Versuch, das Sinnliche aufs
Übersinnliche, das Empirische aufs Spekulative oder Vernünftige, das
Reale aufs Ideale etc. zurückzuführen, oder beide unter eine höhere
Einheit zusammenzufassen. ♦ |
|
|
Wir stoßen daher hier auf die merkwürdige
Erscheinung, wo ein empirisch reflektirender und volksmäßig
philosophirender Verstand in seiner mehr äußeren Klarheit und
Denkfertigkeit auf der einen Seite sich als der größte Gegner alles
bisherigen Obscurantismus beweist, und in seinem Eifer für
Geistesfreiheit und Klarheit bis zur Aufklärerei oder zum
Illuminatismus fortgeht; auf der andern Seite doch wieder als ein
Obscurant erscheinen kann, und in Beziehung auf wahre Wissenschaft
und eine Aufklärung, welche von dieser ausgeht, dafür gehalten
werden muß. ♦ |
|
|
Mit einem eigenen Namen würde dieser
Obskurantismus der philosophische zu nennen sein. Die Geschichte und
Erfahrung ist auch für ihn gar nicht karg an Belegen aus allen
Zeiten und Völkern, wo die Wissenschaften sich bis zur höchsten
Stufe ihrer selbst, d. h. bis zur Philosophie erhoben haben.
♦ |
|
|
Die Geschichte der griechischen Philosophie
allein liefert eine Reihe von Charaktergemälden dieses
unphilosophischen und philosophischen Obskurantismus. Pythagoras und
sein Schülerbund ging unter den Verfolgungen des unphilosophischen
Obscurantismus zu Grunde; Herakleitos und Demokritos ertrugen wie
Weise seine Schmähungen und Verspottungen; Sokrates unterlag der
philosophischen Dunklerei der Sophisten und Afterweisen seiner Zeit,
Anaxagoras, Platon und Aristoteles mußten dieser dunklerischen
Vernünftelei und Volksrednerei weichen. ♦ |
|
|
Auch die Geschichte der christlichen Philosophie
ersterer, mittlerer und letzter Zeit ist in Wahrheit nicht arm an
Ereignissen, die denen der griechische» zu Seitenstücken dienen
können. Und wie nicht selten auch anderswo die Extreme sich stets
einander suchen, berühren und selbst die Kette des Lichts und der
Finsterniß schließen: so stimmt auch dieser philosophische
Obscurantismus vollkommen mit dem hierarchischen und papistischen
überein, indem letzterer nicht allein mehr als ein Jahrtausend lang
Philosophen verfolgt und selbst bis zum Scheiterhaufen geführt hat,
sondern auch noch heute in der verderblichen Philosophie den Grund
zur Entzweiung der allgemeinen Kirche in eine alte und neue
sieht. |
|
|
Der obigen Angabe zufolge haben wir endlich auch
noch den künstlerischen Obscurantismus mit Wenigem näher zu
bezeichnen. Daß ein solcher wirklich statt findet und zu allen
Zeiten, und da, wo eine Kunst geblüht hat, stattgefunden habe, wird
Keiner leugnen, der mit irgend einer der schönen Künste näher
bekannt, oder auch nur mit der Geschichte derselben vertraut ist.
Die obige allgemeine Annahme, daß auch diese Dunklerei auf einer
geistigen Beschränktheit der Seele, und zunächst des Kunstsinnes
oder Kunstgeistes beruhe, dürfte sich auch bei ihr bestätigt finden,
sobald wir nur einen tiefern Blick auf den Grund derselben thun
wollen. ♦ |
|
|
Im Allgemeinen tritt dieser Obskurantismus als
ein Festhalten an Formen und Gestalten einer früheren Stufe der
Kunstentwickelung, oder auch als Zurückstreben aus der Gegenwart zu
den |
|
S. 217 Sp. 2 |
OBSCURANT |
|
|
Kunstformen der Vergangenheit auf, indem er
zugleich sich gegen jeden Fortschritt in derselben, d. h. gegen den
Übergang des Kunstgeistes von einer niedern und ihm nicht mehr
angemessenen Entwickelungsstufe zu einer höhern, überhaupt zu
entwickelteren, freieren und geistigeren Formen in der Kunst
auflehnt. Es liegt nämlich nicht minder im Wesen der Kunst, wie in
der Wissenschaft und andern Natur- und Kunsterzeugnissen, daß sie
da, wo sie zum Daseyn kommt, dieses ihr Daseyn selbst nur in
gewissen Entwickelungsepochen vollkommen erreicht. ♦ |
|
|
Es ist nun aber in dem Vermögen des Kunstgeistes
selbst begründet, und die Erfahrung bestätigt es, daß auf der ersten
Stufe der Kunstbildung die plastischen Formen der Kunst im
Allgemeinen von der rein geistigen Idee des Künstlers noch nicht
vollkommen durchdrungen, also noch nicht ihr vollkommenster Ausdruck
sind. Es offenbart sich diese Unvollkommenheit besonders in einer
gewissen Steifheit, Eckigkeit, Rauhheit, Gezwungenheit,
Unnatürlichkcit und Vermischung der Kunstgestalten selbst. Solche
unmittelbare Kunstbildungen können recht eigentlich Erzeugnisse des
allgemeinen oder volklichen Kunstsinnes und Geistes genannt werden;
dagegen die späterhin folgenden mehr Bildungen von einzelnen
Kunstgeistern und für einzelne Kunstkenner hervorgebracht und da
sind. ♦ |
|
|
Der allgemeine Schönheitssinn eines Volksgeistes
ist aber durch jene ersteren Bildungen schon vollkommen befriedigt,
darin erkennt er sich selbst und die höheren Ideen, die ihn beleben.
Im Anschauen dieser Gestalten hat er seine Andacht. Wie diese
Erstlinge der Kunst auch beschaffen seyn mögen, sie sind ihm
jederzeit lieb und heilig. Eine, selbst die geringste Veränderung
daran stört aber seine Andacht, er faßt deren innern Sinn und
Bedeutung nicht; seine Götter erscheinen ihm fremd. Am wenigsten
vermag er den viel reicheren und geistigeren Gehalt eines Kunstwerks
zu fassen, zu dem der sich selbst in der Kunst entwickelnde und
fortbildende Kunstgeist fortgeht, und darin erst das eigentliche und
wahrhafte Ideal des Kunstschönen erzeugt. ♦ |
|
|
Es ist daher nothwendig, daß der ganze Kunstgeist
eines Volkes auf diese Weise mit sich selbst in Widerspruch und
Kampf geräth über das Alte und Neue seiner Produktion, und ebenso
natürlich, daß die Mehrzahl auf Seiten des ersteren steht. Der sich
dem Neuen widersetzende und selbiges bestreitende ältere Kunstgeist
offenbart sich aber so als Obscurant, d. h. als ein solcher, welcher
sich nicht mehr zu der vollkommen freien Erfassung, Erkennung und
Beurtheilung des wirklich und wahrhaft oder vollkommen erschienenen
Kunstschönen erheben kann. Welche Kämpfe daher die wahren Künstler,
wie die wahren Wissenschafter, mit dem ungebildeten oder
halbgebildeten Volksgeiste zu bestehen, und welche Vorsicht sie in
der Vollbringung des Neuen stets nöthig gehabt haben, lehrt die
Geschichte und heutige Erfahrung zur Genüge. ♦ |
|
|
Die meisten Hindernisse und Beschränkungen aber
hat der freie Kunstgeist jederzeit an dem positiven Religionsglauben
gefunden, wie die Darstellungen und Abbildungen aller Völker
beweisen, am meisten aber der Naturvölker im Alterthume. In Ägypten,
Indien und Vorderasien, wie unter den ältern Amerikanern und
heutigen mongolischen Völkerschaften, ja selbst zum Theil noch im
freien Griechenland und Rom waren die Künstler auf dem Gebiete der
Religion an die Formen der ersten und unmittelbaren Kunstepoche
gebunden, und der religiös künstlerische Obscurantismus hienach eine
unwiderstehliche und unüberwindliche Macht. |
(Mussmann.) |
|
|
⇧ Inhalt |