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Hiernach läßt sich nun zugleich verstehen, in
welchem Sinne in der Ethik die Freiheit des Willens verstanden wird.
Der wissenschaftliche Sprachgebrauch der Moralphilosophie braucht
das Wort Freiheit in einem dreifachen Sinne 37):♦ |
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1) heißt Freiheit im weitesten Sinne die
Möglichkeit, sich bei Veränderungen seines Zustandes überhaupt der
Bestimmungsgründe bewußt zu werden, d. h. sich bewußt zu werden, daß
man sich nach Gründen bestimme. In diesem Sinne hält der Mensch das
Thier nicht für frei, dem die Sprachfähigkeit und die eigentliche
Denkkraft überhaupt mangeln, das sich also keine Gründe denken kann.
In diesem Sinne des Wortes Freiheit ist Freiheit und Wille des Ichs
gleichbedeutend. In diesem Sinne erscheint zuweilen der böse Mensch
mehr frei, als der, welcher nicht gesetzwidrig lebt, aber sich wie
das Thier doch nur von Eindrücken des Augenblicks oder der
Gewohnheit, der gedankenlosen Nachahmung des Beispiels Anderer,
bestimmen läßt;♦ |
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2) heißt
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- 37) Clodius, Grundriß der allgem.
Religionslehre S. 163 fg.
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FREIHEIT |
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Freiheit im engern Sinne die Fähigkeit, sich bei
Veränderungen unsers Zustandes, des unbedingt sittlich nothwendigen
Grundes bewußt zu werden, als eines solchen, der uns eigentlich Alle
bestimmen sollte. In diesem Sinne ist Freiheit Unbestimmtheit des
Willens und mögliche Wahl zwischen unbedingt nothwendigen und
bedingten beschränkten Bestimmungsgründen. In diesem Sinne ist
Freiheit und sich entwickelnde moralische Vernunft und Gewissen
gleichbedeutend. In diesem Sinne ist der Mensch frei, sobald sich
das Gewissen in ihm entwickelt. In diesem Sinne ist der sogenannte
gute und böse Mensch gleich frei, d.h. Jeder vernimmt in sich den
Imperativ der Pflicht, vernimmt immerwährend die Anfoderung, sich
durch den unbedingt nothwendigen Grund zu einem gesetzlichen Wandel
bestimmen zu lassen. Diese Anfoderung ergeht als Ermahnung, sich zu
bekehren, auch an den Bösewicht und Irreligiösen jeder Art, und
dieser beweist nur, daß man sich Gottes auch nicht bewußt werden
kann, so oft auch dazu die Auffoderung geschieht. Daher ist man
auch, vermöge dieser Freiheit, bei allen wahren Handlungen der
Imputation fähig und richtet nothwendig sich selbst.♦ |
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3) Freiheit im engsten Sinne heißt die Richtung
des empirischen Ichs, welche dasselbe durch den unbedingt
nothwendigen Grund im Ursein erhält, dessen es sich unmittelbar
bewußt wird. In diesem Sinne handelt nur der wahrhaft gute Mensch
frei, der in seinem eigenen religiösen Bewußtsein seinen Willen mit
dem Willen Gottes identificirt; wogegen der böse Mensch, der sich
von seinen niedern Trieben oder Leidenschaften beherrschen läßt, in
diesem Sinne nicht frei ist. |
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Dabei versteht sich von selbst, daß diese
Freiheit des Willens dem Menschen nicht als etwas schon Fertiges und
ihrer Vollendung oder Vollkommenheit, sondern, wie auch alles übrige
Geistige im Leben, z. B. Sprache, Denkkraft, Gedächtniß u. dgl. m.,
nur als Anlage, mithin der weitern Ausbildung fähig und bedürftig
gegeben ist, wie denn ebenfalls die psychische Anthropologie lehrt,
daß der Wille an eine bestimmte Stufenfolge seiner Entwickelung
gebunden ist, die man durch die Perioden der Sinnlichkeit, der
Gewohnheit, der Verständigkeit und Vernünftigkeit zu bezeichnen
pflegt 38), und bei welcher, wie die Erfahrung lehrt, auch ein
Zurücksinken des Willens von der hohem Stufe auf eine niedrige in
jedem Moment des irdischen Lebens möglich ist, was ebenfalls als
Folge und zugleich als Beweis der menschlichen Freiheit angesehen
werden kann. Auf der Möglichkeit, diese Fähigkeit der freien
Selbstbestimmung durch Cultur des Geistes und Herzens zu steigern,
den Menschen von der Gewalt der
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- 38) Über die Entwickelung des Willens von der
frühesten Zeit an vergl. Burdach, Physiologie III, 678. 683; ferner
in der eigentlichen Kindheit S. 203. 266; über die
Geschlechtsverschiedenheit in Hinsicht des Willens l, 247. Diese
Stufenfolge haben besonders berücksichtigt Weiß, Untersuchung über
die Seele S. 341 fg. Fries, Psych. Anthropol. I, 229; Ethik S. 27
fg.; vergl. auch de Wette, Christliche Sittenlehre. 1. Th. Carus,
Vorlesungen über Psychologie S. 165 fg. Scheidler, Psychologie S.
477.
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FREIHEIT |
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sinnlichen Begierden und Leidenschaften immer
unabhängiger zu machen, überhaupt Ordnung und Einheit in die
Willensbestrebungen zu bringen und so dem ganzen Leben ein
eigenthümliches Gepräge, mit Einem Worte einen Charakter als die
unabänderlich nach einmal gefaßten Maximen handelnde Willenskraft zu
bilden — beruht die Möglichkeit und der Werth aller Ethik oder
Tugendlehre. |
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Auch streitet mit der Überzeugung, daß die
zureichende Ursache unsrer Entschließungen nur in unserm Willen oder
unsrer Selbstbestimmung liegt, keineswegs die Annahme, daß auf die
Entschließungen, die Jemand faßt, die gegebenen äußern Umstände, die
früheren Ereignisse seines Lebens, die gesammte Bildung seiner
Kräfte, und namentlich das Bewußtsein seiner durch Erfahrung schon
erprobten Macht oder Schwäche, seiner Willenskraft Einfluß haben.
Allein dieser Einfluß wird nicht wie derjenige gedacht, den wir in
Ansehung des Verhältnisses einer Naturursache zu der ihr
zugeschriebenen Wirkung annehmen; er beschränkt sich immer nur auf
eine Veranlassung oder einen Anreiz, für unsern Willen sich so oder
anders zu bestimmen, diesen oder jenen Entschluß zu fassen, ohne daß
jedoch diese Anregung die Freiheit des Entschlusses selbst
aufhebt. |
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Hiermit ist zugleich angedeutet, daß und in
wiefern die Freiheit des Willens die Grundvoraussetzung den
eigentlichen Anlaß gegeben hat, sowie der Anlaß und Mittelpunkt der
gesammten praktischen Philosophie als der Wissenschaft von der
richtigen Lebensansicht, dem wahren Zwecke oder der eigentlichen
Bestimmung des Menschenlebens ist, sowie zugleich aber auch die
Voraussetzung für alle positiven praktischen, oder auf das wirkliche
Menschenleben sich beziehenden Disciplinen der Rechts- und
Staatswissenschaft, der Religions- und Erziehungslehre, mit einem
Worte des gesammten höhern Menschenlebens oder aller Civilisation
und Cultur. —♦ |
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Fragt man nach dem ersten oder eigentlichen Anlaß
der Entstehung aller praktischen Philosophie, so ist derselbe in der
Wahrnehmung zu suchen, daß das meiste Übel und Elend im
Menschenleben das Product des Willens des Menschen selber, Folge
seines verkehrten Willens und Handelns ist 39). An diese
Wahrnehmung schließt sich sofort der Wunsch, dieses vom Menschen
ausgehende Übel durch eine mittels der Belehrung über die wahren
Zwecke des Menschenlebens bewirkte Besserung des Willens zu
vermindern, wie denn auch die älteste sogenannte Weisheit oder
Philosophie in solchen Bestrebungen bestand 40), welche natürlich
ganz verkehrt würden erschienen sein, wenn ihnen nicht die
Voraussetzung der menschlichen Freiheit zu Grunde gelegen hätte.
Ebendarauf beruht die allgemein in der ganzen Mensch-
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- 39) „Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der
Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual."
Schiller.
- 40) „Fuit haec
sapientia quondam,
Publica privatis secernere, sacra profanis,
Concubitu prohibere vago, dare jura maritis,
Oppida moliri, leges
incidere ligno."
Horaz.
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FREIHEIT |
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heit sich findende und wie die Psychologie lehrt
41), keineswegs erst durch eine Speculation über das menschliche
Wollen entstandene Annahme, daß einem jeden Menschen seine
Handlungen auch zugerechnet werden müssen, eine Annahme, welche
schon bei den rohesten Menschen angetroffen wird, wenn sie auch in
ihrer Sprache noch keine Wörter besitzen, um den Unterschied
zwischen dem freien und erzwungenen Thun eines Menschen zu
bezeichnen, wie aus der Aufnahme des Handelns Anderer erhellt,
sobald es auf ihre Person Einfluß hat.♦ |
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Man kann und braucht in der That in diesem
Gebiete, um die Wirklichkeit und Wirksamkeit der moralischen
Freiheit zu beweisen, nur auf die Thatsache des Bewußtseins
zurückzugehen, welche als Gewissen einem Jeden bekannt und eine
innere und unmittelbare Anschauung von dieser unsrer Seele
einwohnenden höchsten souverainen Macht unsers Willens ist. Mit dem
Gefühl oder Bewußtsein der Pflicht ist die sittliche Freiheit von
selbst gegeben oder gesetzt. Der Ausspruch des Gewissens: du sollst!
mit welchem sich alle Gebote der Pflicht ankündigen, setzt den
Glauben an die Wahrheit des Ausspruchs, du kannst! voraus
42).♦ |
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Ebendarauf beruht es, daß alle möglichen
Sophistereien des Verstandes, selbst des theoretisch von der
Richtigkeit des sogenannten Determinismus überzeugten Philosophen
durchaus nicht hinreichen, das Gefühl der Zurechnung und Schuld zum
Schweigen zu bringen, wie dies auch schon Kant sehr treffend
nachgewiesen hat 43). Daß dieser Glaube an die moralische Freiheit
ebenso zu den Grundeinrichtungen unsers geistigen Lebens gehört, wie
das Selbstbewußtsein, die Denkkraft etc., ergibt sich ganz einfach
daraus, daß die Gestaltung und Ausbildung dieses ganzen Lebens ohne
jene Überzeugung eine ganz andere sein würde, indem dann das klare
Bewußtsein des Unterschieds zwischen dem Grundbösen, Recht und
Unrecht und mit der Zurechnung auch eine bürgerliche, peinliche,
sittliche und religiöse Gesetzgebung, somit das eigentliche Band des
civilisirten oder Staatslebens wegfallen müßte. |
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Bei dieser aus den Thatsachen des Bewußtseins
und
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- 41) G. E. Schulze, Psychische Anthropologie. 3.
Ausgabe. S. 397.
- 42) Vergl. Ancillon, Über Glauben und Wissen S.
114. Fries, Julius und Evagoras. 2. Bd. S. 241.
- 43) „Ein Mensch
mag künsteln, soviel als er will, um ein gesetzwidriges Betragen,
dessen er sich erinnert, sich als unvorsätzliches Versehen, als
bloße Unbehutsamkeit, die man niemals gänzlich vermeiden kann,
folglich als etwas, worin er vom Strom der Naturnothwendigkeit
fortgerissen wäre, vorzumalen und sich darüber für schuldfrei zu
erklären, so findet er doch, daß der Advocat, der zu seinem Vortheil
spricht, den Ankläger in ihm keineswegs zum Verstummen bringen
könne, wenn er sich bewußt ist, daß er zu der Zeit, als er das
Unrecht verübte, nur bei Sinnen, d. i. im Gebrauche seiner Freiheit,
war, und gleichwol erklärt er sich sein Vergehen, aus gewisser
übeln, durch allmälige Vernachlässigung der Achtsamkeit auf sich
selbst zugezogener Gewohnheit, bis auf den Grad, daß er es als eine
natürliche Folge derselben ansehen kann, ohne daß dieses ihn
gleichwol wider den Selbsttadel und den Verweis sichern kann, den er
sich selbst macht. Darauf gründet sich denn auch die Reue über eine
längst begangene That bei jeder Erinnerung derselben; eine
schmerzhafte, durch moralische Gesinnung gewirkte Empfindung, die
sofern praktisch leer ist, als sie nicht dazu dienen kann, das
Geschehene ungeschehen zu machen, und sogar ungereimt sein würde."
Kritik der praktischen Vernunft. 5. Aufl. S. 170 fg.
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FREIHEIT |
⇧ Inhalt |
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der Erfahrung oder Geschichte hervorgehenden
Unbestreitbarkeit der menschlichen Willensfreiheit können natürlich
die Einwendungen nicht in Betracht kommen, welche die theoretische
oder speculative Philosophie von jeher bis auf die neueste Zeit
durch die Aufstellung der philosophischen oder theologischen Systeme
des Fatalismus, Pantheismus, der Prädestinationslehre und des
Determinismus gemacht hat, oder noch macht.♦ |
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In Hinsicht des erstern, welcher annimmt, daß der
Grund alles dessen, was überhaupt in der Welt geschieht, nur ein
blindes Fatum ist, versteht sich von selbst, daß dabei keine
menschliche Freiheit des Willens gedacht werden kann. Welche
verderbliche Folgen dieses System, zumal wo es zugleich als positive
Religion anerkannt ist, auf das ganze menschliche Leben, namentlich
auch auf die Verhinderung aller politischen Freiheit hat, ergibt
sich von selbst und wird durch die Geschichte und den Zustand der
orientalischen Völker zur Gnüge bewiesen 45).♦ |
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Ähnliches gilt auch von dem Systeme des
Pantheismus, nach welchem, wie es namentlich Spinoza unumwunden
ausgesprochen hat 46), von einer wahren Freiheit des menschlichen
Willens keine Rede sein kann; indessen ist neuerdings von einem
unsrer berühmtesten Philosophen behauptet worden, daß der
Pantheismus nicht wesentlich mit der fatalistischen Weltansicht
verknüpft sei, und daß sich wenigstens die formelle Freiheit mit ihm
vertrage 46).♦ |
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Dasselbe gilt ferner von den positiven
theologischen Lehren der Prädestination oder sogenannten Gnadenwahl,
die besonders von dem Kirchenvater Augustinus in die christliche
Dogmatik eingeführt und auch von Luther (in seiner bekannten
Streitschrift: De servo arbitrio, gegen des Erasmus Buch: De libero
arbitrio), ingleichen von Calvin verfochten worden ist (worüber die
christliche Dogmengeschichte zu vergleichen ist).
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- 44) Schulze, Psychische
Anthropologie S. 405, 3. Ausgabe.
- 45) Spinoza,
Ethices P. I. propos. XXXVI. p. 33 sq. und P. II.
propos. XLVIII. p. 85 sq.
- 46) Schelling, in der
Abhandlung über die Freiheit (Philos. Schriften I.
S. 403, vergl. 417), Vergl. Clodius, Allgem.
Religionslehre S. 168.
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