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Alter, oder höheres Lebensalter, wird
Gegenstand der Diätetik, 1) so fern man sich die Erreichung
desselben zum Zweck macht, 2) so fern man während
desselben ein angemessenes Verhalten zu beobachten
hat. |
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In Hinsicht auf die Erreichung eines hohen
Alters ist unsre Freiheit sehr beschränkt; denn unsre
Lebensdauer wird bestimmt durch die in der menschlichen
Natur überhaupt begründeten nothwendigen Grenzen eines
individuellen Menschenlebens. Sodann ob das Individuum die
letzte Grenze, welche der Natur seines Geschlechtes gemäß zu
erreichen möglich ist, wirklich erreichen wird, hängt davon ab,
ob dasselbe in seinem ganzen Wesen dem Begriffe seines
Geschlechts mehr oder weniger entspricht, denselben
vollständiger oder unvollständiger verwirklicht, oder die
Eigenschaften, die der menschlichen Natur überhaupt und
ursprünglich zukommen, in einer gewissen Vollkommenheit
besitzt.♦ |
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Wenn wir in der Dauer des körperlichen
Bestehens das Höchste, was dem Menschen möglich ist,
erreichen wollen; so muß auch die Individualität unsrer
Organisation dem Ideale menschlichen Daseyns möglichst
nahe kommen. Diese Individualität geben wir aber uns nicht
selbst, sondern sie wird gegeben durch die Umstände, unter
welchen unser Individuum entsteht und sich bildet. Sind die
Eltern, selbst von gesunden Vorfahren stammend, gesund und
kräftig, zeugen sie in dem Alter, wo ihre organische Kraft
hinlänglich entwickelt ist, ohne schon wieder zu sinken, und in
einer Zeit, wo sie vollkommner Gesundheit sich erfreuen, und
rüstig sind an Körper und Sele; ist in dem Augenblicke der
Zeugung die gesammte Lebendigkeit, Phantasie wie
Bildungskraft bei ihnen hoch gesteigert; bleibt die Mutter
während der Schwangerschaft unter günstigen körperlichen,
wie geistigen Einflüssen, wird endlich das Kind zur rechten
Zeit geboren; so verwirklicht sich der Typus menschlicher
Bildung ungestörter in der Individualität, und alle Organe und
Kräfte bilden sich in einem durch das Gesetz gegebenen
Ebenmaße aus, so daß eine Harmonie der Lebensthätigkeiten
daraus entspringt, welche, dem Ideale menschlichen Daseyns
nahe kommend, auch der idealischen Lebensdauer näher führt.
Diese angezeugte und angeborne Constitution, welche durch
Einklang aller Momente des Lebens, durch Ebenmaß aller
Bildungen und Thätigkeiten sich offenbart, ist die wahre
Grundlage eines höhern Alters. —♦ |
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In der Kindheit ist der Organismus noch
sehr empfänglich, biegsam, und in Formen, die ihm von außen
kommen, auszuprägen. Eine angemessene Erziehung, welche
auf gleichförmige Ausbildung aller Anlagen, und auf
angemessene Übung aller Kräfte abzielt, besiegelt den im
mütterlichen Schooß empfangenen Geleitsbrief zum langen
Leben. —♦ |
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Endlich gelangt der Mensch zur Freiheit und Selbständigkeit, wo er sein Leben selbst zu bestimmen
vermag: aber Grundton und Grundform sind ihm schon
gegeben; er kann dies mehr hervorheben, jenes mehr
niederhalten, aber seine Individualität umzuschaffen ver- |
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mag er nicht; das Ideelle aber kann er mehr
bestimmen, als das Materielle an sich, worauf es aber doch
beim langen Leben gerade vorzüglich ankommt; der Körper ist
ihm mehr ein Gegebenes; er kann mehr die Thätigkeit
umändern, als das Gebilde. Seiner Individualität sind also auch
schon bestimmte Grenzen des Daseyns gegeben, die auf der
Besonderheit seines Baues und seiner Lebensthätigkeit
beruhen. Ihm kann es also nur darauf ankommen, das seiner
Individualität mögliche Lebensziel zu erreichen. Da nun aber
das Leben in dem Zusammenstimmen aller Kräfte besteht; so
hat er hiezu kein anderes Mittel, als Ebenmaß und Einklang
unter allen seinen Lebensthätigkeiten möglichst zu erhalten,
danach zu trachten, daß jede Kraft geübt werde und kräftig
wirke, nicht die einzelne für sich, sondern jede für das Ganze.
Solche Harmonie ist aber gerade nichts anders, als wahrhaftes
Leben, vollkommne Gesundheit, und die Anleitung zum
langen Leben zu gelangen, ist nichts Andres als die Lehre, wie
man wahrhaft gesund seyn, und den Begriff der menschlichen
Natur in seiner Individualität möglichst verwirklichen könne.
Da nun vernünftiger Zweck des Menschen nicht auf Daseyn an
sich, sondern nur auf Wirksamkeit durch Daseyn gerichtet
seyn kann; so kann auch die Anleitung zum gesunden Leben
nur als selbständig auftreten und die Anleitung zum langen
Leben muß ihr einverleibt seyn und in ihr liegen. Man muß
streben vollkommen da zu seyn, und sein Daseyn durch
Wirksamkeit und Genuß zu erfüllen. Kommt man so zu
wahrhaftem Leben, das nur im Einklange aller Kräfte besteht;
so kommt auch das lange Leben zu uns ohne Weiteres. —
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Als die Schwärmerei das Idealische zu
verkörpern und das Unendliche in eine Hand voll Staub zu
fassen strebte, suchte die Alchymie den Stein der Weisen, als
den Besieger des Todes. Nachmals suchte der speculirende
Verstand hinter das Geheimniß des langen Lebens zu
kommen; er faßte, wie es seine Art ist, ein einzelnes Moment,
mehr oder weniger hypothetisch, aus dem Hergange des
Strebens im höhern Alter auf, und nahm das, was diesem
Moment entgegenwirkte, als das Mittel zum langen Leben auf.
So empfahl der große Baco — ein Beispiel, wie auch der
freieste Geist nicht immer von Schwäche frei sich erhält,—
Salpeter, um die Lebensgeister zu binden und ihre
Verflüchtigung zu verhüten; Valli die Sauerkleesäure, um die
Kalkerde in flüssiger Form und zur Ausführung geschickt zu
erhalten, dadurch aber ihre Erstarrung und die davon
abhängige Sprödigkeit der festen Theile und Verstopfung der
Gefäße zu verhüten etc.♦ |
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Und da auch diese Theoreme nicht zum
Ziele führten, meinte endlich der empirische Verstand, er
müsse dahinter kommen, worin eigentlich das lange Leben
begründet sey, wenn er untersuche, was für Einflüsse auf
diejenigen gewirkt, die ein hohes Alter erreicht haben, ob sie
etwa Bier getrunken, keine Kartoffeln gegessen u. s. w. Aber
auch die in dieser Hinsicht gesammelten Listen lehrten nicht,
was man eigentlich suchte; denn hatte der Eine dieser
steinalten Leute nichts als Wasser getrunken, so war der Andre
ein tüchtiger Branntweintrinker; hatte der Eine eine keusche
Ehe geführt, so war der Andre bis spät ein Lüstling gewesen
u. s. w. So wurde es denn in der Erfahrung klar nachgewiesen,
daß wie das Leben im Ganzen beruhet, auch die lange
Lebensdauer nicht durch einen |
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einzelnen Umstand, nicht durch ein
Recept, das man sich in der Apotheke bereiten, nicht durch
ein Gericht, das man sich in der Küche bestellen kann, bewirkt
wird. |
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Indem es aber geziemt, nicht ängstlich auf
langes Leben bedacht zu seyn, müssen wir wol Sorge tragen,
daß, wenn wir ein höheres Alter erreichen, dieses auch noch
die Mühe zu leben verlohne. Denn wo der Sinn blöde, die
Phantasie erloschen, das Gefühl erkaltet, das Urtheil stumpf,
die Stimmung mürrisch ist, sind die Beschwerden eines
alterschwachen Körpers zu groß, als daß jenes kümmerliche
Pflanzenleben dafür zu entschädigen vermöchte. Aber so ist
das Alter nicht, wo Ebenmaß im frühern Leben waltete, und
wo weder anhaltende, übermäßige, einseitige Anstrengung,
noch Wollust und Trägheit am Kerne des Lebens
nagten.♦ |
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Allerdings gibt es eine Alchymie, durch
welche man sich eine ewige Jugend schaffen kann, und ihre
einfache Lehre besteht darin, daß man aus jedem Lebensalter
den köstlichsten Gehalt extrahire und aufbewahre: aus der
Kindheit den einfachen, unbefangenen, anspruchlosen Sinn,
das fromme Vertrauen; aus der Jugend das heiße Gefühl für
alles Edle; aus der Mannheit das Streben nach
gemeinnützigem Wirken. Solche Extracte scheide man
sorgfältig vom irdischen Bodensatz, und verwahre sie im
tiefsten Gemüthe zu inniger Durchdringung: so wird man nicht
von des Alters Schwäche zu Boden gebeugt. |
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Was endlich das diätetische Verhalten im
Greisenalter betrifft, so ist dasselbe auf folgende Punkte
zurück zu bringen.♦ |
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1) Man lasse in der Anstrengung
verhältnißmäßig nach; doch gehe man nicht etwa aus einem
geschäftsvollen Leben plötzlich in ein ganz müßiges über,
denn dieß schnelle Aufhören der gewohnten Spannung bewirkt
Schwächung, als ob dem Organismus ein Glied genommen
wäre, und verursacht oft baldigen Tod; sondern die Arbeit
werde nur allmälig leichter und kürzer.♦ |
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2) Man mühe sich nicht noch einzugehen
in ganz fremde, verwickelte Geschäftskreise und Arbeiten,
sondern schreite in der gewohnten Bahn fort, wo man früher
mehr geleistet hat.♦ |
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3) Der öftere Umgang mit jüngern
lebensfrohen Menschen, besonders auch die Beschäftigung mit
Kindern, trägt mit dazu bei, dem Leben seine Frische zu
erhalten.♦ |
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4) Man gönne sich öftere Ruhepunkte,
auch öftern Schlaf, und da dieser jetzt leiser ist, so werde die
Störung desselben noch sorgfältiger gemieden.♦ |
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5) Die abnehmende Wärmeerzeugung
heischt eine wärmere Temperatur und wärmere
Bekleidung.♦ |
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6) Da in dem Greisenkörper die Neigung
zur Erstarrung, Gerinnung und Sprödigkeit überwiegt, so ist
der öftere Gebrauch von lauen Bädern, besonders mit Seife
und aromatischen Kräutern, so wie von Einreibungen des
ganzen Körpers mit Baumöl oder einem andern fetten Öle
zuträglich.♦ |
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7) Da die bildende Kraft überhaupt
nachläßt, die Verdauung schwächer, und aus den
Nahrungsmitteln weniger angeeignet wird; so muß der
Nahrungsstoff mehr concentrirt, substantiös, kräftig und leicht
verdaulich seyn; auch die Verdauung durch schickliche
gewürzhafte und geistige Substanzen unterstützt werden.
Kräftige Suppen, Eier, Geflügel, Wildpret, Zucker, süße
Früchte, alter, feuriger, weißer, besonders süßer Wein u. s. w.
sind hier vorzüglich passend. Alles Herbe muß, als die
Erstarrung befördernd, vermieden wer- |
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den, z. B. saure und zusammenziehende
Weine und Früchte; eben so alle grobe, schwerverdauliche
Speisen, Mehlspeisen, Hülsenfrüchte u. s. w.♦ |
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8) Endlich da die Harnabsonderung leicht
gestört wird, so achte man mehr auf dieselbe; man vermeide
alle Gelegenheiten, wo das Bedürfniß der Ausleerung nicht
sogleich befriedigt werden kann, und gebrauche bei etwas
verminderter Absonderung sogleich solche Nahrungsmittel,
welche dieselbe vermehren, z. B. Wacholder, Körbel,
Petersilie, Spargel etc. |
(Burdach.) |
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