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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-03-245-1
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Werk Bearb. ⇧ 3. Theil
Artikel: Alter, oder höheres Lebensalter
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
Siehe auch: HIS-Data Alter
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  Alter, oder höheres Lebensalter, wird Gegenstand der Diätetik, 1) so fern man sich die Erreichung desselben zum Zweck macht, 2) so fern man während desselben ein angemessenes Verhalten zu beobachten hat.
  In Hinsicht auf die Erreichung eines hohen Alters ist unsre Freiheit sehr beschränkt; denn unsre Lebensdauer wird bestimmt durch die in der menschlichen Natur überhaupt begründeten nothwendigen Grenzen eines individuellen Menschenlebens. Sodann ob das Individuum die letzte Grenze, welche der Natur seines Geschlechtes gemäß zu erreichen möglich ist, wirklich erreichen wird, hängt davon ab, ob dasselbe in seinem ganzen Wesen dem Begriffe seines Geschlechts mehr oder weniger entspricht, denselben vollständiger oder unvollständiger verwirklicht, oder die Eigenschaften, die der menschlichen Natur überhaupt und ursprünglich zukommen, in einer gewissen Vollkommenheit besitzt.♦
  Wenn wir in der Dauer des körperlichen Bestehens das Höchste, was dem Menschen möglich ist, erreichen wollen; so muß auch die Individualität unsrer Organisation dem Ideale menschlichen Daseyns möglichst nahe kommen. Diese Individualität geben wir aber uns nicht selbst, sondern sie wird gegeben durch die Umstände, unter welchen unser Individuum entsteht und sich bildet. Sind die Eltern, selbst von gesunden Vorfahren stammend, gesund und kräftig, zeugen sie in dem Alter, wo ihre organische Kraft hinlänglich entwickelt ist, ohne schon wieder zu sinken, und in einer Zeit, wo sie vollkommner Gesundheit sich erfreuen, und rüstig sind an Körper und Sele; ist in dem Augenblicke der Zeugung die gesammte Lebendigkeit, Phantasie wie Bildungskraft bei ihnen hoch gesteigert; bleibt die Mutter während der Schwangerschaft unter günstigen körperlichen, wie geistigen Einflüssen, wird endlich das Kind zur rechten Zeit geboren; so verwirklicht sich der Typus menschlicher Bildung ungestörter in der Individualität, und alle Organe und Kräfte bilden sich in einem durch das Gesetz gegebenen Ebenmaße aus, so daß eine Harmonie der Lebensthätigkeiten daraus entspringt, welche, dem Ideale menschlichen Daseyns nahe kommend, auch der idealischen Lebensdauer näher führt. Diese angezeugte und angeborne Constitution, welche durch Einklang aller Momente des Lebens, durch Ebenmaß aller Bildungen und Thätigkeiten sich offenbart, ist die wahre Grundlage eines höhern Alters. —♦
  In der Kindheit ist der Organismus noch sehr empfänglich, biegsam, und in Formen, die ihm von außen kommen, auszuprägen. Eine angemessene Erziehung, welche auf gleichförmige Ausbildung aller Anlagen, und auf angemessene Übung aller Kräfte abzielt, besiegelt den im mütterlichen Schooß empfangenen Geleitsbrief zum langen Leben. —♦
  Endlich gelangt der Mensch zur Freiheit und Selbständigkeit, wo er sein Leben selbst zu bestimmen vermag: aber Grundton und Grundform sind ihm schon gegeben; er kann dies mehr hervorheben, jenes mehr niederhalten, aber seine Individualität umzuschaffen ver-
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  mag er nicht; das Ideelle aber kann er mehr bestimmen, als das Materielle an sich, worauf es aber doch beim langen Leben gerade vorzüglich ankommt; der Körper ist ihm mehr ein Gegebenes; er kann mehr die Thätigkeit umändern, als das Gebilde. Seiner Individualität sind also auch schon bestimmte Grenzen des Daseyns gegeben, die auf der Besonderheit seines Baues und seiner Lebensthätigkeit beruhen. Ihm kann es also nur darauf ankommen, das seiner Individualität mögliche Lebensziel zu erreichen. Da nun aber das Leben in dem Zusammenstimmen aller Kräfte besteht; so hat er hiezu kein anderes Mittel, als Ebenmaß und Einklang unter allen seinen Lebensthätigkeiten möglichst zu erhalten, danach zu trachten, daß jede Kraft geübt werde und kräftig wirke, nicht die einzelne für sich, sondern jede für das Ganze. Solche Harmonie ist aber gerade nichts anders, als wahrhaftes Leben, vollkommne Gesundheit, und die Anleitung zum langen Leben zu gelangen, ist nichts Andres als die Lehre, wie man wahrhaft gesund seyn, und den Begriff der menschlichen Natur in seiner Individualität möglichst verwirklichen könne. Da nun vernünftiger Zweck des Menschen nicht auf Daseyn an sich, sondern nur auf Wirksamkeit durch Daseyn gerichtet seyn kann; so kann auch die Anleitung zum gesunden Leben nur als selbständig auftreten und die Anleitung zum langen Leben muß ihr einverleibt seyn und in ihr liegen. Man muß streben vollkommen da zu seyn, und sein Daseyn durch Wirksamkeit und Genuß zu erfüllen. Kommt man so zu wahrhaftem Leben, das nur im Einklange aller Kräfte besteht; so kommt auch das lange Leben zu uns ohne Weiteres. — ♦
  Als die Schwärmerei das Idealische zu verkörpern und das Unendliche in eine Hand voll Staub zu fassen strebte, suchte die Alchymie den Stein der Weisen, als den Besieger des Todes. Nachmals suchte der speculirende Verstand hinter das Geheimniß des langen Lebens zu kommen; er faßte, wie es seine Art ist, ein einzelnes Moment, mehr oder weniger hypothetisch, aus dem Hergange des Strebens im höhern Alter auf, und nahm das, was diesem Moment entgegenwirkte, als das Mittel zum langen Leben auf. So empfahl der große Baco — ein Beispiel, wie auch der freieste Geist nicht immer von Schwäche frei sich erhält,— Salpeter, um die Lebensgeister zu binden und ihre Verflüchtigung zu verhüten; Valli die Sauerkleesäure, um die Kalkerde in flüssiger Form und zur Ausführung geschickt zu erhalten, dadurch aber ihre Erstarrung und die davon abhängige Sprödigkeit der festen Theile und Verstopfung der Gefäße zu verhüten etc.♦
  Und da auch diese Theoreme nicht zum Ziele führten, meinte endlich der empirische Verstand, er müsse dahinter kommen, worin eigentlich das lange Leben begründet sey, wenn er untersuche, was für Einflüsse auf diejenigen gewirkt, die ein hohes Alter erreicht haben, ob sie etwa Bier getrunken, keine Kartoffeln gegessen u. s. w. Aber auch die in dieser Hinsicht gesammelten Listen lehrten nicht, was man eigentlich suchte; denn hatte der Eine dieser steinalten Leute nichts als Wasser getrunken, so war der Andre ein tüchtiger Branntweintrinker; hatte der Eine eine keusche Ehe geführt, so war der Andre bis spät ein Lüstling gewesen u. s. w. So wurde es denn in der Erfahrung klar nachgewiesen, daß wie das Leben im Ganzen beruhet, auch die lange Lebensdauer nicht durch einen
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  einzelnen Umstand, nicht durch ein Recept, das man sich in der Apotheke bereiten, nicht durch ein Gericht, das man sich in der Küche bestellen kann, bewirkt wird.
  Indem es aber geziemt, nicht ängstlich auf langes Leben bedacht zu seyn, müssen wir wol Sorge tragen, daß, wenn wir ein höheres Alter erreichen, dieses auch noch die Mühe zu leben verlohne. Denn wo der Sinn blöde, die Phantasie erloschen, das Gefühl erkaltet, das Urtheil stumpf, die Stimmung mürrisch ist, sind die Beschwerden eines alterschwachen Körpers zu groß, als daß jenes kümmerliche Pflanzenleben dafür zu entschädigen vermöchte. Aber so ist das Alter nicht, wo Ebenmaß im frühern Leben waltete, und wo weder anhaltende, übermäßige, einseitige Anstrengung, noch Wollust und Trägheit am Kerne des Lebens nagten.♦
  Allerdings gibt es eine Alchymie, durch welche man sich eine ewige Jugend schaffen kann, und ihre einfache Lehre besteht darin, daß man aus jedem Lebensalter den köstlichsten Gehalt extrahire und aufbewahre: aus der Kindheit den einfachen, unbefangenen, anspruchlosen Sinn, das fromme Vertrauen; aus der Jugend das heiße Gefühl für alles Edle; aus der Mannheit das Streben nach gemeinnützigem Wirken. Solche Extracte scheide man sorgfältig vom irdischen Bodensatz, und verwahre sie im tiefsten Gemüthe zu inniger Durchdringung: so wird man nicht von des Alters Schwäche zu Boden gebeugt.
  Was endlich das diätetische Verhalten im Greisenalter betrifft, so ist dasselbe auf folgende Punkte zurück zu bringen.♦
  1) Man lasse in der Anstrengung verhältnißmäßig nach; doch gehe man nicht etwa aus einem geschäftsvollen Leben plötzlich in ein ganz müßiges über, denn dieß schnelle Aufhören der gewohnten Spannung bewirkt Schwächung, als ob dem Organismus ein Glied genommen wäre, und verursacht oft baldigen Tod; sondern die Arbeit werde nur allmälig leichter und kürzer.♦
  2) Man mühe sich nicht noch einzugehen in ganz fremde, verwickelte Geschäftskreise und Arbeiten, sondern schreite in der gewohnten Bahn fort, wo man früher mehr geleistet hat.♦
  3) Der öftere Umgang mit jüngern lebensfrohen Menschen, besonders auch die Beschäftigung mit Kindern, trägt mit dazu bei, dem Leben seine Frische zu erhalten.♦
  4) Man gönne sich öftere Ruhepunkte, auch öftern Schlaf, und da dieser jetzt leiser ist, so werde die Störung desselben noch sorgfältiger gemieden.♦
  5) Die abnehmende Wärmeerzeugung heischt eine wärmere Temperatur und wärmere Bekleidung.♦
  6) Da in dem Greisenkörper die Neigung zur Erstarrung, Gerinnung und Sprödigkeit überwiegt, so ist der öftere Gebrauch von lauen Bädern, besonders mit Seife und aromatischen Kräutern, so wie von Einreibungen des ganzen Körpers mit Baumöl oder einem andern fetten Öle zuträglich.♦
  7) Da die bildende Kraft überhaupt nachläßt, die Verdauung schwächer, und aus den Nahrungsmitteln weniger angeeignet wird; so muß der Nahrungsstoff mehr concentrirt, substantiös, kräftig und leicht verdaulich seyn; auch die Verdauung durch schickliche gewürzhafte und geistige Substanzen unterstützt werden. Kräftige Suppen, Eier, Geflügel, Wildpret, Zucker, süße Früchte, alter, feuriger, weißer, besonders süßer Wein u. s. w. sind hier vorzüglich passend. Alles Herbe muß, als die Erstarrung befördernd, vermieden wer-
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  den, z. B. saure und zusammenziehende Weine und Früchte; eben so alle grobe, schwerverdauliche Speisen, Mehlspeisen, Hülsenfrüchte u. s. w.♦
  8) Endlich da die Harnabsonderung leicht gestört wird, so achte man mehr auf dieselbe; man vermeide alle Gelegenheiten, wo das Bedürfniß der Ausleerung nicht sogleich befriedigt werden kann, und gebrauche bei etwas verminderter Absonderung sogleich solche Nahrungsmittel, welche dieselbe vermehren, z. B. Wacholder, Körbel, Petersilie, Spargel etc.
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HIS-Data 5139-1-03-245-1: Allgemeine Encyclopädie 1. Sect. 3. Th.: Alter oder höheres Lebensalter HIS-Data Home
Stand: 20. November 2017 © Hans-Walter Pries