⇧ S. 28 Sp. 1 |
|
|
Forts. S. 28 Sp. 1 |
III. Politische (bürgerliche, staatsbürgerliche) Freiheit. — Sowie für den
Einzelnen die Ausbildung der allen Menschen als Anlage verliehenen innern oder sittlichen Freiheit
(oder der Freiheit des Willens) die Grundbedingung der gesammten übrigen geistigen Entwickelung
und der Beginn derselben oder (wie Kant es ausdrückt) „der Ausgangs aus der geistigen
Unmündigkeit die wichtigste Revolution in dem Innern des Menschen ist" 78), sowie ferner für den
Einzelnen ohne äußere persönliche Freiheit oder Selbständigkeit keine wahrhafte Ausbildung der
innern, keine echte Charakterbildung zu denken ist (was schon Homer treffend angedeutet hat) 79),
welche doch als das höchste Ziel oder die wahre Bestimmung des Menschen angesehen werden muß,
und nach welcher sich der persönliche Werth des Individuums abmißt — so verhält es sich auch mit
der politischen Freiheit in Bezug |
|
|
- 78) Anthropologie (Werke, Ausgabe von Hartenstein. 10. Bd. S. 247).
- 79)
"Schon ja die Hälfte der Tugend entrückt Zeus' waltende Vorsicht
- Einem Mann, sobald nur der
Knechtschaft Tag ihn ereilet."
- Odyss. XVII, 322.
|
|
S. 28 Sp. 2 |
FREIHEIT |
|
|
auf das öffentliche Leben und den Charakter der Völker oder Staaten und der
Menschheit im Großen. Auch diese ist als die Basis alles vernünftig-geselligen Lebens, als die
Voraussetzung aller höheren, wissenschaftlichen, ästhetischen, sittlich-religiösen, zugleich auch der
ökonomischen oder industriellen Bildung, kurz aller eigentlichen Civilisation und Cultur anzusehen.
Daher findet sich diese letztere nur bei denjenigen Völkern, bei welchen sich politische Freiheit
entwickeln konnte und nur nach dem Grade dieser Entwickelung. Daher zählen in der Weltgeschichte
eigentlich nur die politisch freien Nationen; daher hängen ferner alle Hauptepochen derselben, sowie
die der Specialgeschichten der einzelnen Völker entweder unmittelbar mit der Erlangung, Behauptung
oder dem Verluste der politischen Freiheit zusammen, oder stehen doch in nächster Beziehung und
Wechselwirkung zu derselben; welches Alles durch Beispiele zu beweisen einer ausführlichen
Geschichte der politischen Freiheit vorbehalten bleiben muß, insofern übrigens überflüssig erscheint,
als jene Belege im Allgemeinen aus der Geschichte des Alterthums, des Mittelalters, der neuern und
neuesten Zeit, besonders der doch in der Regel aus dem Interesse für die politische Freiheit
entstandenen Revolutionen, Jedem zur Genüge schon bekannt sind. Kurz, fast alles Hohe und
Herrliche im Menschenleben knüpft sich mehr oder weniger an die politische Freiheit der Völker an,
welche, wie ebenfalls schon Kant bemerkt hat 80), "das höchste Problem und der letzte Zweck der
Menschengeschichte," und wie Dahlmann es ausdrückt: "die größte aller Staatsfragen" ist 81). |
|
|
Andererseits lehrt allerdings auch die Geschichte und die Erfahrung, daß das
Interesse der politischen Freiheit zu den schlimmsten Verirrungen geführt hat, daß im Namen
derselben nur zu oft die empörendsten Verbrechen begangen wurden, und daß es einen politischen
Fanatismus der Freiheit gibt, durch welchen, wie durch den religiösen, in der Geschichte der
Menschheit die dunkelsten Blätter angefüllt worden sind. Allein so wenig man wegen der Gräuel,
welche der Misverstand der Religion von jeder (wie schon der bekannte Spruch des Lucretius
andeutet) 82) veranlaßt hat, die Religion selber in ihrem Wesen und in ihrer Würde als die höchste
und wichtigste Angelegenheit des Menschen verkennen darf, ebenso wenig können die in Bezug auf
politische Freiheit begangenen Excesse dem Werthe derselben derogiren, woran schon unser
vaterländischer größter Dichter in den
|
|
|
- 80) Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht
(Werke. 4. Bd. S. 293 fg.). Ausführlicher ist dieser Gedanke neuerdings entwickelt von Ad. Schmidt
in s. Thesen über den Fortschritt in der Geschichte in Noack's Jahrbüchern für Wissenschaft und
Leben. 1848. Heft 1.
- 81) Geschichte der englischen Revolution, am Schluß (4. Ausg. S. 383): "Dem
König Wilhelm verdankt England seine Freiheit, soweit Freiheit verliehen werden kann, und er hat die
größte von allen Staatsfragen, die von der politischen Freiheit der Völker, so mächtig in den ganzen
Welttheil mit ihrer scharfen Ecke hineingerückt, daß wer in ihrer Nähe blos die Augen schaudernd
zuzudrücken und allenfalls ein Kreuz zu schlagen weiß, sich früher oder später daran den Kopf
einrennen muß."
- 82) "Tantum religio potuit suadere malorum!"
|
|
S. 29 Sp. 1 |
FREIHEIT |
⇧ Inhalt |
|
allbekannten „Worten des Glaubens" gemahnt hat 83). Was einer der
berühmtesten unserer Staatsgelehrten und Staatsmänner, Gentz, in dieser Hinsicht zur Zeit der
französischen Revolution aussprach, gilt für alle Zeit: „Der zügelloseste Misbrauch der Worte muß
uns, wenn wir gerecht und einsichtsvoll urtheilen wollen, gegen ihren echten, guten und edeln Sinn
nicht mißtrauisch machen. Man hat im Namen der politischen Freiheit unter unsern Augen
unermeßliche Bubenstücke begangen. Schlimm genug! nichtsdestoweniger liegt Alles, was für den
Staat wünschenswürdig sein kann, in diesem Worte eingeschlossen, und es ist in seiner wahren
Bedeutung der beste Maßstab, um die Vollkommenheit seiner Organisation zu bestimmen. Die
höchste mögliche bürgerliche Freiheit, gesichert durch diejenige Verfassung, mit welcher sie am
besten besteht, ist der letzte Zweck und das höchste Ideal jeder politischen Verbindung; je mehr der
Staat sich diesem Ideal nähert, desto vollkommener sind alle Zwecke der bürgerlichen Gesellschaft in
ihm erreicht" 84).♦ |
|
|
Derselbe Publicist hat anderwärts mit Recht als den Hauptgrund jener Verirrungen
die Unklarheit bezeichnet, welche in Bezug auf den Begriff der politischen Freiheit gewöhnlich sich
findet 85). Die Aufhellung desselben hat demgemäß außer
|
|
|
- 83) „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, Und wär' er in Ketten geboren!
Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei, Nicht den Misbrauch rasender Thoren" u. s. w.
- 84) In der
Neuen teutschen Monatsschrift. 1795. II. S. 296. Ähnlich der Freiherr von Gagern: „Freiheit, auch du
hast irre geführt, dem Bösewicht zum Vorwand gedient, wie die Religion, wie die Tugend. Nie ist
mehr als zu meiner Zeit Gesetzlosigkeit mit ihr verwechselt worden. Nie wurden mehr Gräuel unter
ihrer Maske ausgeübt, die mit der menschlichen Gattung entzweien könnten. Hört sie deswegen auf,
die Zierde, die Größe des menschlichen Geschlechts, die Freude der Seele, der Werth des Lebens, der
Preis der Tugend, die Beschützerin der Staaten, die Mutter der Vaterlandsliebe, die Säugamme aller
erhabenen Gesinnungen und Gefühle zu sein? Wo sie nicht ist, da sinkt der Mensch und neigt sein
Haupt. Die Kraft des Lebens, die Stärke des Geistes ist gebrochen, Muth erkaltet, Tugend stirbt.
Nationen trauern um sie und welken: bald tragen sie das Gepräge der Nichtswürdigkeit." Resultate der
Sittengeschichte. 2. Aufl. I. S. 35, „ Malo turbulentam libertatem, quam quietum servitium, dies war
von jeher die Maxime des freien Mannes und das wird sie ewig bleiben." Feuerbach, Antihobbes I,
180.
- 85) „Es ist eine alte Bemerkung, daß der große Haufen des Menschengeschlechts durch
Zeichen und Bilder und Namen und dunkle Vorstellungen regiert wird. Freiheit, jene Freiheit, die die
Mutter solcher ungeheuern Bewegungen, so mancher schwärmerischen Heldenthat, so manches
empörenden Verbrechens ist, gehört unter diese dunkeln Vorstellungen. Es ist von äußerster
Wichtigkeit, daß man sie beleuchte und entwickele, daß man das Wahre, was in ihr ist, von der
Täuschung, das Heilsame, was sie enthalten kann, von dem Verderblichen sondere. Es ist die höchste
und dringendste Nothwendigkeit, es ist die unnachlaßlichste Pflicht für jeden denkenden Menschen, zu
einer Zeit, wo die schrecklichsten Erdbeben die politische Welt erschüttern, zu einer Zeit, wo die
entgegengesetzten Meinungen über das Wesen und den Werth der Freiheit fast durch ganz
Teutschland hindurch, hier ruhiger und dort tobender, hier im Keim und dort im gräulichsten
Ausbruche die eine Hälfte der Menschheit zum Kampfe mit der andern geführt haben — sich von
seinen eigenen Ideen die strengste Rechenschaft abzulegen, und ehe er es wagt, in dieser großen
Debatte, die so viele Köpfe beschäftigt, an die ein so vielfaches Interesse geknüpft ist, und auf deren
Ausgang eine ganz beunruhigte {1} Welt harrt, seine schwache Stimme zu erheben, die Fundamental-
begriffe alles politischen Raisonnements mit hohem Ernste zu prüfen und mit aller Anstrengung, deren
er fähig ist, aufs Reine zu bringen." Burke's Betrachtungen über die französische Revolution,
übersetzt und erläutert von Gentz. 2. Bd. S. 155. 1793.
|
{1} Fußnote von Sp. 2 ergänzt |
S. 29 Sp. 2 |
FREIHEIT |
|
|
dem theoretischen noch ein praktisches, sehr bedeutendes Interesse, und muß als
eine der wichtigsten Aufgaben der Staatswissenschaft anerkannt werden, deren Lösung übrigens
mannichfachen Schwierigkeiten unterworfen ist; daher sie denn auch bisher noch keineswegs als
gelungen anzusehen ist. |
|
|
Um auch hier zunächst von der sprachlichen Bezeichnung dieses Begriffs
auszugehen, so ergibt sich, daß, sowie „Freiheit" ein vielumfassender und vieldeutiger Ausdruck ist,
über dessen Sinn und über die damit bezeichnete Sache selber eine große Verschiedenheit der
Ansichten stattfindet, es sich auch mit dem Worte „Politik" auf gleiche Weise verhält. Dasselbe
bezeichnet bekanntlich bald soviel wie Staats- und öffentliches Leben überhaupt (z. B. in dem
Ausdruck: sich für „Politik" interessiren, der „politische" Theil der Zeitungen, „politische"
Gesellschaften, Parteien, Gespräche u. dgl. m.), bald die Summe oder den Inbegriff der auf das
öffentliche oder Staatsleben sich beziehenden Ansichten (z. B. Wirthshaus-, Börsenpolitik), bald den
in ein System gebrachten Inbegriff von praktischen Grundsätzen oder Maximen für die Regierung
oder Leitung der öffentlichen Angelegenheiten, mit Einem Worte, die sogenannte Staatskunst (z. B.
die „Politik" der Großmächte, die Macchiavellistische oder jesuitische Politik), bald die Wissenschaft
von den höchsten Zwecken des Staats (in welchem Sinne die Alten vorzugsweise dieses Wort
nahmen), oder mit Einem Worte: die Staatsweisheitslehre, bald die Wissenschaft der
zweckmäßigsten Mittel für die Erreichung des Staatszwecks (welches vorzugsweise der moderne
Begriff ist), mit Einem Worte: die Staatsklugheitslehre (daher auch im gemeinen Sprachgebrauche „
Politik" und politisch oft soviel wie Klugheit und klug überhaupt heißt, und man z. B. von der „Politik
der Freundschaft" spricht, sowie „ein Politicus sein," „politisch handeln," soviel wie klug oder pfiffig
sein, ausdrückt); endlich auch die Staatswissenschaft überhaupt und die Lehre von der
Staatsverfassung und Verwaltung als besondere (z. B. wenn von den verschiedenen Literaturgebieten
die Rede ist, „Politik studiren," die Geschichte oder Literatur der „Politik").♦ |
|
|
Schon hieraus ist leicht erklärlich, daß die aus der Verbindung zweier solcher so
verschieden aufgefaßter Hauptbegriffe hervorgehende „politische Freiheit" nicht schon an und für
sich klare Vorstellungen erwecken kann, sondern das gerade Gegentheil stattfinden muß. Es kommt
dann zunächst noch dazu, daß die Verwechselung des Begriffs „Freiheit" mit den nächstverwandten
Vorstellungen der Ungebundenheit, Frechheit, Zügel- oder Gesetzlosigkeit und dergl., wie die
Geschichte und Erfahrung lehren, in dem Gebiete der Politik weit häufiger als irgend anderswo sich
zeigt.♦ |
|
|
Auch der Umstand, daß sowol im gemeinen als im wissenschaftlichen
Sprachgebrauche (wie noch näher gezeigt werden wird) die Ausdrücke „po- |
|
S. 30 Sp. 1 |
FREIHEIT |
⇧ Inhalt |
|
litische" und "bürgerliche" Freiheit bald als gleichbedeutend, bald als wesentlich
Verschiedenes bezeichnend genommen zu werden pflegen, kann natürlich nur zur Vermehrung der
Unklarheit beitragen. |
|
|
Das Wort politische Freiheit bezeichnet überdies schon an und für sich nichts
Handgreifliches, sinnlich Wahrnehmbares, überhaupt nichts Einfaches und in fester Form Gegebenes,
sondern einen mannichfacher Veränderungen fähigen und sehr zusammengesetzten Zustand, dessen
Wesen sich durchaus nicht in einer blos logischen Definition erschöpfen läßt. Die politische Freiheit
selber ist ferner, obgleich der Idee nach für alle Menschen bestimmt, weil mit der menschlichen
Vernunft unmittelbar zusammenhängend, wie die Geschichte und Erfahrung lehren, noch keineswegs
eine überall vorkommende Thatsache, deren Merkmale aus der Wahrnehmung abstrahirt und in eine
Gesammtvorstellung, den Begriff, ein für alle Mal zu fixiren waren.♦ |
|
|
Vielmehr ist es unbestreitbar, daß die unermeßliche Majorität der Menschen dieses
Gut bisher entbehrt hat und noch entbehrt; und selbst bei der kleinen Anzahl derjenigen Völker, bei
welchen sie bis jetzt sich hat entwickeln können, ja bei demselben Volke in seinen verschiedenen
Bildungsstufen erscheint sie in sehr verschiedener Gestalt und zugleich mit sehr verschiedenen
Wirkungen, je nach der Art und Weise ihrer Auffassung und der Anwendung, welche von ihr gemacht
werden. Daher haben schon früher mehre der berühmtesten politischen Schriftsteller grade diesen
Begriff als einen der dunkelsten, vieldeutigsten und schwierigsten bezeichnet; so z. B. Montesquieu
86) und Ferguson 87), und erst noch neuerdings hat sich in gleichem Sinne der schon angeführte
Veteran unserer publicistischen Literatur, der Freiherr von Gagern, ausgesprochen 88).♦ |
|
|
Ganz besonders findet sich aber diese Unklarheit über das, was politische Freiheit
eigentlich ist, mit dem traurigen Gefolge der daraus hervorgehenden Misgriffe und Misbräuche in
unserer Zeit, welche, wie bekannt, mit der französischen Revolution beginnt 89), die als ihr
Hauptziel die politische Freiheit (unter der Firma Freiheit und Gleich-
|
|
|
- 86) De l'esprit des lois, liv. XI. ch. 2: " II n'y a point de mot qui ait reçu plus de
différentes significations et qui ait frappé les esprits de tant de manières que celui de liberté."
- 87) Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. 3. Th. Abschn. 6.
- 88) "Der kennt fürwahr die Freiheit und ihre
Elemente nicht, der sie in irgend einer gerundeten Phrase sucht. Sie ist bunt und mannichfaltig auf der
Erde, wie die Blumen unserer Wiesen. Sie hat ebenso verschiedene Formen, Farben, und neben ihrem
Schmuck herrscht immer das milde Grün der Hoffnung vor. Und dann kommt endlich doch die
Heublume - und der Mäher! Sie hat ihre Kinderjahre, Jugend und Alter! Freiheit ist nicht ein
einfacher Begriff, wie Pfeil und Ähre, sondern ein Inbegriff, eine Sammlung und Zusammensetzung,
wie der Köcher und die Garbe! Aber was ist in der Kapsel? Sind die Pfeile scharf und spitzig und ohne
Gift? Sind die Ähren rund und schwer, wenig des Brandes und des Dorts? Freiheit ist ein Feuer!
Kinder und Banditen zünden damit die Häuser an. Die Familie wärmt sich, die Hausfrau kocht, der
Vater stählt, die Künstler schaffen, läutern, formen." v. Gagern, Resultate der Sittengeschichte IV. S.
311 (2. Ausgabe.) Vergl. Vollgraff, Politik. 1, Bd. S. 43 fg.
- 89) Wachsmuth, Europäische
Sittengeschichte V. 2. Abtheil. S. 754 fg.
|
|
S. 30 Sp. 2 |
FREIHEIT |
|
|
heit) erstrebte, dabei aber der bedauernswürdigsten Verirrungen sich schuldig
machte, die unsern vaterländischen Dichter zu dem auf den Misbrauch jener Idee sich beziehenden
Spruch veranlaßten: „Doch der schrecklichste der Schrecken ist der Mensch in seinem Wahn!"♦ |
|
|
Zwei Menschenalter sind seitdem verflossen und in Bezug auf politische Freiheit
ist seitdem allerdings Vieles errungen worden; allein nichtsdestoweniger ist der Begriff derselben
noch immer im Allgemeinen nichts weniger als klar und richtig aufgefaßt vorauszusetzen, was
hauptsächlich darin seinen Grund hat, daß die seitdem auch auf dem europäischen Continent
eingeführte constitutionelle oder Repräsentativverfassung, die allerdings am meisten der politischen
Freiheit entspricht, in Folge der eingewurzelten Herrschaft der Bureaukratie, insbesondere in
Teutschland, nur sehr unvollkommen (nur bis zu einer sogenannten „ Quasiconstitutionalität") 90)
sich zu entwickeln vermochte, und daß nur zu häufig die höhern geistigen und sittlichen Grundlagen
der politischen Freiheit so gut wie ganz unberücksichtigt blieben. Daher denn nur erst vor einigen
Jahren von einem hochgestellten Staatsmann 91) über die Begriffsverwirrung in Hinsicht auf
politische Freiheit, obgleich dieselbe mehr als je das allgemein angestrebte Ziel genannt werden kann,
laute Klagen erhoben worden. |
|
|
Auch im Gebiete der Literatur hat es nicht an Klagen und Warnungen in Bezug auf
die Miskennung des wahren Begriffs der politischen Freiheit und die unver-
|
|
|
- 90) Von Aretin, Staatsrecht der constitutionellen Monarchie I. Einleitung.
Pfizer, Ideen über Recht, Staat und Kirche II. S. 258.
- 91) Der Fürst Ludwig von Wallerstein in
seiner Kritik verschiedener Anträge des Fürsten Karl von Wrede in den Debatten in München am 13.
Febr. 1846 (vergl. Deutsche Allgem. Zeitung vom 20. Febr. 1846): „ Keine Periode der modernen
Geschichte war fruchtbarer als die unsrige in Lobpreisung politischer und bürgerlicher Freiheit.
Jeder verlangt die kostbare Gabe nicht nur für sich, sondern auch für alle von ihm vertretenen oder
getheilten Interessen. Glauben aber letztere sich im Conflicte mit andern Interessen irgendwelchen
Gepräges, so erklingt nur zu oft der Ruf nach staatlicher Bevormundung. Ja, registrirte die
Staatsgewalt alle Hilferufe dieser Art, so würden sie sich zuletzt summiren zur Bitte um Nichtfreiheit
in Allem und für Alle! Überhaupt modificirt sich der Begriff von Freiheit nach Maßgabe der ihn
formulirenden in mannichfachster Weise. Ein großer Theil der Beamtenwelt und von ihm influencirt
sehr häufig die Regierungen selbst, denken sich unter bürgerlicher Freiheit die Befugniß der
Staatsbürger, grade so weit, so rasch und so geartet einherzuschreiten, als es der bureaukratischen
Auffassung jeweils angemessen erscheint! Freiheit nennt der Gewerbsmann sein Monopol und das
Fernbleiben unbequemer Concurrenz; der Speculant das Agiotiren auf Kosten der Nationen; der
Beförderungslustige die Nichtbeachtung von Dienstalter und Verdienst. Sogar viele der Kämpen
gegen Preßzwang, viele der Wortführer auf dem geistigen Gebiete heischen Ungebundenheit für ihre
Doctrinen, Druck bezüglich jeder abweichenden Meinung. Und doch ist wahre Freiheit wie für
Individuen so für ganze Länder nur denkbar auf der dreifachen Grundlage der Intelligenz, welche sie
begreifen lehrt, der Tugend, welche ihre würdige Benutzung sichert, der Gerechtigkeit, welche das
erstrebte Ideal auch ehrt, wo es Andern zu Gute kommt. In der That hat die echte Freiheit noch immer
eine verhältnißmäßig geringe Zahl empfänglicher Herzen und spärliche Asyle gefunden, während sie
grade unsern Lagen höchlich noth thut."
|
|
S. 31 Sp. 1 |
FREIHEIT |
⇧ Inhalt |
|
meidlichen Folgen davon gefehlt.♦ |
|
|
Genau um dieselbe Zeit, in welcher der gedachte bairische Staatsminister diese
Klagen über jenen Mißverstand kundgab, hatte ein von der dänischen Regierung seit langen Jahren
verfolgter Märtyrer dieser Freiheit, der bekannte (in diesem Sommer als Abgeordneter in die teutsche
Reichsversammlung zu Frankfurt verstorbene) Dr. Wirth in der Fortsetzung seiner teutschen
Geschichte 92) daran gemahnt, daß wir uns in Teutschland jetzt ganz in der Lage befinden, wie
Frankreich vor dem Ausbruche seiner Revolution, und unumwunden vorhergesagt, daß durch die
falschen Maßregeln der an ihrer, von Bonaparte ihnen geschenkten, französischen Souverainetät
festhaltenden Regierung 93) und durch Unterdrückung der wahren politischen
Freiheitsbestrebungen eine Revolution vorbereitet werde, die ganz dieselben, ja noch schlimmere
Erscheinungen zeigen würde; eine Prophezeiung, die in dem gegenwärtigen Jahre leider! schon nur zu
sehr in Erfüllung gegangen, und die mit Recht der weltberühmten Burke'schen von dem Ausgange der
französischen Revolution an die Seite gesetzt werden kann.♦ |
|
|
Wir können nicht umhin, diese Stelle hier mitzutheilen, da sie zugleich die
reißenden Fortschritte bespricht, welche die damals schon überhand genommene Begriffsverwirrung
in Bezug auf politische Freiheit gemacht hatte und damit auch manche der neuesten Erscheinungen
erklärt 94). Diese Mahnungen
|
|
|
- 92) Geschichte der teutschen Staaten seit der Auflösung des teutschen Reichs.
(Karlsruhe 1847.) 1, Liefer. S. 31.
- 93) Darüber hatte auch Arndt (Schriften für s. lieben Teutschen.
2. Bd. 1845. S. 78, vergl. 317) sich scharf ausgesprochen; vergl. auch die Allgem. Zeitung vom 31.
Aug. 1846. Beil. und vom 4. Sept. ebend. S. 2211.
- 94) „Man war in Teutschland bisher vielfältig
der Meinung ergeben, daß eine gewaltsame Umwälzung in unserem Lande nicht von den Gräueln
begleitet sein könne, welche in andern Staaten so schauderhaft hervortraten. Die Gemüthlichkeit des
teutschen Nationalcharakters und die höhere Bildung der neuern Zeit unterstützten diese Meinung
auch mit ansehnlichen Gründen; gleichwol machen viele Erscheinungen der Gegenwart jenen guten
Glauben unerwartet sehr schwankend. Es ist natürlich und selbst nothwendig, daß in allen Gährungen
der Völker auch extreme Parteien auftreten; allein so reißend schnell geht bei uns die Bewegung der
Geister, daß diejenigen, welche in den Jahren 1831 bis 1833 überspannte, ja selbst Schwärmer genannt
wurden, jetzt der gemäßigten Meinung angehören. Wir wollen nicht einmal von den Anhängern der
Gütergemeinschaft sprechen, obschon es bezeichnend genug ist, daß sogar ein solcher Irrwahn so
viele Köpfe bethören konnte; aber auch unter den gesunden Vertheidigern der entschiedenen Richtung
ist es schon Mode geworden, einen Jeden, der nur im Kleinsten von ihrer Meinung abweicht, der
Halbheit zu beschuldigen. Männer, welche die Staatswissenschaft und die Ergründung der Mittel zur
Emporhebung des Volkes zum Studium ihres Lebens gemacht haben, werden von unwissenden
Schreiern wie Schulknaben gemeistert, ja was das Merkwürdigste ist, Männer, welche die geistige
Bewegung zuerst anregten, welche sprachen, als Alles schwieg, welche ihrer Überzeugung unter
schweren Stürmen und Drangsalen treu blieben, für sie darbten und litten, werden für Servile,
Treulose, Abtrünnige und Überläufer erklärt. Lächerliche Theorien über sociale Einrichtungen gelten
für Staatsweisheeit, Rohheit des Ausdrucks für Kraft, Grobheit und gemeine Sitten für Patriotismus.
Die vorlaute Jugend meistert das erfahrne Alter, der ungeschlachte Handwerksbursche den
gereiften Staatsmann, und soweit ist schon die Umdüsterung der Vernunft gekommen, daß man den
Radicalismus für einen Talisman {1} erklärt, welcher Bildung, Wissenschaft und Kenntnisse
entbehrlich macht. Das war aber genau der Gang der französischen Revolution, und Erscheinungen
der Art auch in Teutschland sind eine ernste Mahnung für alle Männer von Einsicht, Besonnenheit und
Charakter, noch bei Zeiten dem Ausbruche bösartiger und gefährlicher Leidenschaften sich
entgegenzusetzen. Wenn solche Leidenschaften schon in der gegenwärtigen Phase der Entwickelung
hervortreten, so sind die Bürgschaften für einen geordneten Gang stürmischer Umwälzungen gar sehr
verringert oder wol gar aufgehoben, und es wird daher im Hinblick auf die Geschichte Frankreichs
sowol von dem Interesse des Volkes, wie von jenem der Fürsten gefodert, daß eine Katastrophe, wo
nur immer möglich, vermieden werde. — Wir dürfen uns nicht täuschen. Verhängnißreiche
Wahrzeichen steigen aus den geheimnißvollen Tiefen des teutschen Lebens auf, Wahrzeichen,
welche unter Umständen die Wiederkehr einer erschütternden Katastrophe des 16. Jahrh., nur in
furchtbarerer Weise und in größerer Ausdehnung, besorgen lassen. Dann geräth nicht nur das
Eigenthum in Gefahr, sondern der Fanatismus der Meinung wird sich bis zu einem neuen
Schreckenssysteme hin aufspannen und Blutscenen, ja Würgereien erregen, welche den
Ausschweifungen der französischen Revolution gleichkommen, oder sie wol gar noch
überbieten."
|
{1} Fußnote von S. 31 ergänzt. |
S. 31 Sp. 2 |
FREIHEIT |
|
|
sind unbeachtet geblieben. Man hat namentlich in Teutschland Nichts gethan, das
Volk über den wahren Sinn der politischen Freiheil aufzuklären, was ohne Zweifel am besten durch
wirkliche, im Wege Rechtens durch zeitgemäße Reformen bewirkte Gewährung derselben geschehen
sein würde. Man hat im Gegentheil die Entwickelung derselben fortwährend zu hemmen gesucht, die
Censur geschärft, die staatswissenschaftliche Bildung auf den Universitäten, besonders seit den
karlsbader Beschlüssen, gehemmt, welche schon Wilhelm von Humboldt „schändlich, unnational,
ein denkendes Volk aufregend" genannt 95), und gegen welche auch die berliner Universität tapfer,
obwol vergeblich, protestirt hatte 96).♦ |
|
|
Man hat die billigsten Anfoderungen des Volks und seiner Vertreter, die
bescheidensten Bitten um endliche Gewährung der ihm von Rechtswegen gebührenden und selbst von
den Regierungen vor länger als einem Menschenalter officiell verheißenen politischen Freiheit
schnöde zurückgewiesen — und so ist denn endlich in diesem Jahre nach den Februarereignissen in
Frankreich (welches übrigens zur Klage über verweigerte Volksfreiheiten, geschweige denn zu einer
Revolution tausend Mal weniger Ursache hatte, als Teutschland) unser Vaterland in jene, auch von
Andern 97) vorher verkündigte, Katastrophe gerathen, die mit Recht als eine Revolution bezeichnet
wird, da durch sie das früher zu Recht bestandene Staatsprincip wirklich zerstört worden, obwol die
Dynastien bis jetzt unangetastet geblieben sind. Wol hat uns dieselbe bereits politische Freiheiten in
Hülle und Fülle gebracht, soweit selbige durch Volks-und Parlamentsversammlungen und
Concessionen der Regierungen decretirt werden kann; aber noch immer 98) ist der
|
|
|
- 95) Schlesier, Wilhelm von Humboldt's Leben II, 388.
- 96) Böckh,
Gedächtnißrede am 3. Aug. 1847. S. 16 fg.
- 97) Namentlich von Droysen in der Hall. Allgem. Lit.-
Zeit. 1845. Januar. S. 24 fg. Arndt, Schr. an s. lieben Teutschen. 1843. 3. Bd. S. 421 fg. 611 fg.
Bülow-Cummerow, Die europäischen Staaten. 1845 (vergl. Allgem. Zeit. 1845. Nr. 326 vorn 22.
Nov. Beil.); dessen Politische und finanzielle Abhandl. 1844. Heft 1. S. 182. Teutsche
Vierteljahrschrift. 1846. Nr. 36. S. 194 fg. Görres, Histor.-polit. Blätter. 1847. Heft 19. S. 607.
- 98)
Wir schreiben dies Ende Oktobers (1848).
|
|
S. 32 Sp. 1 |
FREIHEIT |
⇧ Inhalt |
|
Ausgang dieser Katastrophe zweifelhaft; noch immer ist es ungewiß, ob von ihr an
wirklich eine neue Ära der wahren politischen Freiheit beginnen wird. Gewiß ist nur soviel, daß die
bereits vorher herrschende Begriffsverwirrung in Bezug auf politische Freiheit sich noch
außerordentlich vergrößert hat, seitdem Politik die Parole und Freiheit das allgemeine Feldgeschrei
geworden, und Jedermann ohne Ausnahme sich für verpflichtet und befugt hält, über die wichtigsten
Staatsfragen abzuurtheilen, obwol schon Goethe dies Unwesen treffend charakterisirt hat 99). Den
besten Beleg dafür gibt die Menge mißverstandener politischer Begriffe, wie Volk, Volkswille,
Volkssouverainetät, Revolution, Reaction, Demokratie, Republik, Organisation der Arbeit u. s. w.
u. s. w., die seitdem allgemein in Umlauf gekommen sind und die Köpfe ganz verwirrt haben.
|
|
|
- 99) „Was ich mir gefallen lasse?
- Zuschlagen mag die Masse!
- Dann ist sie
respectabel.
- Urtheilen gelingt ihr miserabel!"
|
|
S. 32 Sp. 1 ⇩ |
|
|