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Allgemeine Encyclopädie HIS-Data
5139-1-69-340-2-1
Erste Section > Neunundsechzigster Theil
Werk Bearb. ⇧ 69. Th.
Artikel: GLEICHHEIT I
Textvorlage: Göttinger Digitalisierungszentrum
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Inhalt:
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  GLEICHHEIT (Parität) überhaupt, insbesondere Rechts- und politische Gleichheit und die dahin gehörigen Begriffe Gleichheits-Apostel, Gleichheits-Rede oder -Predigt, Gleichberechtigung, Gleichmacherei, Gleichmäßigkeit, Gleichstellung (in sprachlicher und logischer, anthropologischer und cultur-geschichtlicher, natur- und völkerrechtlicher, politischer und socialer Beziehung). –
  I. Gleichheit überhaupt im ursprünglichen und wörtlichen Sinne bezeichnet die Eigenschaft oder Beschaffenheit eines Dings oder Denkobjects, in und vermöge welcher es mit einem oder mehren andern Dingen oder Denkobjecten mehr oder weniger oder ganz in Ansehung seiner Merkmale übereinstimmt; somit jedenfalls immer einen relativen Begriff, in sofern jenes Prädicat nur unter Voraussetzung der Vergleichung mit einem andern Gegenstande gegeben werden kann.♦
  Eine absolute oder völlige Gleichheit findet sich demgemäß nur in den reinen Denkobjecten (wofür die Logik und reine Mathematik die Beispiele liefern, wie den Satz der Identität, die Gleichheit der stetigen oder discreten Größen u. dgl. m.); in der Natur oder Wirklichkeit gibt es streng genommen keine zwei Dinge, welche einander durchaus gleich wären, da sie bei einer solchen Gleichheit gar nicht zu unterscheiden sein würden. (Dies ist das von Leibnitz aus dem Satze des zureichenden Grundes abgeleitete sogenannte principium indiscernibilium, der Satz des Nichtzuunterscheidenden; vergl. Leibn. Opp. ed. Dutens II. P. I. p. 128. 146.)♦E
  Im gemeinen Leben wird wie auch selbst in der Wissenschaft diese Sache nicht so streng
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  genommen, wie schon die sprüchwörtliche Gleichheit „wie ein Ei dem andern" beweist und jener Begriff im Allgemeinen dahin bestimmt, daß Gleichheit in der Regel nur in der völligen Übereinstimmung einiger Merkmale, Verhältnisse oder Umstände besteht, welche aus dem Zusammenhange ersehen werden müssen, sodaß kein merklicher Unterschied zwischen den verglichenen Dingen oder Denkobjecten sich zeigt; und zwar muß diese Gleichheit sich auf das Wesentliche jener Merkmale beziehen.
  Nur in dieser modificirten Bedeutung, wonach in den meisten Fällen eigentlich streng logisch genommen nur eine Ähnlichkeit gemeint wird, kann demgemäß von einer Gleichheit, namentlich in den menschlichen Verhältnissen — in der Culturgeschichte der Menschheit überhaupt, sowie insbesondere im Gebiete des Rechts- und Staatslebens — die Rede sein. „Lasset uns Menschen machen, ein Bild das uns gleich sei," 1 Mos. 1, 26 ist natürlich nicht in demselben Sinne zu nehmen wie „Herr, wer ist dir gleich unter den Menschen?" 2 Mos. 15, 1 oder „Herr, es ist dir keiner gleich unter den Göttern," Ps. 86, 6.♦
  Dies ist besonders in sofern wichtig, als in der Menschengeschichte die Idee der Gleichheit wie die der Freiheit, wenigstens bei den edleren und civilisirten Völkern von jeher eine Hauptrolle gespielt hat und noch gegenwärtig spielt, wobei der Misbrauch, den man von dieser Idee gemacht hat, seinen Hauptgrund in der Verkennung der Relativität dieses Begriffs hat, sowie in dem falschen Sprachgebrauchc, den man damit verbindet, oder in der Verwechselung der absoluten und relativen Gleichheit; weshalb Einige letztere blos als Ähnlichkeit bezeichnet wissen wollen. „Die genauere Unterscheidung der Wörter „„gleich"" und „„ähnlich,"" sagt in dieser Hinsicht Eberhard (Synonym der t. Sprache 1826. III. S. 213), ist in den gegenwärtigen Zeiten nöthiger als jemals.♦
  Alle Menschen sind sich darin ähnlich, daß sie Menschen sind, aber sie sind weder gleich an Kräften des Geistes noch des Körpers, auch können sie nicht immer in Ansehung der Größe ihres Eigenthums gleich bleiben, es wird immer Reiche und Arme in unendlich vielen Abstufungen geben. Endlich wird es schon vor der Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft einen Unterschied der Stände geben; denn auch im Naturstande können Menschen andern dienen und es gibt Herren und Diener auch in der vollkommensten Demokratie. Ebenso wenig kann es in irgend einer Staatsverfassung eine vollkommene Gleichheit der Stände (richtiger aller Staatsgenosscn) geben; denn sie wird Regierende und Regierte haben, und diese gehören zu ungleichen Ständen.♦
  Bei all dieser Ungleichheit bleiben sich aber alle Menschen ähnlich und dies drückt die französische Sprache sehr gut durch semblable aus; wir müssen sagen: Mitmensch. Ein jeder kann sagen: Tous les hommes sont mes semblables, mais tous les hommes ne sont pas mes égaux: alle Menschen sind meine Mitmenschen, aber nicht alle sind meines Gleichen." — In diesen Begriffsbestimmungen ist viel Wahres und
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  Beherzigenswerthes enthalten; haben wir Teutsche ja im sogenannten tollen Jahre (1848) erlebt, daß der demokratische Gleichheitsschwindel und Hochmuth à la française das alte gute, bei den freieren der europäischen Nationen, der englischen, im besten Credit und Gebrauch stehende Wort „Unterthan" ausmärzen wollte (s. Allgem. Zeitung vorn 19. Juli 1848. Beilage S. 3065; diese Narrheit kam übrigens schon früher vor, vergl. Wieland's Deutschen Merkur 1794. St. 3. S. 281 Note).♦
  Allein es erscheint doch wunderlich, grade der französischen Sprache in diesem Punkte eine Art von Vorzug zu vindiciren, da im Gegentheil bei keiner andern Nation die Idee der Gleichheit so falsch verstanden und als berüchtigte Egalité sich geltend gemacht hat, wie selbst Chateaubriand (über die Restauration und die Wahlmonarchie 1831) anerkannte und später noch näher angegeben werden wird. Auch wäre es wider allen Sprachgebrauch und höchst sonderbar, wenn wir des möglichen Misbrauchs wegen nicht sagen sollten, daß alle Menschen „unsers Gleichen" sind, da dies richtig verstanden, doch unbestreitbare Wahrheit ist. „Vor Gott sind alle Menschen gleich!" — „Wir wissen aber, wenn Er (Christus) erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden." Hebr. 2, 17; Philipp. 2, 7.
  Dieser allgemeine Sprachgebrauch bewährt sich auch in manchen Sprüchwörtern bei den verschiedensten Nationen. So schon in der Odyssee (XVII. V. 218):
  „Wahrlich, das heißt wol recht, ein Taugenichts führet den andern!
Wie doch stets den Gleichen ein Gott gesellet zum Gleichen."
  Besonders reich ist hierüber die teutsche Sprache, vergl. Wille, Die Sittenlehre in Dcnksprüchen S. 81; Simrock, Deutsche Sprichwörter; Prantl, D. Philos. in d. Sprichwört. 1858. S. 21; s. Körte, Sprüchw. der Deutschen II. S. 160: „Gleich und Gleich gesellt sich gern" (altgriechisch), der Engländer: Like loves like. — Birds of one feather, flock together. Der Franzose: Qui se ressemblent, s’assemblent. — „Gleich bei Gleich macht langen Frieden." — „Gleich sucht sich; Gleich find't sich." „Seed de Düvel, un kam Tom Kohlenbrenner" (Holsteinisch, ebenso Englisch). — Der Schwabe sagt: „Hutsch find't sein Hätsch" und „Hudcl findet Lumpen." — „Gleich Mann, gleich Magd, gleicher Ehestand; Die Gleichheit ist der Liebe Band." — „Das Gleiche sucht sich, das Rechte find't sich." — „Es ist Nichts so gering und klein, Es will bei seines Gleichen sein" — „Gleiches Blut, gleiche Gluth und Jahre, Machen die besten Paare." (Ebenso Englisch.)
  „Wenn wir zusammen All' wären reich,
Und einer wär' dem Andern gleich,
Und wären All' zu Tisch gesessen:
Wer wollt' austragen uns das Essen?"
  Ganz ähnlich ein türkischer Spruch, den v. Hammer in seinem „Morgenländischcn Kleeblatt" mittheilt:
  „Du bist der Herr und ich bin der Herr, wer striegelt das Pferd dann?"
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  Auch unsere großen Dichter-Dioskuren haben zum Verständniß dieses Begriffs allerlei Beiträge geliefert; so Goethe in den sprüchwörtlichen Xenien:
  „Und wer durch alle Elemente,
Durch Feuer, Lust und Wasser rennte,
Der wird zuletzt sich überzeugen,
Er sei kein Wesen ihres Gleichen."
  „Warum tanzen Bübchen und Mädchen so gern?
Ungleich
dem Gleichen bleibet nicht fern."
  „Dagegen die Bauern in der Schenke
Prügeln sich gleich mit den Beinen der Bänke.
Der Amtmann schnell das Übel stillt,
Weil er nicht für ihres Gleichen gilt."
  Sodann in dem Epigramm „Egalité:“
  „Das Größte will man nicht erreichen,
Man beneidet nur Seines-Gleichen;
Der schlimmste Neidhart ist in der Welt,
Der Jeden für Seines-Gleichen hält."
  Ebenso Schiller in den schönen, die relative und absolute Gleichheit, soweit dies hienieden möglich, vermittelnden Worten:
  Gleich sei Keiner dem Andern; doch gleich sei Jeder dem Höchsten!
Wie das zu machen? Es sei Jeder vollendet in sich."
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HIS-Data 5139-1-69-0340-2-1: Allgemeine Encyclopädie: 1. Sect. 69. Theil: Gleichheit I HIS-Data Home
Stand: 13. November 2017 © Hans-Walter Pries