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IV. Wir wenden uns jedoch jetzt zu der Geschichte der Verwirklichung der Idee,
die Gleichheit in der neuern christlichen Ära. Wie schon früher angedeutet, bildet in
culturgeschichtlicher Hinsicht für die Geltendmachung der Idee der Gleichheit im wirklichen Leben
das Christenthum in mehrfacher Beziehung den eigentlichen Wendepunkt. Schon nach seiner
allgemeinsten Welt- und Lebensansicht ergibt sich dies, wie es denn auch durch die speciellen Gebote
desselben bestätigt wird.♦ |
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Nach ihm sind alle Menschen von einem gemeinschaftlichen Schöpfer
hervorgebracht, aus einem gemeinschaftlichen Stamme entsprungen, Alle haben sich daher als Brüder
auf gleiche Weise als zur Kindschaft Gottes berufen anzusehen, über Alle wacht die gleiche specielle
Vorsehung, Alle sind auf gleiche Weise einer gemeinschaftlichen Schuld verfallen, „alle Sünder
allzumal, die ermangeln des Ruhms, den sie vor Gott haben sollen," Alle der gleichen Erlösung
bedürftig, sowie Allen die gleichen Gesetze vorgeschrieben, Allen die gleichen Strafen gedroht,
sowie die gleichen Belohnungen in Aussicht gestellt werden; namentlich gilt die vollkommenste
Gleichheit für Alle in Bezug auf die persönliche Unsterblichkeit und das jüngste Gericht, wo jeder
den Lohn oder die Strafe für sein irdisches Dasein zu gewärtigen hat (Ps. 62, 9; Prov. 22, 2; Matth. 7,
12; 12, 50; 18, 4; Lucas 9, 48; Matth. 20, 25. 26; Marcus 10, 42 — 44; Lucas 22, 25 — 27; Matth. 23,
10—12; Marc. 9, 35; Luc. 14, 11; Marc. 12, 31; Luc. 16, 19 fg.; Joh. 13, 13-15; Apostelgesch. 10, 34;
17, 26; Jacobi 2, 1. 9; Röm. 3, 23; 5, 19; Gal. 1, 26. 28; 4, l fg. |
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Hierdurch wurde zugleich die antike Weltansicht principiell widerlegt, welche nur
den Staat und das positive Recht als das höchste anerkannte, nicht die höhere Bedeutung der Urrechte
der Menschheit und der Persönlichkeit, sowie der Pflicht. Daher konnte sich erst im Christenthume das
Bewußtsein von allgemeinen Menschenrechten entwickeln, aus denen später das Naturrecht als
eigenthümliche Wissenschaft hervorging 37), sowie dann auch der moderne Staat, dessen Idee eben
die Anerkennung des (richtig verstandenen) demokratischen Princips ist (welches nicht mit der
bloßen Staatsform der Demokratie verwechselt werden darf und nicht dem monarchischen, sondern
dem aristokratischen Principe gegenüber steht) 38). Sehr
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- 37) Fülleborn, Beitr. zur Gesch. der Philosophie. H. IV. S. 175; Fries, Beitr. z.
Gesch. d. Philos. 1819. I. S. 4.
- 38) Vergl. v. Gagern, Result. Der Sittengesch. 3. Bd. im Anfang.
Scheidler, Propäd. der prakt. Philos. S. 110 fg.; dessen Publicist. Beleucht, d. N. Gespräche des
General v. Radowitz. 1852 S. 135.
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richtig sagt Venedey 39): „Alle (bürgerlichen) Gesellschaften waren, bevor
Christus für die Armen und Unglücklichen gepredigt, bevor er seine Lehren mit seinem Blute
besiegelt hatte, auf den Grundsatz des Rechts, der Rechte der Person, der Kaste oder des Volks gefußt.
Der Bürger der alten Welt legte seinen Sklaven in Ketten oder tödtete ihn und behauptete ein Recht
dazu zu haben. Der Ritter, die Aristokratie bemächtigte sich der Regierung, des Befehls der Heere,
eignete sich die Beute zu und fußte dabei auf ihr Recht, Die Aristokratie erhob sich gegen das
Königthum, indem sie das Recht, den Staat zu regieren, selbst in Anspruch nahm; das Volk empörte
sich gegen die Aristokratie, um das Recht zu fordern, sich mit ihr in die Beute und in die Regierung
zu theilen; der Sklave endlich sprengte seine Kette, um die Rechte des Bürgers zu verlangen.♦ |
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Wenn man vor Christus von einer Pflicht sprach, so geschah dies nur, um ein
Recht in Anspruch zu nehmen. Der Sklave dachte an die Pflicht seines Herrn gegen ihn, gegen den
Menschen in ihm und empörte sich, um sie zu verlangen. Der Plebejer sprach von der Pflicht des
Ritters, indem er dieselbe für sich als ein Recht in Anspruch nahm. Aber weder der Sklave, noch der
Plebejer, noch der Ritter sprechen von den Pflichten gegen diejenigen, die mit ihnen auf gleicher oder
auf einer tiefern Stufe in der Gesellschaft standen. Christus verkündigte die Pflicht! Die Menschen
sind gleich, ist der Grundsatz derselben, und die Formel heißt: Was du nicht willst, daß dir geschehe,
das thue keinem Andern." —♦ |
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Auch einer unserer berühmtesten Staatsgelehrten, Karl Salomon Zachariä, den
man mit Recht unsern „teutschen Montesquieu" genannt, hat nachgewiesen, wie das Christenthum
vermöge jener Grundansicht von der Gleichheit der Menschenwürde das demokratische Princip
vorzugsweise in das Leben gerufen hat (in dem Aufsatze in Pölitz, Jahrb. Apr. 1839 über die heutige
Stellung der Hierarchie der röm.-kathol. Kirche im Staate): „die christliche Religion ist ihrem
ursprünglichen Geiste und ihrem politischen Charakter nach der Volksherrschaft, d.i. derjenigen
Verfassung und Gesetzgebung verwandt, welche auf dem Grundsatze der rechtlichen Gleichheit
beruht. Denn das Christenthum predigt die Lehre von der Gleichheit aller Menschen vor Gott. Es
verlangt, daß weil Christus für alle Menschen den Tod am Kreuze erlitten hat, ein Jeder in einem
jeden andern Menschen den Bruder erkenne und achte. Es zieht eine Scheidelinie zwischen dem
Gehorsam, welcher dem Staate, und dem, welcher Gott gebührt; und, indem es in Religionssachen für
seine Bekenner Unabhängigkeit vom Staate in Anspruch nimmt, enthält es theils unmittelbar, theils
mittelbar die Aufforderung, den Wirkungskreis der Staatsgewalt durch die Verfassung des Staats zu
beschränken. —♦ |
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Besonders aber entsprach die innere Organisation
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- 39) Römerthum, Christenthum und Germanenthum (Frankf. 1840.) S. 20
fg.
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der Hierarchie, welcher in der That das demokratische Princip zum Grunde lag,
dem Interesse der gemeinen Freiheit und dem der untersten Classen der bürgerlichen Gesellschaft.
Ein jeder im Volke, wenn er nur ehelicher Geburt war und die etwa erforderlichen Kenntnisse hatte
(und die Anforderungen, die man in dieser Beziehung machte, waren mäßig genug), konnte zu den
Weihen, d.i. zur Aufnahme in den geistlichen Adel gelangen, ein Jeder also der besonders im
Mittelalter wichtigen Vorrechte theilhaft werden, welche mit der Eigenschaft eines Geistlichen
verbunden waren. Und ebenso konnte sich ein jeder Geistliche durch sein Verdienst und ohne
Rücksicht auf seine Ahnen bis zu den höchsten Würden in der Kirche emporschwingen." —
Allerdings lag schon in dieser Organisation eine Anerkennung der Idee der Rechtsgleichheit, indem
damals dem Verdienste die Bahn geöffnet ward, wie denn u.A. der Papst Sixtus V. in seiner Jugend
bekanntlich ein Schweinehirt war! |
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Diese Anerkennung der Gleichheit aller Menschen vor Gott, welche das
Christenthum lehrte, fand indessen nur in dem germanischen Volksthume den geeigneten Boden, in
welchem der edle Same aufgehen und schöne Früchte tragen konnte, weil dieser Boden schon
ursprünglich dafür bereitet und jenes Volksthum für diese Weltreligion auch in dieser Beziehung
gleichsam prädestinirt war. Diesen Punkt hat wol am besten Wolfg. Menzel in folgenden Worten
entwickelt 40): |
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„Das Gemeinsame, was alle Teutschen hatten, überwog bei weitem die
Stammunterschiede. Wir müssen annehmen, daß einst alle Nomaden, d.h. wandernde Jäger und
Hirten waren, als sie ins Land kamen. Von den Sueven ist uns die Nachricht erhalten, wie sie Anfangs
den Grund und Boden nur (als Almenden) an ganze Stämme oder Gemeinden vertheilten, noch nicht
an einzelne Familien; aber im Verlaufe der Zeit führten auch sie, wie die niederteutschen Stämme das
Privatgut (Allod) ein. Dieser allmalige Übergang begründet gar keinen wesentlichen Unterschied unter
den teutschen Stämmen. Der Mann war die Hauptsache, nicht das Gut. Alle Teutschen waren Krieger.
Irman heißt auf Persisch ein Gast oder Waffenbruder, Germanus auf Lateinisch ein Bruder. Freie,
einander gleichgestellte und brüderliche Helden waren alle. — Die Teutschen haben sich schon in
sehr früher Zeit und ohne Ausnahme von den übrigen Hordenvölkern im Norden des Kaukasus, den
Slaven und Tartaren, unterschieden, und ebenso von den südlichen Hordenvölkern in Persien,
Afghanistan, Arabien. Alle diese letztern denken sich in dem Verhältnisse von Kindern zum Vater,
unterwerfen sich stets der Oberherrschaft eines Einzigen, und errichten, wenn sie durch Vermehrung
des Stammes und glückliche Eroberungen zu großer Macht gelangen, prachtvolle Fürstenthröne, worin
sie alles Herrliche der Erde zusammenhäufen und in fabelhafter Schönheit durch die ganze Wett
strahlen
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- 40) Menzel, Geschichte der Deutschen I. S. 13.
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lassen. Ihr Traum ist immer ein feenartiger, mit allen Zaubern der Phantasie
geschmückter Königssitz und sie haben ihn im alten wunderreichen Babylon, in Persepolis, in Delhi,
Bagdad, Ispahan, Stambul etc. verwirklicht.♦ |
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Die Teutschen haben sich dagegen im Verhältnisse von Brüdern zu Brüdern
gedacht, sich für gleich gehalten, und auch, wenn sie zahlreich und mächtig wurden und sich unter
großen Heerführern vereinigten, doch immer die ursprüngliche Gleichheit behauptet und durch ihre
freie Verfassung gesichert. Jeder war für sich frei und sein Gut ihm eigen, in der Volksversammlung
jedes Gaues entschied die Mehrheit unter dem Vorsitze des Ältesten. Nur im Kriege gehorchten sie
den gewählten, auf den Schild erhobenen Anführern und nur für die Dauer des Kriegs.♦ |
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Selbst nach der großen Völkerwanderung und nachdem die Teutschen schon
beinahe Tausend Jahre lang mit den Römern in Noth und Glück gestritten und die unaufhörlichen
Kriege die Macht der Heerführer verlängert und befestigt hatten, finden wir dennoch überall, soweit
die teutsche Zunge reichte, von Island und Norwegen herab bis zu den in Italien und Spanien
eingewanderten Gothen, die uralte freie Gau- und Wehrverfassung wieder, die noch bis tief in die
christliche Zeit dauerte, und aus der auch später noch die neuen Bruder- und Genossenschaften der
Ritterorden und bürgerlichen Gilden und Innungen hervorgingen.♦ |
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In England, der Schweiz und Holland pflanzte sich die altteutsche Freiheit beinahe
ununterbrochen bis auf unsere Tage fort, und in den meisten andern ursprünglich teutschen oder
germanisirten Ländern ist sie durch neue Verfassungen wieder geweckt worden. Der freie Vertrag
unter gleich berechtigten und gleich verpflichteten Genossen war die Seele des altteutschen
Volkslebens und der Grund, in dem die ganze teutsche Geschichte wurzelt. Die Freiheit ist bei uns
viel älter, als die Knechtschaft. Sie lag und liegt noch in unserer Natur, in unserem Nationalcharakter.
Sie wächst, oben abgedorrt, von Unten wieder frisch. Die Freiheit, sagte schon der römische Dichter
Lucanus, ist ein teutsches Gut (libertas germanicum bonum). Es ist ein Wunder, sagte der römische
Geschichtschreiber Florus, daß die Teutschen schon von Natur haben, was die Griechen mit aller
Kunst nicht erreichen. Alles, sagte der große englische Geschichtschreiber Hume, Alles, was noch in
der Welt ist an Freiheit, Ehre, Edelmuth und Würde, verdanken wir diesen großmüthigen Barbaren.
Die Freiheit, sagt der Franzose Montesquieu, diese schöne Sache, ist in den teutschen Wäldern
erfunden worden." |
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Freilich entwickelte sich das Christenthum ebenso wenig wie das germanische
Volksthum im Laufe der Zeiten keineswegs seinem ursprünglich demokratischen Charakter gemäß,
vielmehr bildete sich sehr bald eine geistliche Aristokratie oder Hierarchie 41), ja ein
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- 41) Plank, Gesch. der kirchl. Ges. 1. Bd.; Gieseler, Kirchengesch. I, 187; K.
Fr. Eichhorn, Kirchenrecht S. 11.
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Papstthum oder ein absoluter, autokratischer Monarchismus aus, der indessen, wie
einmal die damaligen Zeiten nach dem Chaos die berüchtigten „Völkerwanderungen" waren, als ein
nothwendiges Übel, ja als eine Wohlthat von der Geschichte erklärt wird, wie schon Joh. Müller's
„Reisen der Päpste" gut nachgewiesen haben 42). In Verbindung mit dem urgermanischen
Lehenswesen 43) bildete sich ein System der Hierarchie oder des Feudalismus s. str., welches im
Grunde dasselbe war (der Streit zwischen Kaiser und Papst, weltlichen und geistlichen Fürsten, betraf
nur den ersten Platz!) und fast ein Jahrtausend auf unserer Nation gelastet hat, in welchem die
altgermanische Freiheit und Gleichheit nach und nach völlig unterging.♦ |
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In seinem Fundamente erschüttert wurde dies System erst durch die Reformation,
die, wie schon öfters nachgewiesen 44), eben nur aus dem teutschen Geiste und Rechtssinne
hervorging. „Luther ist der freieste Sprecher für Volksrechte gewesen und von ihm ausgegangen ist
die folgenreiche Anerkennung eines alle Bestandtheile der Staatsgesellschaft umfassenden
Gemeinwohls" u. s. w. 45). Vor Allem aber ist die Reformation wichtig durch die Wiederherstellung
des christlichen Urgedankens des allgemeinen Priesterthums aller Gläubigen (1 Petr. 2, 9), durch die
Beseitigung des Ungedankens eines vor Gott bevorrechteten Klerus im Gegensatze der Laien; daher
denn der Protestantismus eine gleiche Religionsgesellschaft ist mit dem unsichtbaren Oberhaupte
Christus. |
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Mit der Bekämpfung und Verwerfung des Papstthums und des Ultramontanismus
hing zugleich die der Berechtigung der einzelnen Nationalität zusammen, indem früher die
verschiedensten Völker auf gleiche Weise unter der Oberherrschaft des römischen Oberbischofs oder
sogenannten Papstes standen, jetzt aber die edlern unter ihnen nun dies Joch abzuwerfen trachteten,
was bekanntlich den Franzosen durch die sogenannten „Freiheiten der gallicanischen Kirche" im 17.
Jahrh. gelang, ohne daß sie dem Katholicismus entsagten, aber freilich nur, indem sie dem
Cäsareopapismus verfielen 46). |
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Leider! entwickelte sich auch die Reformation namentlich in Teutschland nicht
ihrem wahren Principe gemäß, wie Wachler in seiner „Geschichte der Literatur" näher gezeigt hat (1.
Bd. S. 12) und bekannt genug ist, daß erst mehrhundertjährige Kriege vorangehen mußten, bis nach
der niederländischen, englischen und nordamerikanischen Revolution endlich die französische
erschien, mit der (wie Wachs-
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- 42) Joh. Müller, Werke. 1831. 11. Bd. S. 146. Vergl. Leo, Gesch. der Italien.
Staaten I, 153. V, 13 fg.; Wachsmuth, Europ. Sittengesch. II, 191.
- 43) Tacit. Germ. c. 13. Vergl.
Schmitthenner, 12 Bücher vom Staate. 3. Bd. S. 193; K. Sal. Zachariä, Kampf d. Grundeigenth. u. d.
Grundherrlichkeit. 1832. S. 20 fg.
- 44) Heeren, Kl. hist. Schriften. l. Bd.; Fichte, Reden an die
deutsche Nation S. 178 fg.; Vollgraff, Polit. 3. Bd. am E.
- 45) Wachler's Philomathie. 1. Bd. S. 156.
- 46) Vergl. Scheidler in Bran's Minerva „Die Unterrichtsfrage in Frankr. und die sogen. Freih. der
gall. Kirche." 1844. Juni und Juli.
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muth richtig sagt) unsere Zeit beginnt 47). Diese vervollständigte das Beginnen
der Reformation, die orientalischen, in das Christenthum eingedrungenen, hierarchischen und
despotischen oder aristokratischen Ansichten zu beseitigen und den echten Ideen der Freiheit und
Gleichheit, somit dem wahren Rechtsstaate die Bahn zu brechen, deren Verwirklichung aber
ebenfalls nur dem teutschen Geiste möglich sein wird, wie Fichte in s. Staatslehre 1820. S. 60 fg.
gezeigt hat 48).♦ |
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Die sogenannte französische Revolution ist zugleich die der gesammten
Menschheit, und namentlich auch unsere, wie Arndt in s. „Schriften an und für s. lieben Deutschen"
1845. 2. Bd. S. 83 und früher schon in s. „Geist d. Zeit." 4. Bd. S. 242 nachgewiesen. Nur haben eben
die Franzosen es gar nicht vermocht, die wahre Idee jener welthistorischen Thatsache auch nur zu
begreifen, weit weniger sie im Leben zu verwirklichen; am wenigsten grade die echte Idee der
Rechtsgleichheit, obwol sie oder vielmehr eben weil sie auf diese vor Allem am meisten „versessen"
waren. Voran waren ihnen die englischen Gleichmacher („levellers“) gegangen, die sie nun zu
überbieten suchten, und in der That leisteten sie darin das Außerordentlichste — in der Carricatur
derselben! Nicht nur hoben sie in der Nacht vom 4. Aug. 1789 Knall und Fall den mehr als
tausendjährigen Adel auf, sondern sie wollten ja sogar — wie Lady Morgan in ihrer „Reise durch
Frankreich" erzählt, — den ehrwürdigen strasburger Münster dem Boden gleich machen, auf daß er
sich nicht so stolz über die Häuser des dortigen Philistergesindels erhöbe. Indessen gelang ihnen nur,
einzelne Bildsäulen u. dgl. m. zu zertrümmern! |
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Der Haupturheber dieses Unsinns war bekanntlich der Genfer Rousseau mit seinen
grundverkehrten Ansichten vom Ursprunge der Ungleichheit im Menschengeschlechte, vom
sogenannten Naturstande und vom sogenannten contrat social, aus welchem allem sich der wahre
Götzendienst der Gleichheit entwickelte, woran die Franzosen noch bis zur Stunde laboriren. Und
doch hatte schon Montesquieu früher schon ganz richtig bemerkt: „Himmel und Erde sind nicht so
weit von einander entfernt, als es der echte Geist der Gleichheit von dem Geiste der übertriebenen
ist. Die wahre Gleichheit besteht nicht darin, daß einer wie der andere zu befehlen oder daß Niemand
dem andern zu gehorchen habe, sondern daß man nur seines Gleichen gehorche. Er arbeitet nicht
dahin, unter gar keinem Gebieter zu stehen, sondern nur unter solchen, die man aus seiner Mitte
gewählt hat. Im Stande der Natur waren zwar die Menschen einander gleich geboren, aber sie können
es nicht bleiben. Der gesellschaftliche Zustand hebt die Gleichheit auf und nur durch das Gesetz
wird er wieder hergestellt."♦ |
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Auch verdient in Erinnerung gebracht zu werden, daß der berühmteste
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- 47) Wachsmuth, Europ. Sittengeschichte. 5. Bd. Abth. 2. S. 753 fg.
- 48)
Vergl. Scheidler, Propädeutik der prakt. Philosophie. 1851. S. 119 fg.
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und einflußreichste aller Apostel der modernen Aufkärung Voltaire, welchen
Cousin erst noch neuerdings nicht mit Unrecht als den „König des 18. Jahrh." bezeichnet hat,
jedenfalls an der falschen französischen Auffassung der Idee der Gleichheit unschuldig ist. Er sagt
nämlich 49): „Jeder Mensch bringt eine hinlänglich lebhafte Neigung mit zur Welt zum Herrschen,
zum Reichthum, zum Vergnügen und dazu einen großen Geschmack an der Trägheit. Darnach würde
jeder Mensch wünschen, das Geld, die Frauen und Töchter der Andern zu besitzen, ihr Herr zu sein,
sie allen seinen Launen zu unterwerfen, Nichts zu thun oder doch nur mit sehr angenehmen Dingen
sich zu beschäftigen. Ihr seht wol, daß die Menschen bei diesen schönen Anlagen unmöglich gleich
sein können. Das menschliche Geschlecht, sowie es ist, kann nicht bestehen, ohne daß es eine große
Menge nützlicher Menschen gibt, die Nichts besitzen; denn gewiß wird ein Mann in behaglicher
Lage nicht seinen Landsitz verlassen, um den Eurigen anzubauen, und wenn Ihr ein Paar Schuhe
bedurft, so wird es nicht ein Generalpächter sein, der sie anfertigt, die Gleichheit ist zugleich die
natürlichste und die allerchimärischste Sache, die vorgebliche Gleichheit der Menschen, welche einigt
Sophisten in die Mode bringen, ist eine verderbliche Chimäre. Wenn es nicht 30 Handlanger für
einen Meister gäbe, so würde die Erde nicht bebaut sein. Wer einen Pflug besitzt, braucht zwei
Knechte und mehre Taglöhner; je mehr Menschen es gibt, die kein Vermögen haben, als ihre Arme,
desto mehr wird das Land im Werthe steigen." |
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Alles dies ließ jedoch leider! Rousseau völlig unbeachtet. Er stellte bekanntlich an
die Spitze seiner Doctrin den Satz: „der Mensch ist frei geboren und überall findet er sich in Ketten"
(contrat social I, I). Dieser Satz hat dann, wie ebenfalls bekannt, in der ersten französischen
Revolution als Grundstein des Ganzen aufgestellten Declaration der Menschenrechte gleich in dem
ersten Artikel in der Formel Aufnahme gefunden: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten
geboren und bleiben frei und gleich an Rechten; die gesellschaftlichen Unterschiede müssen durchaus
auf den allgemeinen Nutzen gegründet sein."♦ |
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Es ist nun offenbar einleuchtend, daß der Ausdruck: „Die Menschen werden frei
geboren," zwar in dem Sinne, welchen auch unser Dichter adoptirt hat, daß sich die Unfreiheit oder
Sklaverei aus dem Rechtstitel der Geburt von unfreien Ältern nicht rechtfertigen läßt, oder mit andern
Worten, daß es ein angeborenes, unveräußerliches, aus dem Principe der Gleichheit als Urrecht
folgendes Recht auf Freiheit gibt, welches jeder Mensch nicht erst zu erwerben braucht, vollkommen
richtig ist — aber zugleich auch, daß diese Freiheit sich nur auf das rein persönliche oder
Privatverhältniß jedes Individuums bezieht und garnicht in die politische Freiheit umgedeutet werden
darf. Denn von dieser kann nur im Staate die Rede sein und jeder auf dem Gebiete eines solchen
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- 49) Siehe Weimar. Zeitung vorn 3. Mai 1851.
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Geborenen ist eben durch seine Geburt selber schon unvermeidlich in ein
Abhängigkeitsverhältniß gesetzt, welches sich in den verschiedenen Staaten auf das Mannichfachste
durch die bestehende Staatsform modificirt 50). Dazu kommt nun noch, daß die Menschen in dem
Sinne des Wortes, in welchem sie frei geboren werden, schlechterdings nicht frei bleiben können, da
ohne Beschränkung der sogenannten natürlichen oder im Naturstande möglichen Freiheit, wie bereits
gezeigt, an gar keine vernünftige Geselligkeit zu denken wäre. Ganz auf ähnliche Weise verhält es
sich mit den übrigen Bestimmungen jenes Artikels oder jener Formel in Betreff der Gleichheit, wie
dies schon Gentz in s. Übersetz. der Burke'schen Schrift nachgewiesen hat 51). |
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Nichtsdestoweniger und trotz der traurigen Erfahrungen, welche der „Misbrauch
rasender Thoren" von den an sich wahren Ideen der Freiheit und Gleichheit gemacht, ist doch fort und
fort die falsche Auffassung derselben im Gange geblieben. Dies zeigte sich am deutlichsten nach der
Julirevolution durch das Hervortreten des Socialismus und Communismus, der sich von da aus auch
in die Schweiz und nach Teutschland zu verbreiten begann. Derselbe war übrigens schon in der ersten
Revolution vom Jahre 1789 fg. hervor-
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- 50) „Es läßt sich nichts Unphilosophischeres denken als Freiheit ohne die
geringste Bestimmung unter den Rechten des Menschen auftreten zu lassen. Freiheit im höhern Sinne
ist der letzte Grund und die einzige Quelle aller Rechte. Wenn aber Freiheit als besonderes Recht des
Menschen behandelt wird, so kann nichts Anderes darunter zu verstehen sein, als daß Recht des
Einzelnen, die Freiheit in seiner Person zu erhalten und zu schützen. Dieses abstracte Recht ist von
dem so vielfältig bestimmten, welches politische Freiheit heißt, gewaltig unterschieden." Gentz,
Betrachtungen über die franz. Revol. II, 205.
- 51) „Der Ausspruch: die Menschen werden gleich an
Rechten geboren, ist in jeder Rücksicht und ohne alle Einschränkung falsch. Man mag den Termin, in
welchem der Mensch zum Genusse seiner Rechte gelangt, d.h. in welchem man ihn als ein Mitglied
der moralischen Welt und der gesellschaftlichen Verbindung zu betrachten anfängt, setzen, wohin man
will, in dem Augenblicke der Geburt, in dem Augenblicke des ersten deutlichen Bewußtseins, in die
Periode der Mannbarkeit, der Großjährigkeit, oder in welche andere frühere oder spätere Periode es
sei; der Satz: die Menschen werden mit gleichen Rechten geboren, bleibt immer gleich sinnlos. Der,
welcher von seinen Ältern ein ansehnliches Grundstück ererbt, kann unmöglich dem, der das leere
innere Vermögen, etwas zu erwerben, in die Welt bringt, an Rechten gleich sein. Denn wenn die
berühmte Maxime (wie es einigen Vertheidigern der Declaration beigefallen ist) nur das bedeuten
sollte, daß das Recht des Einen, wenngleich von zehnmal kleinerem Umfange als das Recht des
Andern, doch von gleicher Heiligkeit, oder: daß ein Recht als solches nicht mehr Recht wäre als ein
anderes Recht — so ließe sich nichts Dürftigeres und nichts Überflüssigeres denken, als dieser Satz,
der mit großem Pomp das bekannte Axiom ausdrückte: daß A = A ist. — Noch falscher und grundloser
wo möglich ist der Zusatz: daß die Menschen an Rechten gleich bleiben. Jeder, der etwas hervorbringt
oder erwirbt, erschafft sich ein neues Recht und vermehrt die Summe der Rechte, die er bisher
besessen hatte. Man begreift nicht, wie dergleichen Behauptungen, wogegen doch Vernunft und
Erfahrung sich so gewaltsam erheben, Ansehen und Credit bei einer Versammlung denkender Männer
und in einem der aufgeklärtesten Länder der Erde gewinnen konnten." Gentz, Betrachtungen über die
franz. Revol. II. S. 201 fg.
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getreten und von dem berüchtigten (1796 hingerichteten) Babeuf in folgenden
Worten formulirt worden: „Gleichheit, erster Wunsch der Natur, erstes Bedürfniß des Menschen, erste
Grundlage aller gesetzlichen Gesellschaftung! — — Und wir werden sie haben, die wirkliche
Gleichheit, gleichviel, um welchen Preis! Wehe denen, die wir zwischen ihr und uns finden: Wehe
denen, die einem so ausgesprochenen Gelübde sich widersetzen! — Die französische Revolution ist
nur die Vorläuferin einer viel größern, viel ernsteren Revolution, die die letzte sein wird. — Wir
wollen nicht allein die Gleichheit, die in der „Erklärung der Menschenrechte" niedergeschrieben ist;
wir wollen sie in unserer Mitte, unter dem Dache unsers Hauses. Wir geben uns ihr ganz hin; wir
wollen alles Gegebene vernichten und verneinen (faire table rase), um uns ganz an sie zu halten. —
Kein individuelles Eigenthum des Bodens mehr; der Boden gehört Niemandem. Wir fordern, wir
wollen den gemeinsamen Genuß der Früchte der Erde; die Früchte gehören Allen. — Lange genug,
zu lange eignete sich eine Million Individuen dasjenige an, was mehr als 20 Millionen ihrer
Mitmenschen, ihres Gleichen gehört. — Verschwindet, ihr empörenden Unterschiede von Reichen
und Armen, von Herrschern und Beherrschten. Der Augenblick ist gekommen, eine Republik der
Gleichen zu gründen, dieses große gastliche Haus (hospice), das Allen geöffnet ist. Kommt herbei, ihr
leidenden Familien und setzt euch an den Tisch, den die Natur allen ihren Kindern gedeckt hat! Volk
Frankreichs, öffne die Augen der Fülle deines Glücks, erkenne und verkünde mit uns die Republik
der Gleichen!" 52). |
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Dieses Utopien kam bekanntlich nicht zu Stande, vielmehr die Gewaltherrschaft
des großen „Universalerben der französischen Revolution;" aber die „Egalité“ war und blieb, nebst der
„ Gloire," „die Hauptleidenschaft der Franzosen," wie Chateaubriand ganz richtig gesagt hat 53).
Erklärlich ist es mithin, daß selbst einer der ausgezeichnetsten philosophischen Köpfe Frankreichs, der
Abbé Lammenais in seinen berüchtigten zwei Brandschriften: „Les paroles d’un croyant,“ 1834 und
„Le livre du peuple,“ 1838, diesen falschen Auffassungen huldigte 54).♦ |
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Den Grund der Übel, die das menschliche Geschlecht in der Gesellschaft
bedrängen, findet Lammenais nur in den politischen Institutionen, namentlich in der Ungleichheit
der Rechte, selbst in dem Privateigenthume, welches die Vorsehung verdammt. (La providence
maudit ces possessions solitaires. Le livre d. p. p. 8.) Persönliche Freiheit und Sonverainetät ist
dasselbe; nur durch sie ist der Mensch ein moralisches Wesen. Die collective Souverainetät aller
Einzelnen ist die
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- 52) Vergl. L. Stein, Der Socialismus und Communismus. 2. Ausg. (Leipzig
1848.) I. S. 468. Note.
- 53) Chateaubriand, Die Restauration und die Wahlmonarchie. 1831. (vergl.
Minerva. 1831. April. S. 93).
- 54) Vergl. Schmitthenner, 12 Bücher v. Staat I, 179 und Holzhausen
in Pölitz' Jahrbüchern. 1834. Sept.
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Souverainetät des Volks und diese unveräußerlich. Der Inhaber der öffentlichen
Gewalt hat blos den Willen des Volks zu vollziehen, also zu gehorchen, nicht zu befehlen. Denn das
Gesetz ist nur der Wille des Volks. (Toute loi à laquelle le peuple n’a point concouru, qui n’émane
point de lui, est nulle de soi. ib. p. 36. Grade wie Rousseau!)♦ |
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Nur die christliche Gleichheit ist den göttlichen Gesetzen gemäß; Patriziat, Adel,
Königthum, jede Prärogative, die nicht von dem Volke stammt, ist revolutionaire Usurpation,
wenigstens ein Keim der Tyrannei. (Y avoit-il des rois, des nobles, des patriciens et des plébéiens
avant qu'il y eût des peuples? Et si le peuple égal et libre pré-existoit à toute distinction, toute
distinction, si elle n‘est pas le fruit de la violence et du brigandage, dérive donc du peuple, de sa
volonté indépendante, de son impérissable souveraineté. Hors de là rien de légitime. Patriciat,
noblesse, royauté, toute prérogative, en un mot, prétend ne relever que de soi, se soustraire à la
volonté, à la souveraineté du peuple, est un attentat contre la société, une usurpation révolutionaire,
un germe au moins de tyrannie. Ibid. p. 38.) —♦ |
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Ohne Zweifel ist wol nie ärger von einem Philosophen das Christenthum in dieser
Beziehung misverstanden worden. Es ist dieser, auch späterhin öfters vorgebrachte Unsinn übrigens
sehr treffend in den „Histor.-polit. Blättern" im J. 1849. 23. Bd. H. I widerlegt und ebenso passend
gezeigt worden, wie die wahre christliche Gleichheit praktisch zu verwirklichen ist 55).
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- 55) „Das Christenthum lehrt uns, daß wir Alle Kinder eines Vaters sind,
dessen göttliches Ebenbild wir Alle an uns tragen und von dem wir unser tägliches Brod in dem
Vaterunser erbitten sollen. Es lehrt uns nichts minder, daß wir Alle von der alten Schuld befleckt,
schwache, sündhafte Menschenkinder sind; daß aber auch für Alle das sühnende Blut des Erlösers
geflossen ist, und daß Alle berufen sind, das entstellte göttliche Ebenbild wieder herzustellen, um,
nach bestandenem Kampfe, in dem gemeinsamen Vaterhause der ewigen Seligkeit zu genießen. Erben
der gleichen Verheißung, fordert es Alle auf, zur Erreichung ihres gemeinsamen Zieles, auf ihren
verschiedenen Lebenswegen, einander als Brüder in brüderlicher Liebe beizustehen und zu helfen. —
So versteht das Christenthum die Gleichheit und die Brüderlichkeit der Menschen. Fragen wir nun,
wie ist es um die Freiheit beschaffen, die uns das Evangelium lehrt: so ist seine Freiheit jene höchste
sittliche Freiheit, die uns keine Gewalt der Erde rauben kann, die Freiheit von Sünde und
Leidenschaft, die in Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung, den Willen Gottes, der vollkommen
ist wie er selbst, zu dem ihrigen macht, und sich in der Erfüllung dieses göttlichen Willens weder
durch die eigene Selbstsucht irren, noch durch das Machtgebot fremder Tyrannei, die wol den Leib,
aber nicht die Seele tödten kann, schrecken läßt. — Welches sind nun aber die Pflichten, die das
Christenthum mit dieser Freiheit, mit dieser brüderlichen Gleichheit für das thätige Leben
verbindet? — Den freien Willen des Menschen als sein theuerstes Gut anerkennend, richtet es an
diesen seine Forderungen. Liebe deinen Bruder wie dich selbst, so lautet das Gebot der christlichen
Gleichheit. Und jeder von uns soll in diesem Geiste freiwillig mit seiner Person und all dem Seinen
opferbereit dem Bruder die hilfreiche Hand bieten. Die Religion der aufopfernden göttlichen Liebe,
die am {1} Kreuze für fremde Schuld gelitten, geht daher auch das Christenthum zur Verwirklichung
seiner Brüderlichkeit, wohlgemerkt! nicht von Eigensucht, von Neid und Hochmuth, sondern von
Liebe, Selbstverleugnung und Demuth aus. Es sagt nicht: Dein Mitmensch ist dein Bruder, darum
gehe zu ihm hin und fordere Opfer und Dienstleistungen als eine Schuld von ihm, und theile dich mit
ihm in sein Gut, denn es ist ja auch dein Erbtheil; versteht er sich aber nicht freiwillig zu dieser
gleichen Theilung, zu dieser brüderlichen Gütergemeinschaft, dann brauche Gewalt und schlage ihn
todt, wenn er sich wehrt. So spricht das Christenthum nicht! es sagt vielmehr: Du bist der Bruder
deines Mitmenschen; liebe ihn wie dich selbst und beweise ihm diese brüderliche Liebe, indem du den
Hungrigen speisest, den Durstigen erquickst, den Traurigen tröstest und den Unwissenden
unterrichtest; kurz, indem du die Gaben, die dir der gemeinsame Vater verliehen, mit ihm theilest;
Gott wird es dir lohnen. — Von dem eigenen Innern aus soll also die Besserung, die Verjüngung und
Befreiung der Welt ausgehen und nicht durch Zwang und Gewalt, die wir gegen den Bruder üben.
Durch Opfer, die wir selbst bringen, läßt es die Brüderlichkeit sich verwirklichen und nicht durch
Leistungen, die wir fordern. Nicht fremde Opfer also sollen wir erzwingen, sondern eigene freiwillig
darbringen. Ja, dieser Geist der aufopfernden Liebe läßt sich nicht einmal an der gleichen Theilung
genügen, er gibt vielmehr dem Bruder das ganze Erbtheil hin. Und dies ist die Weise, wie das
Christenthum sich bemüht, die Ungleichheiten dieser Welt auszugleichen; durch solch ein Übermaß
brüderlicher Hingebung, die in der ungleichen Theilung ihrer Habe sich selbst vergißt und für sich
Nichts zurückbehält, will es jene in der Natur gegründeten Ungleichheiten von Arm und Reich, von
Hoch und Nieder, von Stark und Schwach versöhnungsvoll ausgleichen und sie zum Mittel der
reinsten, der edelsten und höchsten Bestrebungen machen."
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{1} Fußnote ergänzt von Sp. 2 |
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Interessant ist auch, daß Frankreichs gegenwärtig berühmtester Dichter, der
zugleich vor und besonders nach der Februaremeute von 1848 eine so bedeutende (in mancher
Beziehung auch wirklich verdienstvolle) 56) Rolle gespielt, in neuester Zeit aber sich durch seine
klägliche Bettelei höchlich prostituirt hat — daß Lamartine in seiner „Geschichte der Girondisten,"
besonders in den letzten Bänden so sehr den socialistischen Nivellirungsideen huldigt, daß er den
Bürgerstand gegenüber dem Volke verdächtigt und herabsetzt; namentlich bei der Erzählung des
Aufstandes vom 10. Aug, 1792, wobei gradezu gesagt wird: „la bourgeoisie combattit pour elle-
même; le peuple combattit pour les idées. Chose étrange, mais vraie, il y avait plus de lumière dans la
bourgeoisie, plus d'idéal dans le peuple.“♦ |
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Er geht so weit, das Ungeheuer Robespierre selbst seinen Genossen zu einem
Ideal zu machen! Man solle, meint er, die den Männern der Schreckenszeit anhaftenden Blutflecken
abwaschen, die von ihnen erstrebte „justice sociale“ aber desto treuer bewahren. Dies bringt er am
Ende des 5. Bandes durch folgende Metapher zum Ausdrucke: „ Le nivellement social, loi de justice,
paraît être aussi logiquement le plan de la nature dans l'ordre politique que le nivellement de ce
globe dans l'ordre matériel. Les montagnes comme l'ont cru quelques geologues, glis-
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- 56) In Bezug auf die edle Herzogin von Orleans aber eine häßlich-gemeine,
worüber Louis Blanc's Histor. revelat. 1858 nachzusehen; vergl. Magazin für die Liter. des Auslandes
Nr. 67 vom 5. Juni 1858 S. 266.
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seront un jour dans les vallées, et les vallées deviendront plaines, par l'effet des
vents, des eaux, des écroullements et des élévations successives.“ (Eine Metapher, von der mit Recht
bemerkt worden ist, daß der berühmte Dichter in ihr nur seine Ignoranz der Naturwissenschaften
beweist, indem bekanntlich nach der neuern Geologie die gesammte Erdoberfläche in ihrer
gegenwärtigen Gestaltung als eine plan- und bedeutungsvolle Gliederung aufzufassen ist) 57). |
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Wir übergehen natürlich hier die übrigen socialistischen und communistischen
Irrlehren, worüber in L. Stein's Schriften das Nähere zu finden ist 58), und machen nur noch darauf
aufmerksam, daß es an gründlichen Widerlegungen dieser argen Misverständnisse der an sich so
schönen Idee der „löblichen Gleichheit" (wie Goethe in „Hermann und Dorothea" sie bezeichnet)
weder früher noch später gefehlt hat. Schon im Jesus Sirach Cap. 38 fg. findet sich eine treffende
hierher gehörige Mahnung. Andere sind bereits früher hier gelegentlich angeführt worden. |
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Auch der größte aller neuern Dichter, Shakespeare, hat den Unsinn der
Gleichmacherei beleuchtet in „Troilus und Kressida" 59). Ferner der berühmteste
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- 57) Berliner lit. Zeitung Nr. 24 vom 18. März u. 1. April 1858.
- 58) Vergl.
„Die Arbeiterfrage" von Fr. G. Schulze. (Jena 1849.)
- 59) I, 3, Übersetzung von Schlegel u. Tiek.
1855. 8 Bd. S. 409.
„ Troja, noch unerschüttert, wär' gefallen,
Und herrenlos des großen Hector
Schwert,
Wenn Folgendes nicht hemmte:
Verkannt wird Seel' und Geist des Regiments;
Und seht! so
viele Griechenzelte hohl
Stehn auf dem Feld; so viel Parteien-Hohlheit —
Wenn nicht der Feldherr
gleicht dem Bienenstock,
Dem alle Schwärme ihre Beute zollen,
Wie hofft ihr Honig? Wenn sich Abstufung verlarvt,
Scheint auch der Schlecht'ste in der Maske edel.
Die Himmel selbst, Planeten und
dies Centrum,
Reig'n sich nach Abstand, Rang und Würdigkeit,
Beziehung, Jahrszeit, Form,
Verhältniß, Raum,
Amt und Gewohnheit in der Ordnung Folge;
Und deshalb thront der majestätsche
Sol,
Als Hauptplanet, in höchster Herrlichkeit
Vor allen andern; sein heilkräftig Auge
Verbessert den
Aspect bösartiger Sterne,
Und trifft, wie Königs Machtwort, allbeherrschend
Auf Gut' und Böses.
Doch wenn die Planeten
In schlimmer Mischung irren ohne Regel,
Welch Schreckniß! Welche Plag'
und Meuterei!
Welch Stürmen auf der See! Wie bebt die Erde!
Wie rast der Wind! Furcht, Umsturz,
Graun und Zwiespalt
Reißt nieder, wühlt, zerschmettert und entwurzelt
Die Eintracht und vermählte
Ruh der Staaten
Ganz aus den Fugen! O, wird Abstufung,
Die Leiter aller hohen Plän', erschüttert,
So
krankt die Ausführung. Wie könnten Gilden,
Würden der Schule, Brüderschaft in Städten,
Friedsamer
Handelsbund getrennter Ufer,
Der Vorrang und das Recht der Erstgeburt,
Ehrfurcht vor Alter, Scepter,
Kron' und Lorbeer,
Ihr ewig Recht ohn' Abstufung behaupten?
Tilg' Abstufung, verstimme diese
Saite,
Und höre dann den Misklang! Alles träf'
Auf offnen Widerstand. Empört dem Ufer {1}
Erschwöllen die Gewässer über's Land,
Daß sich in Schlamm die feste Erde löste;
Macht würde der
Tyrann der blöden Schwäche,
Der rohe Sohn schlüg' seinen Vater todt;
Kraft hieße Recht — nein,
Recht und Unrecht, deren
Endlosen Streit Gerechtigkeit vermittelt,
Verlören, wie Gerechtigkeit, den
Namen.
Dann löst sich Alles auf nur in Gewalt,
Gewalt in Willkür, Willkür in Begier;
Und die
Begier, ein allgemeiner Wolf,
Zwiefältig stark durch Willkür und Gewalt,
Muß dann die Welt als
Beute an sich reißen,
Und sich zuletzt verschlingen. Großer König,
Dies Chaos, ist erst Abstufung
erstickt,
Folgt ihrem Mord."
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{1} Fußnote ergänzt von Sp. 2 |
S. 356 Sp. 2 |
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und einflußreichste Bekämpfer der französischen Revolution, Burke 60):
„Glauben sie mir, mein Freund, die, welche Alles eben zu machen suchen, werden nie Alles gleich
machen. In jeder Gesellschaft, die aus verschiedenen Classen besteht, müssen einige Classen
nothwendig obenauf sein. Die Gleichheitsapostel verändern und verkehren daher blos die natürliche
Ordnung der Dinge. sie überlassen das Gebäude der gesellschaftlichen Verbindung, indem sie das, was
der gründliche Baumeister im Fundamente liegen läßt, hoch in die Luft aufthürmen. Die Schneider-,
Maurer- und Fischhändler-Corporationen, aus denen die Republik von Paris zusammengesetzt ist,
können und werden der Stelle nie gewachsen sein, auf welche sie durch die verwegenste aller
Usurpationen, durch einen Eingriff in die Prärogative der Natur geworfen worden sind" 61). |
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Noch besser hat auch ein teutscher, namhafter noch lebender Publicist, Prof.
Hegewisch, in seiner 1830 erschienenen trefflichen Schrift jene Veirrungen beleuchtet: „ Irrig und
unselig in allen Folgen ist die Meinung, daß Freiheit überhaupt gleichbedeutend sei mit Gleichheit.
Die Wahrheit aber ist, daß die Freiheit auch nicht 24 Stunden sicher wäre, da wo Gleichheit,
anbefohlene Gleichheit aller Glieder des Staats existirte, welches übrigens auch nur für einen Tag
unmöglich ist. Mann und Weib, Vater und Kind, gesund und krank, schlafend und wachend, schwach
und stark, mehr und minder klug, braune und blaue Augen, das und tausend Differenzen sind
Wirkungen, Befehle der Natur. Nicht zwei gleiche Blätter hat die Natur
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- 60) Burke, Betracht, über die franz. Revol., übersetzt von Gentz I. S. 62.
- 61) „Der Großkanzler von Frankreich bediente sich, als er die Versammlung der Stände eröffnete,
der rednerischen Äußerung: „„daß alle Beschäftigungen ehrenvoll wären."" Wenn er damit meinte,
daß keine ehrliche Beschäftigung entehrend sein könnte, so blieb er der Wahrheit treu. Aber sobald
man behauptet, daß etwas ehrenvoll sei, legt man ihm einen gewissen Vorzug bei. Das Geschäft eines
Perückenmachers oder eines Seifensieders kann seinen Mann nicht ehren — noch weniger können es
so manche andere Arbeiten, die niedriger und sklavischer sind. Leute aus solchem Stande müssen nie
vom Staate unterdrückt werden, aber der Staat wird von ihnen unterdrückt, sobald sie sich einzeln oder
vereinigt einen Antheil an der Regierung anmaßen. Hier glauben die neuen Staatsgelehrten die
Vorurtheile zu bekämpfen, und sie sind im offenen Kriege mit der Natur."
- 62) Franz Baltisch,
Polit. Freiheit (Leipzig 1830, bei Brockhaus) S. 22.
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gewollt, und noch weniger zwei gleiche Menschen. Eben deswegen sagt Rousseau,
weil die Natur der Dinge die Ungleichheit will, soll das Gesetz zur Gleichheit streben. Falsch! Der
Mann soll Mann und das Weib soll Weib sein. Daß Jeder wünscht, reich zu sein, ist Keinem zu
verargen. Wenn aber derjenige, der nicht reich ist, und keine Aussicht hat, auf bequeme Weise reich
zu werden, dem Reichen wehren will, reich zu sein, so liegt darunter Nichts als Neid. Und der
verkehrte Rousseau. Es kann keine andere Gleichheit geben, als die der Armuth, des Elends. Krieg den
Schlössern, Friede den Hütten! das war das Geschrei der Neidischen. Hatten die Bewohner der
Schlösser ihre Macht misbraucht, und das hatten sie in tausend Fällen gethan, heimlicher und
deswegen schlimmer als die Besitzer der Rottenboroughs in England, wol, so durfte und mußte man
sich bemühen, dem Ausschreiten ihrer Macht Schranken zu setzen. Das Zerstören der Schlösser hilft
Nichts; der Neid findet immer Gegenstände. Gibts keine Schlösser mehr, kann die Herrschaft, die
scchsrössige, als aufgezäumte Hoffahrt nicht mehr beneidet werden, so wird beim Kirchengehen der
eitle arme Teufel, der sich mit seinem neuen Wams brüstet, beneidet. |
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„ „Tous les hommes sont égaux, ce n’est point la naissance,
C’est la seule vertu, qui fait leur différence,“ “ |
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Es war kein tugendhafter und kein einsichtsvoller Politiker, der dies schrieb, es
waren sehr Unerfahrene, die dies beklatschten. So lange der Vater seinen Sohn liebt, wird er
wünschen, daß sein Sohn die Frucht der väterlichen Arbeit erbe. So gut wie die Geburt Männer und
Weiber verschieden macht, ebenso wol auch Besitzende und Nichtbesitzende. Der Neid hat den
Gedanken von Gleichheit, von Identität der Freiheit und der Gleichheit erzeugt; aber der Neid
wird nie einen freien Staat hervorbringen; denn der Neid ist nicht producirend, sondern nur zerstörend.
Oder soll die Gleichheit mit der äußersten Erniedrigung verbunden sein? die Unterthanen des
Beherrschers der Gläubigen (in Constantinopel) haben freilich das Vergnügen, lauter Gleiche um sich
zu sehen, mit einer Ausnahme, aber freilich einer gefährlichen Ausnahme! Eben weil Alle dem Einen
unbedingt unterworfen sind, ist kein Schutz für den Kopf jedes Einzelnen gegen die Willkür möglich.
Nur mit absoluter Sklaverei kann die Freude der Gleichheit, die Freude, daß kein höherer
Gegenstand des Neides da sei, erkauft werden." |
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Ähnlich der bekannte, 1848 gestorbene Historiker und Publicist Wirth (Geschichte
der deutschen Staaten. 1847. I. 1. Lief. S. 25): „Zuvörderst glaube man nicht, daß die französischen
Theorien von Freiheit und Gleichheit wahr seien. Wir wollen nicht einmal der Schwierigkeit oder
vielmehr der Unmöglichkeit der Ausführung gedenken: wenn ein solcher Zustand auch praktisch
vollständig gegeben wäre, so würde er die Teutschen aller Stände nach den Gesetzen ihres
Nationalcharakters, wo nicht mit Ekel, doch mit Widerwillen erfüllen, und Allen die Überzeugung
geben, daß ein solcher Zustand weder schön, noch würdig und frucht- |
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bar sei. Wir haben die schönen Früchte der Freiheit und Gleichheit, sowie der
Gütergemeinschaft in dem Reformationszeitalter gesehen, sie sind uns noch schärfer in dem blutigen
Wahnsinne der französischen Revolution vor Augen getreten. Es ist ein furchtbarer Irrwahn, das Loos
der untersten Volksclassen mit solchen fanatischen Entwürfen gründen zu können, alle Stände, auch
die tiefsten, werden dadurch nur noch elender! Diejenigen, welche sich die entschiedenen Radicalen,
die Socialisten, die treuen Freunde des untern Volks, oder wie man jetzt sagt, des vierten Standes
nennen, sie sind die bittersten Feinde desselben, wenn sie ihm den Irrsinn der Freiheit und
Gleichheit in den Kopf setzen. Die untersten Volksclassen leiden dadurch am Ende so viel, als die
höhern Stände, weil den großem Geistern und wirklich organisirenden Kräften die Mittel zu jenen
tiefern organischen Reformen, benommen werden, welche nur das Ergebniß der gründlichsten
Forschungen, des schöpferischen Genies der lange bewährten Lebensweisheit sein können." |
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Selbst ein hoch gestellter neuerer nordamerikanischer Staatsmann, der ehemalige
Präsident van Buren hat gegen jene falsche Auffassung der Gleichheit protestirt: „Ob man auf dem
Principe der äußersten sinnlichen Gleichheit, das in folgerechter Durchführung in alle Extravaganzen
ausarten kann, einen Staat feststellen wird? Die Tendenz der modernen Civilisation ist nicht nur der
Sturz des Princips der Subordination, nein, sie ist der Bruch aller socialen Bande und aller Beziehung
gegenseitiger Abhängigkeit zwischen Nationen und Individuen. diese Emancipation ist nicht mehr
eine Emancipation von alten Vorurtheilen, sie ist eine Emancipation von der Geschichte, eine
Emancipation von der Welteinrichtung, die auf ungleichen Verhältnissen beruht!" 63) |
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Auch in einer der bedeutendsten publicistischen Schriften, die von der neu
errichteten ungarischen Akademie der Wissenschaften erst vor Kurzem mit einem Preise gekrönt
worden (s. D. Allgem. Zeit. 29. Dec. 1858), und des Baron von Eötvös, „Der Einfluß der herrschenden
Ideen des 19. Jahrh." ist nachgewiesen, wie falsch nach französischem Vorbilde immer noch die drei
bewegenden Ideen der Freiheit, Gleichheit und Nationalität aufgefaßt werden 64). |
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Wie gefährlich die Verbreitung dieser wälschen Irrthümer in Bezug auf die
socialen Fragen der Gegenwart ist, ward ebenfalls schon öfters in den zahlreichen Schriften über
Pauperismus und Proletariat gezeigt; unter andern auch von dem beliebtesten teutschen
Volksschriftsteller, Jeremias Gotthelf (Pfarrer Bitzius) in s. „Armennoth" 1840: „Mehren in Indien
die Armen sich, so kommt eine Hungersnoth und die Reichen sind von der Last befreit. Aber unsere
Europäer sind
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- 63) Botschaft vom J. 1840; vergl. Sparre, Die Lebensfrage im Staate in
Beziehung auf das Grundbesitzthum. 1842. (Motto.)
- 64) Vergl. Morgenblatt 1852. Nr. 10 vom 7.
März.
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⇧ Inhalt |
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nicht Indier, die durch geheiligte Schranken so von einander getrennt sind, daß
dem Äermsten nie einfällt, sich mit einem Obern zusammenzustellen, ja noch viel weniger zu hoffen,
es einmal bis zu ihm hinaufzubringen. Ganz anders ist es bei uns. Unsere Religion heißt uns alle
Brüder sein, unsere Verfassung stellt uns alle gleich. Zuerst hat man den Armen in eine Kaste
hinuntergedrückt, dann schieden sich die Stände immer schärfer, immer weiter aus einander, immer
verwahrloster wurde der Arme, das Christliche verdunkelte, entfremdete sich ihm immer mehr: da
brachen auf einmal die Ideen von Freiheit und Gleichheit wie aus dem Boden herauf, und diese
Ideen stehen wie zwei Sterne über den Völkern seit einem halben Jahrhundert. Man weiß wol, was sie
bedeuten und verheißen, ich brauche es nicht auszulegen, aber wer will es dem Armen verargen, wenn
er ihre Bedeutung, ihre Verheißungen misverstand und immer mehr misversteht? Der verwahrloste
Arme hatte keine Bildung empfangen, weder eine christliche, noch eine bürgerliche." |
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In den letztern Worten ist zugleich das alleinige Heilmittel angegeben: Aufklärung
über den Unterschied zwischen wahrer und falscher Gleichheit. Diese Aufgabe hat zunächst das
Naturrecht oder die Rechtsphilosophie zu lösen, da jene Idee den Grund- und Hauptbegriff alles
Rechts bildet, wie bereits im Artikel Gerecht und Gerechtigkeit gezeigt ist. Es mag in Bezug hierauf
hier nur die Ansicht Pufendorf's angeführt werden, da dieser als der eigentliche Vater der
Wissenschaft des Naturrechts (wie Hugo Grotius als der des Völkerrechts) anzusehen ist. Er sagt in
seinem Hauptwerke 65):♦ |
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„In der That führt das Wort Mensch eine gewisse Idee der Würde mit sich, und
sowol das stärkste Argument als das letzte Hilfsmittel, welches einer Person, den Übermuth ihres
Beleidigers danieder zu schlagen, zusteht, ist es, wenn sie zu ihm sagt: Ich bin kein Thier, sondern ein
Mensch, ebenso gut als du bist. Da die menschliche Natur eben dieselbe bei allen und jeden Menschen
ist, und, wenn sie sich anders als mit einer und eben derselben Natur ansähen, keine Gesellschaft unter
ihnen statthaben könnte, so folgt daraus, daß nach dem Gesetze der Natur jeder den Andern als seines
Gleichen von Natur aus, d.i. als einen Menschen wie sich selbst behandeln muß" 66).
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- 65) Jus nat, et gent. lib. III. c. 2. sect. 1.
- 66) Dieser (l.c. sect. 4) Grundsatz
der natürlichen Gleichheit der Menschen schließt einige wichtige Maximen als seine natürlichen
Folgen in sich, deren Beobachtung von gutem Nutzen zur Erhaltung des Friedens und der
freundschaftlichen Eintracht unter den Menschen ist. Erstens, daraus folgt, daß derjenige, der wünscht,
daß die Andern etwas ihm zum Besten thun möchten, sich auch auf seiner Seite, ihnen nützlich zu
werden, bestreben sollte. Denn vorgeben, von Diensten gegen Andere losgezählt zu sein, da man von
ihnen gleiche Dienste verlangt, ist ebenso viel als gar keine Gleichheit unter ihnen annehmen.
Zweitens, die Betrachtung der natürlichen Gleichheit der Menschen dient uns zu zeigen, wie wir uns
bei Bestimmung der Rechte verschiedener Parteien verhalten sollen, nämlich sie als Gleiche zu
behandeln und keiner mehr als der andern zuzusprechen, es sei denn, daß die eine ein besonderes
Recht, das ihr auf einen besondern Vortheil einen Anspruch gebe, {1} erlangt hätte. Drittens, eben
diese Betrachtung dient uns zu einem Verwahrungsmittel gegen den Stolz, der ist einer höhern
Schätzung seiner selbst als anderer entweder ohne alle oder doch hinreichende Ursache und unter dem
Einflusse dieses Vorurtheils ihrer Verachtung als weit unter uns besteht.
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{1} Fußnote ergänzt von Sp. 2 |
S. 358 Sp. 2 |
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Mit dieser richtigen Grundansicht stimmen so ziemlich alle Bearbeiter des
Naturrechts, sowie diejenigen überein, die sich sonst über dies Thema ausgesprochen haben, sei es,
daß sie die Ideen von Freiheit und Gleichheit zusammen, oder die letztere für sich erörterten
67). |
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Wir fügen schließlich diesen theoretischen Erörterungen unsers Thema's die eines
der bedeutendsten franzö-
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- 67) Die Literatur über Freiheit und Gleichheit zugleich findet sich in Fr.
Nathan. Volkmar, Abh. üb. ursprüngliche Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit. (Breslau 1793.)
— C. G. Neuendorf, Kurze Belehrung für Nachdenkende über Bürgerl. Freiheit und Gleichheit. —
Deutsche Monatsschrift. Jahrg. 1793. 1. Bd. S. 132 fg. Vergl. über Freiheit und Gleichheit: Deutsche
Monatsschrift. 1793. 3. Bd. S. 67 — 83. – Versuch über Aufklärung, Freiheit und Gleichheit in
Briefen von Joh. Chr. Gottl. Schaumann. (Halle 1793.)— J. C. Hoffbauer, Freiheit und Gleichheit,
in der Unters. über die wicht. Gegenstände des R. R. (Halle 1795.) Abh. XXVII. — J. W. Hermann,
Über Menschen-, Bürger- und Regentenrechte und Pflichten, wie auch über Freiheit und Gleichheit.
(Münster 1796.) — C. M. Wieland's Gespräche unter vier Augen. (Leipzig 1799.) Auch S. W. XXXI.
S. 210 fg. — J. K. Lavater's Predigt über Freiheit und Gleichheit, gehalten am 11. Febr. 1799. In s.
Nachgel. Schriften, herausgeg. von C. Gesner. 4. Bd. — Über Gleichheit allein: Jo. Geo. Roeser,
Diss. de aequilitate et inaequilitate hominum. (Sedin. 1705.) — H. L. Wernher, De aequilitate
hominum. In den Diss. J. N. p. 204 seq. — A. G. Baumgarten, De aequilitate hominum inaequilium
naturali. (Traj. cis Viadr. 1744.) — Sammlung jurist., philosoph, und krit. Aufsätze. (Bützow 1777.)
St. II. S. 80 (worin die Unhaltbarkeit der gewöhnlichen Ansichten und Beweise der natürlichen
Gleichheit gezeigt wird). — E. K. Wieland's Versuch über die natürl. Gleichheit der Menschen.
(Leipzig 1782.) — Sind denn wirklich alle Menschen gleich? In der Berliner Monatsschr. 1791. Dec.
Nr. Vl. — C. A. Horn, Über Gleichheit und Ungleichheit aus dem Gesichtspunkte gegenwärtiger
Zeiten. (Hildburgh. 1792.) — Von der physischen, moralischen und bürgerlichen Ungleichheit der
Menschen, eine Abhandlung über die Schrift des Rousseau: Sur l'origine etc. Aus dem Ital. des Gr. J.
R. Carli. (Wien 1793.) — Über die Gleichheit des Menschen im Stande der Natur und der
Gesellschaft. Eine Rede von K. Ehreg. Mangelsdorf. (Königsberg 1793.) — G. N. Brehm, Über die
natürliche Gleichheit der Menschen. (Leipzig 1794.) — Versuch über die natürliche Gleichheit der
Menschen. Eine (von der Teylor'schen Ges.) gekrönte Preisschrift von W. L. Brown (Prof. der
Moralphilos. zu Utrecht). Aus dem Engl. vom Hof- und Reg.-Rath Weber zu Bamberg. (Frankf. und
Leipzig 1797.) — De l’égalité ou principes généraux sur les Institutions civiles, politiques et
religieuses, prec. de l’Eloge d. J. J. Rousseau (par Fr. C. Escherny). Edit. nouv. Paris 1797. — Über
die natürliche Gleichheit der Menschen von Hülsen, im Athenäum, einer Zeitschrift von A. W. und
Fr. Schlegel. 2. Bd. (Berlin 1798.) St. 1. — Abh. über die Frage: In welchem Sinne kann man sagen,
daß die Menschen gleich sind? und welches sind die Rechte und Pflichten, welche daraus fließen?
Vom Prof. Paulus. Nach der 4. Ausg. aus dem Holländ übersetzt. (Leipzig 1785) — Sind denn
wirklich alle Menschen gleich? in den Xopographien von H. A. Vezin. 1. Th. (Osnabrück 1799.) Nr.
1. — Auch gehört gewissermaßen hierher: Fr. Adf. van der Mark, Sermo acad. de jure hominis,
naturae insito, singulis aequaliter tribuendo, perenni rerum publ. stabilimento. (Gröningen 1795. In
das Holländische übersetzt 1796.)
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sischen Philosophen der Gegenwart bei, die übrigens bekanntlich durch die
teutsche Philosophie sich vorzugsweise gebildet hat, nämlich die des berühmten Cousin, der
besonders klar sich darüber ausgesprochen 68): „Die Pflicht und das Recht sind Geschwister. Ihre
gemeinschaftliche Mutter ist die Freiheit. Sie sind an Einem Tage geboren, entwickeln sich mit
einander und gehen zugleich unter. Man kann sogar sagen, daß das Recht und die Pflicht ein und
dasselbe Wesen sind, nur von zwei verschiedenen Seiten betrachtet. Denn was ist in der That mein
Recht auf Eure Achtung anders als die Pflicht, welche Ihr habt, mich zu achten, weil ich ein freies
Wesen bin? Aber Ihr selbst seid freie Wesen, und der Grund meines Rechtes und Eurer Pflicht wird
für Euch der Grund eines gleichen Rechtes und für mich einer gleichen Pflicht. Ich nehme das Wort,,,,
gleich"" im strengsten Sinne; denn die Freiheit und nur die Freiheit ist sich selbst gleich. Es gibt dafür
keinen identischen Begriff als den der „„Persönlichkeit,"" alles Übrige ist verschieden; durch alles
Übrige unterscheiden sich die Menschen; denn „„Ähnlichkeit"" ist ebenfalls noch Unterschied. Wie es
nicht zwei Baumblätter gibt, welche ganz dieselben sind, so auch nicht zwei Menschen, welche sich
vollkommen hinsichtlich des Körpers, der Empfindung, des Geistes, des Herzens glichen. Aber es ist
nicht möglich, zwischen der freien Selbstbestimmung des einen und der freien Selbstbestimmung des
andern Menschen einen Unterschied zu entdecken. Ich bin entweder frei, oder ich bin es nicht. Wenn
ich es bin, bin ich es ebenso wie du, und du bist es ebenso wie ich; hier gibt es kein Mehr oder
Weniger, man ist eine sittliche Persönlichkeit ganz ebenso sehr und mit denselben
Begriffsbestimmungen, wie eine andere sittliche Persönlichkeit. Der Wille, welcher der Sitz der
Freiheit ist, ist derselbe bei allen Menschen. Er kann sich verschiedener Mittel und Werkzeuge
bedienen und diese sind in Folge dessen, ob nur stofflich oder geistig, unter einander ungleich. Aber
die Mittel, über welche der Wille verfügt, sind nicht er selbst; denn er verfügt darüber nicht auf
absolute Weise. Das einzige „„freie"" Können ist das des Willens, aber es ist seinem Wesen nach, das
Können des Willens, und zwar nur dieses Können hat zu seinem Wesen die Freiheit. Wenn der Wille
Gesetze anerkennt, so sind diese Gesetze nicht Hebel und Kräfte, welche ihn in Bewegung setzen: es
sind ideale Gesetze, wie z. B. das der Gerechtigkeit; der Wille erkennt dieses Gesetz an und ist sich
zugleich aber auch seines Vermögens bewußt, sich darnach zu richten oder nicht, wobei er das Eine
wieder nur thut im Bewußtsein, auch das Andere thun zu können, und umgekehrt. Darin besteht der
Begriff der Freiheit und ebenso auch der wahren Gleichheit; jede andere Freiheit oder Gleichheit ist
eine Lüge! Es ist nicht wahr, daß die Menschen das Recht haben, gleich reich, gleich schön, gleich
stark zu sein; in
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- 68) Cousin's Vortrag findet sich im Magazin für die Literatur des Auslandes.
1848. Nr. 99. 19. Aug.
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GLEICHMANN (JOH. ZACHARIAS) |
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gleichem Maße zu genießen, mit einem Worte, gleich glücklich zu sein; denn sie
unterscheiden sich ursprünglich und nothwendig in allen Punkten ihrer Natur, welche auf das
Vergnügen, auf den Reichthum, auf das Glück Bezug haben. Gott hat uns rücksichtlich aller dieser
Dinge mit ungleichen Kräften ausgestattet. Hier ist die Gleichheit gegen die Natur und gegen die
ewige Ordnung; denn die Verschiedenheit und der Unterschied ist ebenso gut wie die Harmonie ein
Gesetz der Schöpfung. Eine solche Gleichheit zu träumen, ist ein seltsames Misverständniß, eine
beklagenswerthe Verirrung. Die falsche Gleichheit ist das Götzenbild unvollkommen organisirter
Geister und Herzen, das Götzenbild des unruhigen und ehrgeizigen Egoismus. Es ist das Streben nach
dem Unmöglichen. Die wahre Gleichheit nimmt ohne Scham und Verdruß alle äußere
Ungleichheiten an, welche Gott geschaffen hat und welche der Mensch nicht beseitigen kann. Die edle
Freiheit hat Nichts gemein mit den Ausbrüchen des Hochmuthes und excentrischer Gelüste. Wie sie
nicht nach der Herrschaft strebt, ebenso wenig, und zwar aus demselben Grunde strebt sie nach einer
chimairischen Gleichheit des Geistes, der Schönheit, des Glücks, des Genusses. Andererseits würde
diese Gleichheit auch, wäre sie möglich, in ihren eigenen Augen wenig Werth besitzen; sie vermißt
ein in anderer Art großes Gut, als es das Vergnügen, das Glück, der Rang sind, nämlich die Achtung.
Die Achtung, eine gleiche Achtung des heiligen Rechtes, frei zu sein in Allem, was die Persönlichkeit
ausmacht, jene Persönlichkeit, welche wahrhaft der Mensch ist, diese Achtung ist es, welche die
Freiheit und mit ihr die wahre Gleichheit wünscht oder vielmchr gebieterisch fordert. Man muß
„„Achtung"" nicht mit „„Huldigung"" verwechseln. Huldigung zolle ich dem Genie und der
Schönheit, Achtung allein dem Menschenthume, und darunter verstehe ich alle freien Wesenheiten
und Naturbedingungen; denn Alles, was nicht frei ist im Menschen, ist ihm fremd. Der Mensch ist also
dem Menschen völlig gleich in Allem, was ihn zum Menschen macht und die Herrschaft der wahren
Gleichheit verlangt von Seiten aller nur eben die Achtung dessen, was Jeder in gleichem Maße in sich
selbst besitzt, der Jüngling, sowie der Greis, der Häßliche und der Schöne, der Reiche und der Arme,
der Mensch von Geist und der mittelmäßige Kopf, das Weib und der Mann, Alles, was das
Bewußtsein in sich trägt, Person und nicht Sache zu sein." |
(Dr. K. H. Scheidler.) |
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