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Alterthumswissenschaft ist, im weitesten
Sinne die nach haltbaren, sicher leitenden Grundsätzen
ausgeführte Anordnung der Alterthümer der ältesten Völker
des ganzen Erdbodens, in einer solchen Art, daß der
allerfrüheste vorgeschichtliche Zustand des
Menschengeschlechts, dessen erste Wohnplätze, Ausbreitung
und Gründung verschiedener Völker- oder Staatenvereine und
deren erste Einrichtungen, so viel möglich, erkannt, die
allmähligen Abweichungen von dem vormaligen Zustande,
nebst den Ursachen dazu, nachgewiesen, ferner die
Verwandtschaft und Abstammung der verschiedenen Völker
aus ihrem Bau, ihrer Sprache, ihren Religionsbegriffen, Sitten,
Einrichtungen dargethan werden, wodurch eine objective
Kentniß der Urwelt und des Zusammenhanges der frühesten
Urgeschlechter vermittelt werden soll.♦ |
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Sie ist eine combinirende Wissenschaft,
die, weil der unbestreitbaren Punkte in so frühen Zeiten
wenige sind, nur das Wahrscheinlichste für das Wahre ansieht
und nur durch sorgfältige Zusammenstellung der ältesten
Überlieferungen und Sagen, der Volksähnlichkeiten und der
aus geographischen und physikalischen Forschungen sich
ergebenden Resultate zu einer allgemeinen Übersicht und
Einsicht der ältesten Menschenwelt gelangt. Sie könnte füglich
die Alterthümer der Urwelt oder der Urvölker heißen, wenn
Alterthümer (s. dies. Art.) in der, im zweiten Abschnitt,
entwickelten Bedeutung genommen werden. Sie hat nur in so
fern Gewißheit, als die angenommenen, leitenden Ideen und
Voraussetzungen wahr, die Combinirung kunstlos und
natürlich, die bedingenden Gründe nothwendig, die Schlüsse
daraus folgerecht und besonnen abgeleitet sind.♦ |
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Diese Wissenschaft erfodert zu ihrer
Vollendung genaue physische, geographische, historische,
linguistische Kentnisse, ein tiefes Eindringen in die Mythen
der alten Völker, kalte, von Vorurtheilen und Hypothesen sich
freihaltende, Beurtheilung, scharfe Forschungskraft, um die
aus dem Zusammenfließen vielfacher Verhältnisse oft nur
erkennbaren Grundursachen zu bestimmen und ein lebhaftes
mit der nöthigen Phantasie begleitetes Gedächtniß, um die
mannigfaltigen Erscheinungen lichtvoll zu verknüpfen und zur
Anschauung zu bringen. Einzelne dahin gehörige Schriften,
die man als Beiträge zu einer solchen Alterthumswisseuschaft
ansehen kann, s. in Beck's Welt- und Völkergeschichte. Leipz.
1813. 1, Th. S. 79 ff. Meine Alterthumswissenschaft (Halle,
1815) ist ein Versuch, die Idee der angegebenen Wissenschaft
anzuregen. Vergl. Rec. von Grotefend in der Jen. Lit. Zeit.
März-Heft 1817. |
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Alterthumswissenschaft im engern Sinne
beschränkt sich auf das classische Alterthum der Griechen und
Römer, und besteht in der Durchdringung der Alterthümer (s.
d. Art.) und der innern und äußern Geschichte beider Völker,
oder in einer durch gründliches Studium der einzelnen, zum
Alterthum der Griechen und Römer gehörigen, Theile nach
und nach erworbenen Total-Kent- |
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ALTERTHUMSWISSENSCH. |
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niß aller, diesen beiden Völkern
zugehörigen, gottesdienstlichen, bürgerlichen, häuslichen
Einrichtungen, aller dadurch entwickelten Tugenden,
Handlungen, Thaten, aller wissenschaftlichen und
künstlerischen Fertigkeiten, Hervorbringungen und ihrer
Formen, dergestalt, daß die ihnen unterliegenden Ideen und
der durch das Ganze herrschende, individuelle Geist, wodurch
der Charakter, die Gesinnungen und die eigenthümliche Art
des Handelns, Leidens und ganzen Seyns jener Völker
besonders ausgeprägt sind, treu und richtig begriffen
werden.♦ |
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Sie ist Wissenschaft, weil sie eine in sich
zusammenhängende und geschlossene Masse historischer
Gegenstände (s. Art. Alterthum) nach logischen Regeln in
einzelne Theile scheidet, deren jeder ein gleichartiges Ganzes
bildet und jeden dieser Theile nach den ihm unterliegenden
Grundideen in seiner Natur und Eigenthümlichkeit entfaltet
und kennen lehrt, und nachdem sie den Kreis aller Theile, die
als Bestandtheile der ganzen Griechen- und Römerwelt
betrachtet werden, vollständig erklärt hat, ein organisches, in
sich geschlossenes, in erkennbarem Zusammenhange aller
Theile stehendes, System eines vollständig gründlichen, d.i.
nach innerer Nothwendigkeit begriffenen, Wissens
darstellt.♦ |
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Die Methode des Lehrenden ist analytisch,
die des Lernenden synthetisch. Die Wissenschaft erschöpft
alle aus den hinterlassenen schriftlichen und künstlerischen
Werken der Griechen und Römer, als den enthaltenden
Quellen, erkennbaren Begriffe, Ideen, Vorstellungen beider
Völker und aller durch sie hervorgebrachten Leistungen,
Werke, Fertigkeiten, Thaten, in folgerechter Ordnung und
Verbindung, und ist, in so fern sie sich genau an den Sinn und
Inhalt ihrer Quellen anschließen muß, positiv dogmatisch zu
nennen. |
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Ihr vornehmstes Ziel ist nach F. A. Wolf:
„die Kentniß der alterthümlichen Menschheit selbst, welche
Kentniß aus der durch das Studium der alten Überreste
bedingten Beobachtung einer organisch entwickelten
bedeutungsvollen National-Bildung hervorgeht,” welche
Worte, wenn ich sie meiner Erklärung anpassen darf, den Sinn
haben: daß durch das Eindringen in die hinterlassenen
griechischen und römischen Werke die alterthümliche
Menschheit, in so fern man diese auf Griechen und Römer
beschränkt, oder in diesen als in ihrer höchsten Vollendung
denkt, so vollständig erkannt wird, daß aus den vom Anfang
an einwirkenden Zuständen, Verhältnissen, Einrichtungen
einmal die Ursachen einleuchten, welche die allmählige hohe
Entwickelung dieser Völker beförderten und zum andern in
der Zeitfolge die Fortschritte, die sie in politischer, sittlicher,
wissenschaftlicher und künstlerischer Hinsicht nach und nach
gemacht hat, bis zu ihrem Untergang begriffen werden,
wodurch allerdings, die genaueste Kentniß der Nationalität der
Griechen und Römer und der in ihnen sich darstellenden
Menschheit vermittelt wird. |
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Eine geistreiche Übersicht der
Alterthumswissenschaft in diesem Sinne hat Fr. August Wolf
(im Museum der Alterthums-Wissenschaft, herausg. von Fr.
Aug. Wolf und Philipp Buttmann. Berlin 1807. 1r Bd. 1s Stck.)
geliefert, in der die ganze Wissenschaften in 24 Theile zerfällt
ist. Die drei ersten Theile begreifen das grammatische
Studium, 1) philosophische, 2) griechische, 3) lateinische
Sprachlehre; die drei folgenden kritische Rheto-, |
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ALTERTHUM |
⇧ Inhalt |
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rik, nämlich: Grundsätze 1) der
Auslegungskunst, 2.) der philologischen Kritik und
Verbesserungskunst, 3) der prosaischen und metrischen
Composition.♦ |
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Die folgenden 11 Theile umfassen die
Geschichte der Griechen und Römer in ihrem äußern und
innern Zusammenhang und allen Hilfsgebieten, als: 1)
Geographie und Uranographie der Griechen und Römer, 2)
alte Universalgeschichte, 3) Chronologie und historische
Kritik, 4) griechische, 5) römische Alterthümer, 6) Mythologie
beider Völker, 7) griechische und 8) römische
Literaturgeschichte, 9) Geschichte der redenden Künste und
Wissenschaften bei den Griechen und 10) bei den Römern, 11)
historische Notiz von den mimetischen Künsten beider
Völker.♦ |
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Die folgenden 6 Theile beziehen sich auf
die eigentliche Archäologie, oder das Studium der Antike und
enthalten 1) Notiz von den noch übrigen Denkmälern und
Kunstwerken der Alten, 2) archäologische Kunstlehre, oder
Grundsätze der zeichnenden und bildenden Künste, 3)
Geschichte dieser Künste im Alterthum, 4) Einleitung zur
Kentniß und Geschichte der alterthümlichen Architectur, 5)
Numismatik und 6) Epigraphik beider Völker.♦ |
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Der letzte Theil enthält eine
Literargeschichte der griechischen und lateinischen Philologie
und der übrigen Alterthumsstudien nebst der Bibliographik.
(Nützlich, besonders wegen der literarischen Nachweisungen
zu den nöthigsten Hilfsmitteln, ist zu vergleichen: E. J.
Koch's Encyklopädie aller philologischen Wissenschaften
(Berl. 1793) und dessen Hodegetik für das
Universitäts-Studium. Berl. 1792). |
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Diese Wissenschaft stellt in natürlicher und
methodisch geordneter Verbindung alle Zweige derjenigen
Kentnisse dar, welche nöthig sind, um die noch vorhandenen
schriftlichen Werke der Griechen und Römer in ihrem Geiste
und in ihrer wahren Bedeutung zu verstehen. Es ist daher das
genaueste Studium derselben denen unentbehrlich, die sich
vorzugsweise mit der Erklärung, Kritik und Bearbeitung alter
griechischer und lateinischer Schriftsteller befassen und
vorzugsweise Philologen und Humanisten heißen. Letzterer
Name rührt daher, daß man früherhin das Studium der
griechischen und lateinischen Autoren für das fast einzige und
beste Mittel hielt, eine höhere menschliche Bildung zu
erlangen, und deshalb dasselbe, obgleich noch ohne
wissenschaftliche Form, zur Grundlage der
Geistesentwickelung und des ganzen Unterrichts machte. Wie
wohlthätig, fruchtbar und zweckmäßig diese Grundlage sey,
ergibt sich aus den bewunderungswürdigen Fortschritten aller
Wissenschaften und Künste, die durch das Studium des
Alterthums angeregt, genährt, gefördert worden sind. Die
Alterthumswissenschaft ist daher überhaupt allen
unentbehrlich, die sich der Gelehrsamkeit widmen, oder eine
höhere, rein menschliche, vielseitige Geistescultur erreichen
wollen. |
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Denn jede andere Wissenschaft verfolgt
eine einzelne Richtung und gibt dem Geiste eine einseitige
Gestalt, weil sie blos einen Gegenstand behandelt und
diejenige Geisteskraft blos ausbildet, welche zur
Bemächtigung jenes Gegenstandes vorzugsweise angestrengt
wird. Viele entfremden sogar den Menschen dem Leben, den
bürgerlichen Tugenden, der wissenschaftlichen Geselligkeit,
den redenden und bildenden Künsten, überhaupt jener
harmonischen Thätigkeit des Geistes, des Gemüthes und der
Sinnlich- |
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ALTES WEIB |
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keit, durch deren gemeinsame
Verfeinerung erst die brauchbare und edlere Menschwerdung
erscheint und jene reinere, in sich übereinstimmende, nach
allen Seiten hin aufgeschlossene, Natur entfaltet wird, die,
welchen einzelnen Stoff der Wissenschaft oder Kunst sie
ergreifen mag, aus ihm das Wahre, Gute und Schöne
herauszugreifen und durch ihren verschmelzenden Hauch zu
einer reizenden Schöpfung zu vereinigen fähig ist. |
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Die Alterthumswissenschaft, aus einem
wirklichen, ehemaligen großen Leben treu abgeschöpft, stellt
nicht einen einzelnen Zweig des Wissens, sondern eine ganze,
ehrwürdige, in Umfang, Bau und Form eben so kolossale, als
lehrreiche Welt dar, sie zeigt den Menschen des Alterthumes
in seiner, nach Zeit und Umständen, möglichst höchsten und
freien Entwickelung aller seiner Tugenden, Kräfte,
Fähigkeiten, Einsichten und deren Anwendung zu rühmlichen
Thaten, nützlichen Einrichtungen, aufklärenden oder
vergnügenden Meisterwerken von origineller Erfindung in
Wissenschaften und Künsten, als ein in der Realität
aufgefundenes und nachahmbares Ideal, von dem der Strom
der Zeit, in welchen das Schlechte versinkt, selbst die Flecken
abgewaschen hat.♦ |
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Sie flößt daher mehr als jede andere
Wissenschaft, dem Menschen ein vielseitiges praktisches
Interesse ein, und faßt ihn nicht halb, nicht theilweise, sondern
in seiner ganzen Ausdehnung, vollständig und durchdringend,
sie beschäftigt, entwickelt, veredelt, stärkt und übt Gedächtniß
und Phantasie, Verstand und Urtheilskraft, Scharfsinn und
Witz, erweckt und fördert die Reflexion, die Kritik, die
speculative Forschung, und sichert sie durch ihr reales Gebiet
vor Ausschweifung; sie durchdringt und entzündet das Gefühl
des Sittlichen, Schönen, Erhabenen und macht es fruchtbar,
entflammt eben so mächtig die edlen Leidenschaften und
Neigungen für große, des Menschen würdige Ideen und
Unternehmungen, als sie die unedlen schwächt und bezähmt;
kurz sie öffnet und erfüllt alle Werkstätte der obern und untern
Seelenkräfte, die Tiefen des Gemüths und der Empfindung,
die Organe der Sinnlichkeit, alle Kräfte der geistigen Natur,
wie die Sonne, welche erwärmt und erleuchtet, und zur
gemeinsamen Thätigkeit aufregt.♦ |
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Sie ist das große Pantheon aller
Wissenschaften und Künste des Alterthums, aus dem der
Strom der Ideen in die neue Zeit übergeflossen ist, und in
Millionen Bäche zertheilt, die Fruchtwälder der modernen
wissenschaftlichen und künstlerischen Welt erzeugt hat: diese,
obgleich zu einer scheinbaren Selbstständigkeit gelangt, und
durch unzählige Abarten von Wissenschaften und Künsten, die
aus fortgehender Entwickelung sich bildeten, bereichert, hängt
dennoch mit ihren Wurzeln noch immer an dem
nahrungsreichen Fruchtboden des Alterthums fest, so daß, wer
dieses nicht genau kennen gelernt hat, die neuere Zeit und ihre
Hervorbringungen nie genau begreifen wird. |
(P. F. Kanngiesser.) |
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