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Zedler: Verstand Gottes HIS-Data
5028-47-1970-14
Titel: Verstand Gottes
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 47 Sp. 1970
Jahr: 1746
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 47 S. 998
Vorheriger Artikel: Verstandes, (Würckungen des)
Folgender Artikel: Verstand der Heiligen Schrifft
Siehe auch:
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen, Bibel
  • Transkribierter griechischer Text der Vorlage
  • : Absatz in der Vorlage vorhanden

  Text Quellenangaben
  Verstand GOttes, Lat. Intellectus divinus, Intellectus Dei, wenn wir von dem Göttlichen Verstande reden wollen, so legen wir zwar den Begriff, den wir von dem Verstande unserer Seelen, oder einem erschaffenen Geiste haben, zum Grund; wir müssen aber alles, was mit einiger Unvollkommenheit verknüpffet ist, wegräumen.  
  Denn wie GOtt das allervollkommenste Wesen; also hat er auch den allervollkommensten Verstand, folglich ist die Erkänntniß, die er hat, die vollkommenste. Sol-  
  {Sp. 1971|S. 999}  
  che Vollkommenheit der Erkänntniß, die in GOtt ist, muß nach zwei Umständen erwogen werden, und zwar  
 
1) in Ansehung der Sachen, die er erkennet.
 
 
  Er erkennet alles, welches man seine Allwissenheit nennet. Denn soll sie die allervollkommenste seyn, so darf sie nicht eingeschräncket seyn, und muß sich daher auf alle Objecte, die erkannt werden können, erstrecken: wüste GOtt nicht alles, so wäre seine Erkänntniß eingeschränckt; solche Einschränckung aber würde mit seinem independenten unendlichen Wesen streiten. Erkennet GOtt alles, so muß er sich sowohl, als alles ausser sich erkennen.
 
 
  Bey der Erkänntniß seyn selbst weiß er sein Wesen, mithin alle seine Eigenschafften; hat von allen Dingen, die nur möglich sind, und von denen er einige durch die Schöpffung zur Würcklichkeit gebracht, eine Vorstellung, welches man in der Theologie SCIENTIAM DEI NATURALEM nennet; weiß auch alles, was sein Wille beschlossen, und wuste also von Ewigkeit, daß er z.E. eine Welt erschaffen, seinen Sohn zum Heyland vor die Menschen dahin geben werde, so in der Theologie SCIENTIA DEI LIBERA heisset.
 
 
  So erkennet er auch alle Dinge ausser sich, welche entweder die Creaturen selbst sind, die er erschaffen; oder die Begebenheiten, die sich in der Welt zutragen. Weiß er alle Creaturen, so kan man leichte ermessen, wie groß seine Erkänntniß seyn müsse, wenn man erweget, wie groß die Welt sey, und daß darinnen nicht das Geringste anzutreffen sey, so er nicht wissen solte.
 
 
  Bey den Begebenheiten ist ihm nicht nur bekannt, was bereits geschehen und gegenwärtig geschiehet; sondern auch, was noch geschehen soll, oder die künfftige Dinge. Solche sind dreyerley. Denn er weiß erstlich
 
 
 
  die futura necessaria, oder solche zukünftige Dinge, die wegen gesetzter Ordnung kommen müssen, z.E. wenn er vorher siehet, was alle Tage, so lange noch die Welt stehet, vor eine Witterung erfolgen werde;
 
 
 
  vors andere die futura contingentia, d.i. solche künftige Begebenheiten, welche von dem freyen Willen des Menschen dependiren. Denn solte er selbige nicht wissen, so wäre dieses eine Unvollkommenheit und seine Erkänntniß wäre nicht die allervollkommenste, wie sie billig seyn solte. Doch hebt solche Vorhersehung die Freyheit des Menschen nicht auf.
 
 
 
  Drittens erkennet er auch die futura conditionata, oder solche zukünftige Fälle die unter einer gewissen Bedingung sich zutragen werden.
 
 
  Hier zeigt sich schon ein grosser Unterscheid unter dem Göttlichen und menschlichen Verstande. Denn GOtt weiß alles; der Mensch aber nur etwas und zwar nur was weniges, welches keine besondere Ausführung braucht. Denn aus dem, daß der Mensch eine Creatur ist, folglich ein endliches Wesen hat, läst sich schon verstehen, wie sein Verstand von dem Göttlichen müsse unterschieden seyn. Doch solcher Unterscheid läst sich noch deutlicher erkennen, wenn wir die Vollkommenheit des göttlichen Verstandes auch
 
 
2) erwegen in Ansehung der Art und Weise, wie GOtt alles erkennet. Denn dieses geschicht auf die vollkommenste Art.
 
 
  Er erkennet alles erstlich uno actu auf einmahl durch keine auf einander folgende Würckungen, oder Vorstellungen und Gedancken, weil bey GOtt keine Succeßion statt hat. Wenn viele Menschen etwas erkennen, so geschicht
 
  {Sp. 1972}  
 
  solches nach und nach, daß wir erst etwas empfinden und Ideen bekommen müssen, worauf wir nachdencken, und eine Gedancke nach der andern uns erregen. So sind wir auch nicht im Stande, an verschiedene Sachen zugleich zu dencken; sondern wenn wir jetzo an diese Sache gedencken, so können wir an keine andere zugleich gedencken.
 
 
  Vors andere geschicht die Erkänntniß bey GOtt immediate, ohne vorher gegangener Empfindung. Wir können keinen eintzigen Gedancken haben, wenn nicht eine Empfindung vorher geschehen, indem alle Ideen von derselben herrühren. Ist GOtt ein Geist, so kan man ihm keine sinnliche Empfindung beylegen.
 
 
  Drittens geschicht alles sine discursa, wodurch man sonst in der Logick den Zusammenhang der Gedancken verstehet, wenn man eines nach dem andern erkennet, und von den Grund-Sätzen auf die Schlüsse; oder von dem besondern auf das allgemeine kommt, dergleichen Art der Erkänntniß sich von GOtt nicht sagen lässet, weil ein solcher Zusammenhang ebenfalls etwas unvollkommenes bey sich hat.
 
  Nebst der Erkänntniß ist auch bey dem Göttlichen Verstande die vollkommenste Weisheit anzutreffen. Wie nun zur Weisheit zwey Stücke nöthig sind, daß man das Gute nicht nur vom Bösen unterscheiden kan, sondern auch alle Zeit jenes vor diesem erwählet; also geschicht auch dieses bey der Weisheit GOttes, und zwar auf die vollkommenste Art. Er erkennet nicht nur, was seiner Ehren gemäß und den Menschen wahrhaftig nützlich ist; sondern er erwählet auch allezeit das beste. Demnach ist der Verstand GOttes  
 
1) independent (independens) indem er die Sachen nicht anderswo eher erkennet, sondern von sich selbst (a se ipso), daher auch keinen Rathgeber nöthig hat,
Röm. XI, 34;
 
2) der einfachste (simplicissimus), indem er auf einmahl, ohne alle Vernunft-Schlüsse, Abstraction, u.s.w. (uno intuitu, sine omni discursu, ratiocinatione, abstractione, etc.) alles erkennet;
 
 
3) unveränderlich (immutabilis), indem seine Erkänntniß weder abnehmen, noch zunehmen kann;
 
 
4) unendlich (infinitus), indem er nicht nur sein unendliches Wesen allein erkennet, sondern auch sonst alle Wahrheiten, und deren Ursachen, ohne einigen Irrthum erkennen kan;
 
 
5) der reinste (purissimus), indem er zu seinen Ideen oder Begriffen keiner sinnlichen und bildlichen Vorstellungen benöthiget ist.
 
  Einen solchen Verstand schreibet die H. Schrift GOtt zu, Es. XL, 28.
  Sein Verstand ist unausforschlich,  
 
 
  • indem sie ihm noun, mentem, beyleget Röm. XI, 33. wer hat noun kyriou, des Herrn Sinn erkannt?
 
 
 
  • indem sie ihm Augen beyleget,
  • Ps. XXXIV, 16.
  • 2 Chron. XVI, 9.
  • Hebr. IV, 13;
 
 
  • indem sie ihn einen GOtt, der es mercket, (Deum scientiarum) nennet;
 
 
 
  • indem sie ihn ein Licht nennet, 1 Joh. I, 5. in welchem alle verborgene und künftige Dinge gegenwärtig und offenbar sind;
 
 
 
  • indem sie ihm endlich die Wahrheit (veritatem) zuschreibet, und zwar sowohl veritatem essentiae, da er alles dasjenige wahrhafftig besitzet, was zu der höchsten Vollkommenheit gehöret, daher wird er genennet alēthaios Theos, Joh. XVII, 3. als auch veritatem cognitionis, da die Begriffe seines Verstandes vollkommen mit den Sachen selbst überein kommen.
 
  {Sp. 1973|S. 1000}  
  Diese Erkänntniß des Göttlichen Verstandes soll uns dienen  
 
1) GOtt zu verherrlichen und seinen unendlichen und vollkommenen Verstand zu bewundern, nach dem Exempel Davids,
Ps. CXXXIX, 14.
 
  und Pauli,
Röm. XI, 33; 
 
2) uns zu demüthigen, wenn wir die engen Grentzen unsers Verstandes (angustiam nostri intellectus) mit der unendlichen Capazität des Göttlichen Verstandes vergleichen;
 
 
3) Die Geheimnisse der Christlichen Religion desto williger zu glauben, dieweil ein unendlicher Verstand allerdings solche Wahrheiten offenbaren kan, deren Art und Weise unser endlicher Verstand nicht verstehet; und
 
 
4) diesem unendlichen Verstande alle Einrichtungen unserer Wege und Führungen zu überlassen.
  • Walchs Philosophisches Lexicon.
  • Wolffs Theolog. Natural.
  • Müllers Einleitung in die Philosophischen Wissenschafften II Th.
  • Rambachs Dogmatische Theologie I Th. …
  • Johann Gottfried Tecke in Dissert. metaph. inaug. de intellectu divino, Königsberg 1728.
  • Daniel Michaels Diss. philosoph. de intellectu divino.
    In Thümmigs meletematibus varii … befindet sich Specimen physicae ad theologiam adplicata, sistens notionem intellectus divini per opera naturae illustratam.
     

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Stand: 24. Februar 2013 © Hans-Walter Pries