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Zedler: Naturell des Verstands HIS-Data
5028-23-1243-1
Titel: Naturell des Verstands
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 23 Sp. 1243
Jahr: 1740
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 23 S. 639
Vorheriger Artikel: Naturell der Seelen
Folgender Artikel: Naturell der Völcker
Siehe auch:
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen

  Text Quellenangaben
  Naturell des Verstands, ist die Beschaffenheit der natürlichen Fähigkeiten, womit der Verstand eines Menschen von Natur begabet, daß er selbige willkührlich verbessern kan.  
  Von diesen Naturell hat Walch in den Gedancken vom philosophischen Naturell … folgende Vorstellung gemacht.  
  „Bey dem Verstand müssen wir voraus setzen, daß er mit drey Haupt-Fähigkeiten zu gedencken, versehen, als mit dem Gedächtniß, Ingenio, welches man im Deutschen die Zusammenreimungs-Krafft nennen kan, und mit dem Judicio, oder Urtheilungs-Krafft, daher wir auch dreyerley Arten der Gedancken haben, als Gedancken des Gedächtniß, wenn wir etwas mercken, und uns einer Sache erinnern; des Ingenii, wenn wir etwas ersinnen, das vielleicht möglich, auch artig ist, wohin die Vermuthungen, Erdichtun-  
  {Sp. 1244}  
  gen und alle Arten der sinnreichen Gedancken gehören; und des Judicii, wenn wir mit der Wahrheit zu thun haben, daß wir urtheilen und raisonniren.  
  Alle diese drey Fähigkeiten können nach dem Unterscheid der Menschen in Ansehung ihrer Lebhafftigkeit von Natur auf unterschiedene Art vermischet seyn, welche Art der Vermischung, wenn unter andern jemand von Natur ein lebhafftes Ingenium, ein mittelmäßiges Judicium und schwaches Gedächtniß hat, eben das Naturell seines Verstandes ist, so wir sonst das Temperament des Verstandes zu nennen pflegen.  
  Unter diesen Haupt-Fähigkeiten des menschlichen Verstandes hat das Judicium vor den andern den Vorzug, welches auch den Unterscheid einer vernünfftigen und unvernünfftigen Creatur ausmachet, daß man also nach dessen Beschaffenheit die Güte eines solchen Naturells eigentlich beurtheilen muß.  
  Es findet sich der Mangel des Judicii bey einigen Menschen auf eine dreyfache Art. Bey einigen ist derselbe zugleich mit einem Mangel des Gedächtniß und Ingenii im Gebrauch verknüpfft, welches der höchste Grad der Dummheit, andere haben bey einem ziemlichen Gedächtniß einen Mangel am Ingenio und Judicio, so man Stupidität nennen kan; und dann haben welche Ingenium und Einfälle genug, es fehlet aber am besten, oder am Judicio, welcher Fehler die Narrheit ist.  
  Ein gut Naturell des Verstandes hingegen, gründet sich auf die vorhandene Fähigkeit des Judicii, welche sich wieder in verschiedene Arten abtheilet, nachdem man das Judicium entweder an sich nach seinen unterschiedenen Graden; oder in Ansehung der Verknüpffung mit den beyden andern Kräfften, dem Gedächtniß und Ingenio, erweget.  
  Denn in der ersten Absicht differiren die Grade der Lebhafftigkeit am Judicio gar sehr, daß man bald ein schwaches, bald ein mittelmäßiges, bald ein grosses und scharffes antrifft, und bey der Verbindung mit den beyden andern Fähigkeiten, dem Gedächtniß und Ingenio, können wir drey Classen machen.  
  In der ersten stehen diejenigen, bey denen nur eine Fähigkeit die Oberhand hat, die beyden andern aber schwächer, und entweder gleich oder ungleich sind. In der andern befinden sich die, bey denen zwey Fähigkeiten in gleicher Lebhafftigkeit stehen, die dritte aber schwächer ist; und die dritte fasset die ingenia heroica und divina in sich, bey denen alle drey Kräffte, das Gedächtniß, Ingenium und Judicium, in gleicher Lebhafftigkeit anzutreffen.„  
  Dieses Naturell des Verstandes pflegt man mehrentheils im Lateinischen Ingenium zu nennen, und nimmt dieses Wort in weiterm Verstand. Lange in protheoria erud. human. univ. … setzet viele Arten von den Ingeniis, als ingenia  
 
  • ordinaria und extraordinaria;
  • obvia und rara,
  • extrema und moderata,
  • magna und parva,
  • divina und bruta,
  • angelica und diabolica,
  • majestica und plebeja,
  • liberalia und servilia,
  • obsequiosa und pertinacia,
  • praecocia,
  • serotina und matura,
  • vivida und languida,
  • inventiva und collectiva,
  • recta und perversa,
  • ordinata und confusa,
  • und was andere Gattungen mehr
 
  {Sp. 1245|S. 640}  
 
  sind,
 
  woraus man aber leicht siehet, daß er damit sein Absehen nicht allein auf die Beschaffenheit des Verstandes, sondern auch auf den Willen gehabt, und zuweilen ohne Noth gewisse Arten gesetzet.  
  Obgelobter Walch in angezogenen Gedancken vom philosophischen Naturell … zeiget die Nothwendigkeit eines Naturells zu Erlernung der Wissenschafft auf folgende Art:  
  „Auf eine Profeßion sich legen, heist so viel, daß man diejenige Habitus oder Fertigkeiten erlangt, die zur Vollführung der in der Profeßion vorfallenden Geschäfften nöthig sind. Ein jeder Habitus aber setzt gewisse natürliche Kräffte zum voraus, indem alle Habitus durch Fleiß erlangte Geschicklichkeiten der natürlichen Kräffte sind, daher berichten Gelliusnoct. Attic. und Jamblichus vit. Pythag. … von dem Pythagora, daß er bey demjenigen, der sich in seine Schule habe begeben wollen, aus verschiedenen Kennzeichen eine Prüfung des Naturells und der Gemüths-Art angestellet.  
  Nach dem Unterscheid aber der Profeßionen, werden auch unterschiedene Naturelle erfordert, welches aus der Beschaffenheit der Sache, die wir tractiren wollen, zu beurtheilen, und wenn wir dieses auf die gelehrten Wissenschafften appliciren, so ist ein Mensch nicht zugleich zu allem von Natur geschickt. Die Poesie erfordert ihr Naturell, das ist, die natürliche Fähigkeit des Ingenii, und eine Lust zu dichten, daher auch das bekannte Sprichwort entstanden: poetae nascuntur, non fiunt.  
  Wohin gleichfalls Cicero pro Arch. … seine Gedancken richtet, wenn er schreibet: Sic a summis hominibus eruditissimisque accepimus, ceterarum rerum studia et doctrina et praeceptis et arte constare, poëtam natura ipsa valere et mentis viribus excitari.  
  „Gleiche Bewandniß hat es mit der ungebundenen Rede-Kunst, welche man schlechter dings die Oratorie nennet, daß ein Redner ein mit Judicio verknüpfftes Ingenium haben muß, damit er zu allerhand artigen und sinnreichen Einfällen geschickt sey, und selbige vermöge des Judicii wohl zu gebrauchen wisse; und wer nebst seinem Judicio auch einiges Ingenium besitzet, wird in der Critic weit glücklicher seyn, als der scharffsinnigste ohne Ingenio.„  
    Von den unterschiedenen Arten des Verstandes lese man Antonium Zaram in Anatom. ingen. … Joh Barclajum in icon. animor. … und diejenigen, die insonderheit ihr Absehen auf die gelehrten Wissenschafften gehabt, wie weit jemand von Natur dazu geschickt sey, oder nicht, als Edmundum Richetium in obstetric. animor. … Morhof in Polyhist. litterar. … und Buddeum in selectis jur. nat. et gent. …
    Von dem Philosophischen Naturell handelt Heumann in den Actis philosoph. …; Walchs Gedancken aber davon, sind 1723 in 8 heraus kommen. Es hat auch Gassendus seinem Syntagmati philosophico eine Abhandlung von der Philosophie überhaupt fürgesetzet, davon das vierte Capitel die Uberschrifft hat: Qui ad philosophiam nascantur, in dem ersten Theil seiner gesammten Wercke ... wor-
  {Sp. 1246}  
    innen er aber mehr einige Umstände aus der alten philosophischen Historie erläutert, als die Sache selbst fürgetragen hat, massen er nur einige Eigenschafften eines rechten Philosophen durchgegangen. Zu Jene ist 1721 Weigmanni Disputation de ingenio ad philosophiam nato herauskommen.
     

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Stand: 7. Januar 2013 © Hans-Walter Pries