Titel: |
Ingenium |
Quelle: |
Zedler Universal-Lexicon |
Band: |
14 Sp. 694 |
Jahr: |
1735 |
Originaltext: |
Digitalisat BSB
Bd. 14 S. 368 |
Vorheriger Artikel: |
Ingenieur-Maß |
Folgender Artikel: |
S. Ingenua |
Siehe auch: |
|
Hinweise: |
- Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe
Hauptartikel
- Für die Auflösung der Quellenangaben siehe:
Personen
|
|
Text |
Quellenangaben |
|
Ingenium,
bedeutet sonst bey denen
Lateinern überhaupt den
Verstand. |
Cicero de Finib. … |
|
Besonders aber wird es vor diejenige
Krafft
unsers Verstandes, da wir
Möglichkeiten
erfinden,
genommen. Es äussert sich durch allerhand
Dichtungen, und zwar entweder in
Worten, so
nennet man es einen Schertz, oder in der
That, so
heisset es eine Fiction. |
|
|
Der
Nutzen dieser Krafft unsers Verstandes
ist sehr groß. Hätten wir nur eine
Gedächtniß- und
Beurtheilungs-Krafft, so würden wir zwar viele
Wahrheiten
erfahren, doch aber keine andern, als
welche das Gedächtniß dem
Iudicio
unmittelbar
vorlegen würde. Auf solche Weise aber würden
alle neue Erfindungen wegfallen. Ja nicht allein
dieses, sondern das
Wesen derer
Dinge würde
uns gröstentheils gar unbekannt bleiben. Denn
was das Wesen eines Dinges sey, äussert sich
unsern
Sinnen nicht leichtlich. Wir
empfinden nur
die
Würckungen und
Mittel, was aber ihre
Ursache
und
Zweck sey, bleibet noch unbekannt. Da
fänget nun das Ingenium an zu
würcken. |
|
|
Da
fragt sichs, was
möchte wohl vor eine
Ursache oder Zweck dahinter seyn? Unser
Ingenium, ie lebhaffter es ist, ie leichter wird es
bald dieses bald jenes angeben, vielleicht wird es
heissen, könnte dieses oder jenes seyn. Diese
seine Würckung aber gehet also zu: Da das
Ingenium eine Krafft des Verstandes ist; alles
Thun aber des Verstandes in dessen
Leidenschafft seinen
Ursprung nimmt, als
gebrauchet das Ingenium die sinnliche
Empfindung, und zwar so, daß es nach
eigenen
Belieben
Dinge, so es durch die Sinne bekommen
hat, zusammen setzet, von einander sondert,
vergrössert, verkleinert oder vergleichet. Auf
solche Weise gebieret es allerhand
Möglichkeiten. |
|
|
Wäre nun der
menschliche
Verstand so
beschaffen, daß er nichts anders dencken könnte,
als was
würcklich auch so wäre, so dürffte man
sich auf solche Einfälle verlassen; weil aber die
Erfahrung das Gegentheil lehret, also sind zwar
die Einfälle des Ingenii
nützlich, aber nicht
deswegen auch |
|
|
{Sp. 695|S. 369} |
|
|
wahr. Deswegen muß nun das
Iudicium sich
darüber machen, muß die Einfälle mit der
Erfahrung zusammen halten, und da wird sichs
weisen, ob die
Umstände
übereinstimmen oder
nicht, folglich ob unser Einfall wahr oder falsch.
Auf diesem
Grunde beruhet die
gantze
weitläufftige Lehre von der
Probabilität. |
|
|
Man siehet auch hieraus, wie
nothwendig es
sey, das Ingenium aufzuwecken. Doch das nutzte
noch nichts. Denn wie viele Narren giebt es nicht,
die mit ungebührlichem Schertz und Possen,
Spötterey mit
GOtt und göttlichen Dingen,
unwahrscheinlichen Einfällen und dergleichen ein
mehr als zu starckes Ingenium weisen, und
gleichwohl in der
Wahrheit keinen
Gewinst
erhalten. Derowegen so
nöthig das Ingenium, so
sehr ist doch darauf zu sehen, daß es nicht aus
denen
Schrancken schreite. |
|
|
Diese bestehen aber darinnen, daß das
Ingenium das
Iudicium an
Kräfften nicht übertreffe,
weil sonst das Ingenium allzufreygebig mit seinen
Möglichkeiten seyn würde, und auf solche Weise
das Iudicium nur durch allzuviele Einfälle
überhäuffen, da es denn leichte geschehen
würde, daß wir ohne sattsame Prüfung und
Wahl
das erste vor das beste halten, und also
irren
mögten. Ja ein wohl eingerichtetes Ingenium wird
nicht ein iedes, was ihm einfället, hervorbringen,
sondern schertzet es, so wird es manierlich seyn,
dichtet es was, so wird es schon einigen Schein
der Wahrheit haben. |
|
|
Mercket man nun eine Schläffrigkeit seines
Ingenii, so wecke man es durch
Umgang mit
Ingeniösen Leuten auf, lese
Bücher, dabey ein
starckes Ingenium
gebrauchet worden, als
besonders Poeten, mercke auf diejenigen
Geschichte, an denen das Ingenium viel
Theil
gehabt. |
|
|
Es erstrecket sich aber der
Nutzen des
Ingenii nicht nur auf die
Erkenntniß der Wahrheit.
Ein Mensch, der ein lebhafftes
Ingenium hat, wird
sich in allen Fällen heraus zu wickeln
wissen. Sein
fruchtbares Ingenium wird ihm gleich ein
Mittel
weisen, wenn ihm etwas fehl schlagen
sollte. Im
disputiren wird er nicht stille schweigen, sondern
sein aufgeweckter
Kopf wird ihm gleich eine neue
Antwort an die Hand geben. |
|
|
Mit diesen
Würckungen des
Verstandes sind
die
Handlungen des
Willens genau
verknüpffet.
So geschwind der Ingeniöse im Verstande, so
veränderlich ist er im Willen. Deswegen ist er
wohllüstig, und eben dieses reitzet sein
Ingenium
desto mehr an, damit es ihm nie an einer
Ergötzlichkeit mangele. Du kannst also, wenn du
dich nur in deinem Achtung geben nicht betrogen,
mit
Gewißheit
schlüssen: ist des Menschen seine
hauptsächliche Krafft in Ansehung seines
Verstandes das Ingenium, so wird im Willen seine
hauptsächliche
Neigung zur
Wohllust gehen. |
|
|
|
|