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Zedler: Urtheil, Lat. Judicium HIS-Data
5028-51-639-9-00
Titel: Urtheil, Lat. Judicium
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 51 Sp. 639-648
Jahr: 1747
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 51 S. 333-337
Vorheriger Artikel: Urthedinge
Folgender Artikel: Urtheil, Urteil
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  Text  Quellenangaben
  Urtheil, Lat. Judicium, bedeutet überhaupt den Ausspruch, die Meynung von einer Sache, wenn man durch die Urtheilungs-Krafft, (so im Lateinischen auch Judicium heisset, und von der ein besonderer Artickel folget) würcklich etwas entscheidet, das ist, einer Sache etwas zuschreibe oder beylege.  
  Das Urtheil kan auf eine zweyfache Art betrachtet werden: einmahl sofern selbiges in den Gedancken bestehet, und auf das Verhältnis sonderlich zweyer Ideen beruhet, die man entweder zusammen setzet, oder von einander trennet; hernach sofern man es in Worten ausdrücket, und da wird es insbesondere eine Enunciation, eine Proposition oder ein Satz, Lat. Propositio, Enunciatio, genennet, wovon der Artickel: Satz, im XXXIV Bande, p. 246. u.f. nachzulesen.  
  Es bestehet ein Urtheil aus zwey Stücken, die gantz natürlich sind, nehmlich aus dem Begriff der Sache, daran ich gedencke, und aus dem Begriff desjenigen, was ich ihm beylege, oder davon absondere. Bey den meisten Sachen erhellet dieses gantz deutlich, bey manchen aber ist es etwas dunckel und versteckt, jedoch findet man es allezeit, wenn man nur Acht darauf geben will.  
  Wo ich zwey oder mehr Begriffe habe, die ich mit einander verbinde, so muß ein Urtheil seyn. Unter den Sachen werden auch hier die Personen mit verstanden, z.E. Wenn ich einen Schluß fasse, daß ich etwas thun oder lassen will, so ist dieses ein Urtheil, denn ich schreibe mir dasjenige, was ich verrichten oder unterlassen will, zu.  
  Wann ich einer Sache in den gemeinen Leben etwas beylege, oder abspreche, so nennet man dieses ein Urtheil, bey den Wissenschafften aber einen Lehr-Satz, daraus ich hernach eines und das andere herleite. Sobald die kleinsten Kinder anfangen, Sachen zu erkennen und Begriffe zu formiren, so fangen sie an zu urtheilen, und Begriffe miteinander zu verknüpffen. Empfinden  
  {Sp. 640}  
  sie die Ruhe, so verbinden sie den Schmertz, den sie davon empfinden, mit dem Begriff der Ruthe, und urtheilen daher, daß die Ruthe etwas Übels sey, lernen sich dahero nachgehends vor der Ruthe fürchten. Je mehr Begriffe sie nachgehends erlangen, je mehr häufen sich die Urtheile.  
  Wer auf seine Gedancken ein wenig Acht hat, der wird finden, daß ein jeder Begriff, er entstehe nun aus der innerlichen Würckung der Seele, oder werde durch die äusserliche Anleitung der Sinnen in uns generiret, uns zu einem Urtheil veranlaßt, wenn wir nehmlich bey denselben Begriff mit unsern Gedancken stille stehen. Z.E. Wir gehen auf der Gasse, und sehen ein Haus an, dencken dabey an nichts anders, so urtheilen wir gleich, das Haus ist garstig, bequem, u.s.w. Gehen wir hinter der Leiche her, da uns eine geliebte Person gestorben, so wird der Begriff des Sarges, den wir anschauen, uns zu vielfachen Urtheilen verleiten, die uns in unserer Betrübniß unterhalten.  
  Je länger man sich bey einem Begriff aufhält, und je aufmercksamer wir dabey sind, je mehr Urtheile fallen uns ein. Wenn wir z.E. eine fremde und unbekannte Frucht lange anschauen, so machen wir mancherley Urtheile, wir dencken, diese Frucht gleichet dieser oder jener, sie hat vielleicht diese Eigenschafften, sie könnte aus diesem fremden Lande, sie könnte wohl bey uns auch gezogen werden. Betrachten wir mit Attention ein schönes Haus so verbinden wir mancherley Urtheile, daraus, von dessen Lage, Bequemlichkeit, Architectur, Geschicklichkeit des Baumeisters, Vergnügung des Bau-Herrns, die er davon haben kan, Unkosten, die darauf gewendet worden, u.s.w. Und diese Urtheile dauren so lange, bis wieder ein neuer Begriff kommt, der uns von diesem ab, und zu andern verleitet.  
  Schauen wir aber mit unsers Leibes- oder Gemüthes-Augen eine Sache nicht lange an, theils wegen Mangel der Zeit, oder der Flüchtigkeit unsers Humeurs, oder des Verdrusses, den wir darob empfinden, oder wegen anderer Umstände, so werden wir alsdenn nur eines oder wenige Urtheile dabey formiren. Z.E. Es begegnet uns eine abscheulich garstige Person, so werden wir mit unsern Gedancken uns nicht lange dabey aufhalten, sondern etwa gedencken, pfuy, dis war ein heßlicher Anblick, und uns alsdenn zu einem andern Object wenden.  
  Wenn die Welt-Hertzen an GOtt, an Tod, Himmel und Hölle, die Bibel, die Gottesfurcht, u.s.w. gedencken, so verbinden sie nur wenige Urtheile damit, indem sie sich bey diesem Begriff als ihnen unangenehmen Sachen, nicht gar lange aufhalten,  
  {Sp. 641|S. 334}  
  sondern mit den weltlichen Sachen mehr Urtheile verbinden; Bisweilen kan es auch bey manchen Umständen geschehen, daß man von einer widrigen Sache mancherley Urtheile formiret, wenn sie nehmlich entweder einen sehr tieffen Eindruck in unsere Seele gemacht, daß wir die Ideen lange Zeit nicht loswerden können, oder sonst ein Grund unserer Aufmercksamkeit vorhanden. Z.E. Wir sehen ein altes heßliches Weib, die aber viel Geld und Lust zu heyrathen hat, oder es sitzt ein armer Sünder, der das Leben verwürcket, der sich von dem Tode wider seinen Willen mancherley Urtheile machen muß.  
  Formiren wir von Sachen, ob sie gleich in unsere äusserliche Sinnen fallen, mit Aufmercksamkeit keine Begriffe, so formiren wir auch keine Urtheile davon, da die Urtheile und Lehrsätze nichts anders sind als Begriffe, die mit einander vereiniget werden, so erkennet man, daß sie eben so beschaffen seyn müssen, als die Begriffe, von denen sie zusammen gesetzet; sind die Begriffe der Wahrheit gemäß, so entstehen auch wahre Urtheile, (Judicia vera); aus falschen und unmöglichen Begriffen hingegen erwachsen falsche und unmögliche Urtheile (Judicia falsa et impossibilia).  
  Aus klaren, deutlichen und vollständigen Begriffen werden accurate Urtheile, und aus dunckeln, undeutlichen und unvollständigen Begriffen eben dergleichen Sätze. Du findest die Urtheile von allen Sachen, Handlungen und Personen in dem menschlichen Leben, wenn du nach der Erklärung desjenigen, wovon du urtheilest, aussprichst, was ihr zukomme. Hast du nun eine genauere Erkänntniß der Sachen, und hast du gelernet wohl zu schliessen, so kanst du accurat urtheilen. Rohrs Vernunfft-Lehre p. 92. u.f.
  Es ist nehmlich nicht genung, eine Wahrheit nur historisch zu begreiffen und Ideen davon zu machen, sondern man muß bey allen auch auf richtigen Grund sehen, warum man etwas vor wahr halte; um so viel mehr, da die Meynungen der Menschen sehr unterschieden sind, und offt einander zuwider lauffen. So viel es also möglich, muß man allezeit dem Grund eines Satzes zu erfinden und zu prüfen suchen, welches denn durch Urtheile geschiehet.  
  Es ist daher ein Urtheil, Lat. Judicium die Verbindung oder Trennung zweyer oder mehrerer Begriffe. Damit man nun vernünfftig urtheilen, Lat. judicare, lerne, muß man zuvor einen Satz erst den Worten nach erklären und unterscheiden, ehe man desselben Beweis und Principium suchet, welches die Unterscheidung und Festsetzung des status controversiae genennet wird. Die Ursache liegt in der unterschiedenen Bedeutung der Wörter, welche nicht nur in Erklärungen und Begriffen, sondern auch offt in gantzen Sätzen anders genommen werden. Man formiret aber den statum controversiae in etlichen Sätzen aus der Philologie, da man blos auf den Gebrauch der Wörter siehet, wie zuweilen unterschiedene Dinge dadurch ausgedrucket werden. Z.E. Wenn man fragen wolte, ob der Mensch durch GOttes Gerechtigkeit das ewige Leben erlange? so ist, ehe man diesen Satz beantwortet, erst voraus zu setzen, daß darinn das  
  {Sp. 642}  
  Wort Gerechtigkeit entweder verstanden werde von der wesentlichen Eigenschafft GOttes, da er das Gute belohnet und das Böse bestrafet, oder von der erworbenen Gerechtigkeit und Verdienst Christi. Im letztern Falle ist er mit Ja zu beantworten, im erstern aber nicht.  
  Andere Sätze müssen aus der Historie erkläret werden; Z.E. wenn man sagen wolte, daß alle unserer Erkänntniß aus Ideen zusammen gesetzet sey, so könnte man hierbey erst unterscheiden, daß es nicht Platonische Ideen seyn müsten, der darunter wesentliche Formen der Creaturen in Göttlichen Verstande begrif, sondern nur die Abdrücke der Dinge, welche die Menschen sich davon vorstellen.  
  Zuletzt muß man auch viele Fragen aus ihrer Natur und aus der Sache selbst unterscheiden, nachdem man ein Ding überhaupt, oder nur nach gewissen Theilen mit oder ohne Limitation verstehet. Z.E. Wenn man wissen wolte, ob die Welt eine Maschine sey, so müste man nicht die Welt überhaupt nehmen, daß man es von Geistern und moralischen Würckungen zugleich bejahete, sondern nur von der natürlichen und cörperlichen Welt, da es ausser Streit ist, und seine Richtigkeit hat. So ist es auch mit der Lehre de moderamine inculpatae tutelae; da erst viele Einschränckungen und Regeln zu machen sind, ehe es vor erlaubt und zuläßig darf gehalten werden.  
  Hierauf muß man die beyden Ideen eines Satzes durch Real-Definitiones erklären, weil selbige den Grund des Zusammenhanges in sich fassen, dergestalt, daß, wenn man ihre Natur recht einsiehet, der Beweis von selbst bald in die Augen fället. Es ist aber um mehrerer Deutlichkeit willen gut, das Subject und Prädicat eines Satzes erst zu unterscheiden, weil die Propositiones offt verkehrt gesetzet werden, und man aus dem Subject insgemein den Beweis-Grund hernehmen muß. Es kan aber solches aus den Begriffen, was ein Subject und Prädicat sey, gar leicht geschehen, sonderlich wenn man Acht giebet, welche Ideen die andere enthält, oder in der andern gegründet ist.  
  Was die Erklärung selbst betrifft, so hat man nur zu unterscheiden, obs ideae rerum, factorum, relationum sind, u.s.w.  
  Ob man aber zuerst das Subject oder Prädicat erklären solle, daran liege nicht gar viel, weil man doch eher den Grund nicht begreiffen kan, bis man beyder Erkenntniß und Einsicht voraus gesetzet hat. Jedoch, wenn man einen Satz weitläuftig, wie in Disputationen geschiehet, ausführen will, so ist wohl die Ordnung am allernatürlichsten, wenn man vorher das Subject nach seiner Natur und Eigenschafften durchgehet, und hernach aufs Prädicat kommt, da denn in jenem die Principia von diesen schon sind vorausgesetzet worden.  
  Wenn man aber etwas nur gantz kurtz beschreiben will, kan man auch das Prädicat welches vielmahl weitläuftiger ist, als das Subject zuerst nehmen; Da man denn bey Erklärung des Subjects zugleich auf den Beweis-Grund des Urtheils geführet wird.  
  {Sp. 643|S. 335}  
  Das meiste hierbey kommet auf die Erfindung des Beweises an, wozu man gelanget, wenn man die Erklärung beyder Ideen eines Satzes gegen einander hält und vergleichet. Wenn nun das Prädicat ein wesentlich Stücke des Subjects in sich fasset, so muß der Grund, vermöge welchen man die Proposition bejahen oder läugnen will, gleich unmittelbar in der Idee des Subjects enthalten seyn. Z.E. Wenn die alten Perser ein gedoppeltes independentes Principium angenommen haben, und man fragen wolte, ob auch ein böser Gott seyn könnte; so darff man nur erklären, was GOtt sey, nehmlich ein Geist, der alle Vollkommenheiten im höchsten Grad begreiffet, eben daher, weil seine Independentz das mit sich bringet. Derowegen folgt, daß was nicht gut, ja nicht mit allen höchsten Vollkommenheiten begabt ist, nicht GOTT seyn könne, ja daß ein böser GOtt einen Widerspruch in sich fasse.  
  Hingegen wenn im Prädicate eine Eigenschafft, oder überhaupt ein Modus angezeiget wird; so fließt der Beweis-Grund aus der Natur des Subjects vermittelst eines Schlusses. Z.E. Von der Seele, daß sie nicht aus Materie zusammen gesetzet, oder was cörperliches sey. Denn die Seele ist ein Wesen, welche mit Verstand und Willen begabet ist; Weil nun diese Kräffte, und die daher fliessende Würckungen in der Natur eines Cörpers nicht gegründet seyn können, als der ein todtes und leidendes Ding ist; so folgt, daß das Wesen der Seelen nicht aus Materie bestehe, sondern ein Geist sey.  
  Man kan fast noch leichter zum Beweis-Grunde gelangen, wenn man auf das Prädicat mercket, in welche Classe der Dinge es zu rechnen sey, und aus welchem Grunde der Erkenntniß man solches erklären müsse. Z.E. Wenn man fragen wolte, ob zum Ebenbilde GOttes auch die Weisheit des Verstandes mit zu rechnen sey; so ist die Weisheit ein Begriff, so unter die Vollkommenheiten des menschlichen Verstandes zu zehlen ist, und muß folglich erkläret werden aus dem Endzweck des Verstandes, welcher dazu gegeben worden, daß die Liebe und Verrichtungen des Willens zu des Menschen Wohlfarth sollen regieret werden. Weil nun solches durch wahre und lebendige Erkenntniß des Guten und Bösen geschiehet, und hierin das Wesen der Weisheit bestehet: so folgt, daß dieselbe auch nothwendig zum Ebenbilde GOTTES mit gehöre, als welches überhaupt alle Vollkommenheiten der menschlichen Seele in sich fasset. Also auch, wenn man beweisen will, daß ein GOTT sey, so fliesset die Existentz eines Dinges a posteriori aus den Würckungen desselben. Derowegen sind auch die Geschöpffe und Wercke GOttes der Beweis-Grund seines Seyns und Existentz.  
  Weil nun nach eben dieser Methode offt verschiedene Gründe der menschlichen Erkenntniß zur Erklärung eines Dinges gebrauchet werden können; so giebts auch aus gleichem Grunde mehrere Ar-  
  {Sp. 644}  
  ten der Beweißthümer, da denn nicht eben nöthig ist, alle zu nehmen, sondern man darf nur die vornehmsten und gründlichsten zur Bestätigung seines Satzes darunter aussuchen.  
  Wer in einfachen Urtheilen (Judiciis simplicibus) wohl geübet ist, dem kans nicht schwer fallen, auch zusammengesetzte Urtheile (Judicia composita) gründlich zu resolviren; Nehmlich man darf sie nur erst in einfache, so viel derselben ein zusammen gesetztes Urtheil begreiffet, aus einander setzen, und darauf von einem jedweden besonders den Beweis-Grund suchen. Jedoch ist die Ordnung dabey zu beobachten, daß man zur Erleichterung und gründlicher Ausführung dasjenige zuerst betrachte, worinn der Grund auch von dem folgenden enthalten ist. Z.E. GOtt liebet sowohl sich selbst, als auch die Geschöpfe. Hier ist die Liebe GOttes gegen sich selbst um seiner höchsten und unendlichen Vollkommenheit willen die Ursache, warum er auch seinen Geschöpfen gnädig ist, als in welchen er sin Bild und Vollkommenheiten gewisser massen abgedrucket hat.  
  Auf dergleichen Weise geschiehet es vielmahls in mehrerern Exempeln, daß zusammengesetzte Urtheile also zusammenhängen. Wie aber ein jedweder einfacher Satz zu tractiren, und der Beweis desselben zu erfinden sey, ist im vorhergehenden schon deutlich gezeiget worden.  
  Es haben gewissermassen noch etwas besonders die propositiones incidentes, dabey man aber unterscheiden muß, ob die Neben-Idee dem Subject oder Prädicat angehänget ist. Wenn sie beym erstern sich findet, so muß man nach Erklärung des Subjects auch von der Neben-Idee gleich einen richtigen Begriff machen, weil gemeiniglich das Prädicat sich darnach richtet, und bewiesen wird. Es geschiehet aber solches in etlichen Sätzen durch eine gewöhnliche Erklärung; im andern aber durch eine Unterscheidung und Abtheilung. Z.E. Wenn man sagt: Der allmächtige GOTT hat die Welt erschaffen, oder: Der gerechte GOTT straft die Sünde, da braucht man die Concepte der Allmacht und Gerechtigkeit bloß zu erklären, und sind dieselben der Grund selbst von gedachten Urtheilen. Wenn man aber fragt, ob nur allein die Gläubigen zum ewigen Leben auserwählet sind, so setzet das voraus, daß eine zweyfache Art Menschen, nehmlich Gläubige und Ungläubige gefunden werden, deren beyden Beschaffenheit, um mehrerer Deutlichkeit willen, kurtz zu beschreiben ist.  
  Bey der erstern Art der Sätze wird auch ein Neben-Beweis erfodert, warum die Idea incidens dem Subject zukomme, welches bey der andern Art nicht eben vonnöthen ist. Wenn dieses geschehen, wird das Prädicat  
  {Sp. 645|S. 336}  
  erkläret, und der Haupt-Beweiß hinzugefüget, wie solches oben erwiesen worden.  
  Wenn das Prädicat eine Neben-Idee enthält, wird zuerst das Haupt-Urtheil ausgeführet, hernach aber die Neben-Idee erkläret, und mit einem besondern Beweis-Grunde bestättiget. Z.E. Wenn man wider die Apocatastasien erweisen wolte, daß die Gottlosen ewig verdammt würden; so kan man vorher überhaupt den Zustand der Verdammniß nach diesem Leben erklären und fest setzen; hernach aber auf den Neben-Satz kommen, daß solche Verdammniß ewig dauren solte.  
  Bisweilen wird auch der Zusammenhang eines Satzes durch Neben-Ideen modificiret. Darin gehören die Sätze, welche man Modales nennet, und anzeigen, daß das Prädicat dem Subject nothwendig, oder nur zufälligerweise zugehöre, daß dasjenige, was von einer Sache gesaget wird, möglich sey oder unmöglich statt finden könne. Hierbey ist weiter nichts zu mercken, als daß man nur von dem nothwendigen, zufälligen, möglichen und unmöglichen einen rechten Begrif und Fundament fasse, daraus man alle dergleichen Sätze gar leicht wird beurtheilen können. Z.E. Wenn man sagt, daß ein Gott existire, ist nothwendig; so heisset ein Ding absolute nothwendig, wenn es den Grund seines Seyns in sich selber hat. Weil nun GOtt nicht erschaffen, sondern als die erste Ursache aller Dinge durch sich selbst ist; so folgt, daß er auch nothwendig seyn müsse, und durch sich selbst existire.  
  Eben zu dieser Art kan man auch die bedingten Urtheile (Judicia conditionata) zehlen, wobey man insonderheit sehen muß, ob die Bedingung wahr oder falsch sey, d.i. ob sie eine gegründete Ursache sey, warum der Haupt-Satz müße angenommen oder geläugnet werden. Z.E. Wenn die Socinianer und Papisten die Bedingung selig zu werden, nicht im Glauben setzen, sondern in der Heiligkeit und guten Wercken; so sind ihre Lehr-Sätze hievon der Wahrheit des göttlichen Wortes nicht gemäß.  
  Endlich folgen die allgemeinen, (universalia) besonderen, (particularia) und eintzelen Urtheile, (Judicia singularia) dabey man überhaupt diese Grund-Regel angiebt, daß das Prädicat nach der Natur und Beschaffenheit des Subjects und dieses wiederum nach dem Verhalten des Prädicats anzunehmen und zu erklären sey. Z.E. Wenn man sagt, GOtt wolle alle Menschen selig machen, so ist dieser allgemeine Satz genung gegründet, man mag betrachten, so wohl die Vollkommenheit GOttes nach seiner allgemeinen Gnade, als auch alle Menschen nach ihrem grossen Verderben, Dürftigkeit und Elend: Wenn man aber gedencket, daß nur wenige auserwehlet, die meisten aber verworffen sind, so fliesset das auch aus dem Verhalten des menschlichen Geschlechts, weil der grösseste Theil unter der Herrschafft der Sünden bleibet, da denn unmöglich ist, daß sie mit GOtt könten vereiniget und befreyet werden. Zuletzt, wenn es heisset, daß GOtt allmächtig, die Welt zufällig sey, u.s.w. so giebt die Erwegung der Prädicate von selbst an die Hand, daß die Allmacht GOtt alleine zukomme, die Zufälligkeit aber allein der Welt eigen sey. Und sind es folglich eintzelne Sätze.  
  Man kan auch bey die-  
  {Sp. 646}  
  ser Art Urtheile die Erfahrung und Induction zu Hülffe nehmen. Z.E. Alle Menschen sind sterblich, etliche sind nur gelehrt, Paulus ist enthauptet, welcher letzte aus der Historie bewiesen wird. Zimmermanns Vernunfft-Lehre, p. 59. u.f.
  Wir wollen hier noch ein paar nützliche Regeln mittheilen, die man beym Urtheilen wohl zu beachten hat:  
 
1. Lege einer Sache keinen Begrif bey, als dessen Möglichkeit du entweder aus einer sichern und gewissen Erfahrung, oder aus einem zureichenden Grunde erkannt hast. Trage auch keinen Begrif davon, als bis du auf vorhergehende Art die Unmöglichkeit der Verbindung wahrgenommen.
 
 
  Es wird diese Regel blutselten beobachtet, indem nichts gemeiners ist, als daß die meisten von tausend Sachen urtheilen, da sie doch keinen Grund ihres Urtheils anzuzeigen wissen. Sie raisonniren von anderer Leute Heyrathen, Ämtern, Reisen, Geld-Ausgaben, u.s.w. und legen ihnen nach Gefallen bald Klugheit, bald Thorheit bey, sie urtheilen über die Unternehmungen grosser Herren, über das Commando der Generale, über die Kriege, Friedens-Schlüsse und Alliantzen, u.s.w. davon ihnen doch die Absichten, die Raisons, warum dieses geschicht, und andere Umstände gemeiniglich unbekannt sind; und also urtheilen sie öfters falsch, das ist, aus Schwatzhaftigkeit, nach Affecten, nach ihren Vorurtheilen, nach ihrer Einbildung, nach dem Schein der Möglichkeit, und nach anderer Leute Meynungen. Viele beten andern nach, wie sie es so von ihnen gehöret. Wer aber vernünftig reden oder schreiben will, der wird sich bemühen allezeit einen tüchtigen Grund zu finden, warum er einer Sache dieses oder jenes beyleget, und sich gefast machen, sein Raisonnement, wenn ihn jemand darum befragte zu beweisen.
 
 
2. Gehe nicht weiter in deinem Urtheile, als nach dem Grade der Klarheit, Deutlichkeit oder Vollständigkeit der Begriffe, die du so wohl von der Sache, davon du urtheilest, als auch von dem Urtheile selbst erlangt, möglich ist.
 
 
  Aus Verabsäumung dieser Regel gehen in dem menschlichen Leben vielerley falsche Urtheile vor. So raisonniren ihrer viele von Kranckheiten und Medicinischen Sachen, die doch keine deutlichen, geschweige denn vollständige Begriffe davon haben. Sie beurtheilen, dieser sey ihr Freund, und ein anderer ihr Feind, da sie doch von beyden keine deutlichen Begriffe formiren. Wie die meisten Menschen sich nur klare und keine deutlichen noch vollständigen Begriffe machen, sich aber doch einbilden, daß sie die Sachen deutlich begreiffen; so kan man leicht gedencken, daß deswegen mancherley falsche Urtheile unter den Menschen vorgehen müssen.
 
 
  Es ist wohl an dem, daß wir nicht von allen Sachen nach deutlichen und vollständigen Begriffen urtheilen können, sondern von vielen Sachen nach klaren Begriffen, weil wir doch mit der Erkänntniß zufrieden seyn müssen, die wir erlangen können, wir müssen aber auch alsdenn unser Urtheil nicht weiter extendiren. Die Vernunft-Lehre weiset nur die Wahrheit der Urtheile an, läst sich aber im übrigen um
 
  {Sp. 647|S. 337}  
 
  die andern Regeln, so dabey in Obacht zu nehmen, unbekümmert, hingegen die Moral und Politic zeiget, wie wir uns in unsern Urtheilen so vorsichtig aufführen sollen, daß wir uns oder unsern Nächsten nicht dadurch unglücklich machen.
Rohrs Vernunfft Lehre, p. 96 u.f.
  Dieses, was wir nur gesaget, giebet uns Gelegenheit, einige kurtze und nützliche Regeln hieher zu setzen, welche man beym Urtheilen in Conversation und den gemeinen Leben nicht aus den Augen zu setzen hat:  
 
1) Urtheile von andern Leuten niemahls nichts ungleiches. Denn du handelst hierdurch wider dem Befehl des Allerhöchsten, du machst dir denselben, von dem du etwas Böses sprichst, zum Feinde, wenn er es wieder erfähret, du setzest dich auch bey rechtschaffenen Leuten im übeln Credit, wenn sie hören, daß du die Leute verleumdest.
 
 
2) Sagst du ja einem etwas übels nach, so bilde dir allezeit ein, daß es der andere wieder erfahren werde. Denn so wirst du gewiß nicht mehr reden, denn du gegen ihn verantworten kannst, wenn man es ihm entdecken solte.
 
 
3) Erzehlen andere Leute von jemand böses gegen dich, so schmähle du auf das Laster, und nicht auf die Person. Denn, sagst du gar nichts dazu, verdriest es die Erzehlenden; hilfst du aber auf den andern zugleich schelten, so wird der andere auf dich ungehalten, und du beleidigest auch die Pflicht eines Christen.
 
 
4) Entschuldige allezeit, wo es sich schicken will, die Fehler und Laster derjenigen, von welchem geredet wird. Sind aber dieselben so beschaffen, daß sie fast nicht können vermäntelt werden, so sage doch auch das Gute, welches dieselbe Personen an sich haben. Du erfüllest dadurch die Schuldigkeit eines Christen, und machst dir nicht allein denjenigen, den du verteidigest, zum Freunde, wenn er es wieder erfähret, sondern erwirbst dir auch einen guten Nahmen bey der Compagnie, die dis höret; Jedoch nimm dich auch in acht, daß du nicht einen Menschen defendirest, der bey jederman in Blame, und sich sehr gottloß aufführet. Ingleichen siehe auch die erzehlende Personen an, die du vor dir hast.
 
 
5) Erzehlet derjenige, der bisher nicht dein aufrichtiger Freund gewesen, die etwas schlimmes von andern Leuten; so traue nicht, und nimm dich in acht, daß du nicht etwas dazu sagest. Denn es will dich der andere hierdurch nur anreitzen, damit er dir Gelegenheit gebe, übel zu urtheilen, und dich bey andern in Miß-Credit setze.
 
 
6) Dafern die Umstände mit sich bringen, daß du das Lasterhafte von Leuten sagen must, wie denn die Fälle im menschlichen Leben vorkommen, da einer Gewissens- und Amtshalber dazu verbunden; so rede nichts, als was du vollkommen gewiß beweisen kanst, und sich in der That so verhält.
 
 
7) Rede niemahls etwas böses von deinem guten Freunde gegen einen andern seiner guten Freunde. Denn er hat Raison zu dencken, das, wie du gegen einen andern bist, du gegen ihn auch so seyn werdest, und erweckest dir also hierdurch bey deinem guten Freunde einig Mißtrauen gegen dir.
 
 
8) Urtheile von keiner eintzigen Sache, deren alle und jede Umstände dir nicht aus dem Grunde sattsam bekannt sind. Denn du beschimpffest dich durch solches urtheilen bey Leuten die verständiger sind, als
 
  {Sp. 648}  
 
  du. Und wenn du ja urtheilest, weil wir gar zu gerne zu raisonniren pflegen, und sonst uns viel Materie in unsern Discoursen benommen würde; so setze allezeit solche Redensarten darzu, dadurch du erweisest, wie du dein Raisonnement eben nicht vor accurat und gantz vollkommen auszugeben gesonnen wärest.
 
 
9) Daher fälle niemahls dein Urtheil über die Conduite der Generals-Personen bey den Armeen, oder über das Vorhaben anderer Leute, warum sie dieses oder jenes gethan. Denn, wenn du des andern Umstände, Absichten und Raisons nicht weist, so urtheilest du insgemein von anderer Leuten Verrichtungen unrichtig. Es wird dir bisweilen düncken, der andere habe thörlich gehandelt, da er doch wohl die gröste Raison gehabt, solches zu thun.
 
 
10) Urtheilest du ja von Staats-Sachen, so raisonnire lieber nach deinem eigenen Begriffe, davon, sonderlich, wenn du in denen hierzu nöthigen Wissenschafften etwas gethan hast, als nach dem Urtheile der Monats-Schreiber und Staats-Journalisten. Denn wenn andere Leute dieses schon gelesen, scheinet es, als wenn du dir gar zu wenig zutrauetest, und von anderer Leute Urtheilen ein Sclave, auch selbst nicht geschickt wärest, über etwas zu raisonniren: Bist du aber hierzu incapable, so bleibe lieber mit deinen Urtheilen von Staats-Sachen gar zu Hause.
Rohrs Einleitung zu der Klugheit zu leben, p. 527. u.f.
     

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Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries