HIS-Data
Home | Suche
Zedler: Verdruß HIS-Data
5028-47-369-4
Titel: Verdruß
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 47 Sp. 369
Jahr: 1746
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 47 S. 198
Vorheriger Artikel: Verdruckte, (oder verbürste) Circul
Folgender Artikel: Verdruß … in denen Rechten
Siehe auch:
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen

  Text Quellenangaben
  Verdruß, es kan der Verdruß, welchen man im Lateinischen indignationem [1] nennet, auf eine doppelte Art genommen werden; einmahl in Ansehung des Verstandes, da er eine unangenehme Empfindung eines vergangenen oder gegenwärtigen, oder künfftigen Übels bedeutet; hernach in Ansehung des Willens, da derselbe wegen eines Übels unruhig und begierig ist, solches aus dem Wege geräumet zu haben.
[1] HIS-Data: vergl. Ungnade
  Das Übel kan entweder uns selbsten, oder die unsrigen, und denen wir wohl wollen, angehen; es ist entweder ein wahrhafftiges, oder ein eingebildetes, woraus leicht zu schliessen, wie Traurigkeit, Zorn und Neid mit dem Verdruß verwand ist. Thomasius in der Ausübung der Sitten-Lehre … sagt: Es pflegt die Indignation dann und wann von der Verdrießlichkeit über das Böse, daß unsern Freunden von andern wiederfahren; oder von der Verdrießlichkeit über das Gute, daß unverdiente Leute besitzen, da hingegen wohlverdiente dessen mangeln, genommen zu werden. Die erste Art sey Geschwister-Kind mit dem Zorn; die andere aber mit dem Neid.  
  Nach der Meynung der neuern Welt-Weisen, entstehet aus der Empfindung der Unvollkommenheit, die man nach klaren Begriffen auch etwas heßliches, etwas schlechtes und ungereimtes nennet, ein Mißfallen, welches auch wohl der Verdruß heisset. Nach diesen Philosophen ist der Verdruß nicht unter die Affecten zu rechnen. Diese lassen sich in zwo Haupt-Gattungen eintheilen, in angenehme und verdrießliche. Die angenehmen sind allezeit mit einer sinnlichen Lust verbunden, die verdrießlichen aber mit einem sinnlichem Abscheu. Lust und Verdruß sind also eigentlich keine Affecten, sondern allgemeine Begriffe, darunter die übrigen Gemüths-Bewegungen stehen: weil in jedem Affecte entweder eins oder das andere von diesen beyden nur allezeit auf eine andere Art angetroffen wird.  
  Herr Bayle hat in seinem Wörter-Buche unter dem Artickel: Xenophanes, sehr vieles von dem  
  {Sp. 370}  
  Verdrusse beygebracht, den die Menschen in ihrem Leben empfinden müsten. Er stellet Anfangs eine Vergleichung der Gesundheit und Kranckheit, der Lust und des Verdrusses, die aus jenen erfolgen, mit den dünnen und dichten Cörpern an, welches aus der Scholasticker Lehre genommen war, welche sagten: Die dünnen Cörper enthielten wenig Materie in einer grossen Ausdehnung, und die dichten Cörper fasseten viel Materie in sich unter weniger Ausdehnung.  
  Dieses sagt er ist das Bild der Kranckheit und Gesundheit, jene gleicht den dichten, diese den dünnen Cörpern. Die erstere erstreckt sich über wenig Tage, und nichts destoweniger schliesset sie viel Böses in sich, die letztere erstreckt sich über viel Jahre hintereinander, und nichts destoweniger enthält sie nur wenig Gutes. Die allerstärckste Gesundheit, kan sich nicht vor Verdruß verwahren.  
  Nun ist der Verdruß eine Sache, welche uns durch tausend Canäle zufliesset, und von der Natur der dichten Cörper ist; er enthält viel Materie in einem kleinem Raume, das Übel ist darinne überhäufft, gedrungen. Eine Stunde Verdruß enthält mehr Böses, als sechs oder sieben gemächliche Tage Gutes enthalten. Er fährt hierauf fort:  
  "Man redete neulich von einem Menschen mit mir, der sich nach einem drey oder vier wöchentlichem Verdrusse entleibet hatte. Er hatte jede Nacht seinen Degen unter sein Haupt-Küssen gelegt, in der Hoffnung, daß er das Hertz haben würde sich zu tödten, wenn die Finsterniß seine Traurigkeit vermehren würde; allein es hat ihm etliche Nächte an Muthe gemangelt. Endlich hat er seinem Verdrusse nicht mehr widerstehen können, und sich die Adern am Arme aufgeschnitten. Also sind alle Wollüste, welche dieser Mensch dreyßig Jahre über genossen, den Übeln nicht zu vergleichen, welche ihn den letzten Monat seines Lebens gemartert haben, wenn man sie auf einer richtigen Wage wägen solte. Die Übel sind gemeiniglich viel reiner, als die Güter; die lebhaffte Empfindung des Vergnügens dauert nicht, sie nimmt plötzlich ab, und es folgt Eckel und Verdruß darauf.  
  Boethius de Consolat. Philosoph. … schreibt: Daß wenn die Unruhe vor dem Genusse der Wollüste hergehet, der Verdruß und Reue demselben auf dem Fusse folge. Unzählige Schrifftsteller beobachten diese unglückliche Begleitung, oder verständlicher zu reden, diese Verbindung der Wollust und Unruhe. Wir wollen noch diesen Umstand bemercken; man fürchtet nicht allein dasjenige zu verlieren, was man besitzet, sondern man hat auch den Verdruß zu sehen, daß uns andere Leute gleich sind, oder noch den Vorsprung vor uns gewinnen.  
  Man siehet aus dieser Abhandlung, daß Bayle die Unbilligkeit und Undankbarkeit gegen seinen Schöpffer sehr hoch treibe. Er ist so unerkenntlich, daß er ein vieljähriges Vergnügen für nichts rechnen will, dafern ihm irgend eine böse Viertelstunde begegnet; so daß er Gesundheit, Leben und Wohlfarth, ja Ehre und Vergnügen, die ihm seit einem halben Jahrhundert gesättiget haben, aus der Acht lassen, und mit seinem Schöpffer, der ihm doch nichts schuldig war, um einer närrischen Furcht halber, die er sich thörichter Weise selbst macht, sein Gutes zu verlieren, zancken kan, ja ihm alle vorige  
  {Sp. 371|S. 199}  
  Glückseligkeit, nicht einmahl Danck weiß. So groß ist bey manchen Menschen der Verdruß über die kleinsten Übel.  
  Doch wir wollen uns hierbey nicht aufhalten, und noch untersuchen, was durch den Verdruß des Lebens, Hiob X, 1.
  meine Seele verdreußt mein Leben, zu verstehen sey.  
  Hier muß man einen genauen Unterschied machen, unter dem Verdruß des Lebens, welcher aus Unwillen, Ungedult, und sündlichen Wesen herrühret; und unter dem Verdrusse des Lebens, den die seelige Erkenntniß, und der Vorschmack der zukünfftigen ewigen Herrlichkeit in dem Hertzen gewürcket.  
  Wenn ein Christ seines Lebens deswegen überdrüßig wird, weil er in demselben viel ausstehen muß, und es ihm nicht nach Wunsch gehet, so versündiget er sich allerdings an GOtt. Denn er will dasjenige nicht mehr mit Gedult ertragen, was er ihm als ein Vater auflegt, und die ewige Weißheit zugedacht hat. Weil nun Hiob selbst Cap. IV. schreibt: Siehe unter seinen Knechten ist keiner ohne Tadel etc. so würden wie ihm nicht Unrecht thun, wenn wir sagten, das sich auch an ihm in diesem Stücke eine Thorheit und Schwachheit gefunden. Er ist aber deswegen nicht so sehr zu tadeln, in dem die unsägliche Grösse des Jammers einen schwachen Menschen gar leicht auf dergleichen Gedancken bringen kan. Wer sich also mit dem Exempel Hiobs entschuldigen wolte, der hätte eher in seiner Ungedult Ursache, GOtt um heilige Regierung und um gedultige Erhaltung, bey so vielen Trübsalen des gegenwärtigen Lebens zu bitten.  
  Wenn aber die geschmeckte Süßigkeit der zukünfftigen und ewigen Güter ein hertzliches Verlangen nach völliger Geniessung derselben in seiner Seele erweckt hat, kan er wohl dencken: Ich bin des eitlen und mühseeligen Lebens gantz überdrüßig und habe mit Paulo Lust abzuscheiden und bey Christo zu seyn, Phil. I.
  Dieses ist ein seeliger und heiliger Verdruß des so mühsamen und elenden Lebens. Doch wird dadurch dem H. GOtt nichts vorgeschrieben, sondern, wenn es ihm gefällt, einen in der Eitelkeit viele Jahre zu lassen, so unterwirfft man sich desselben Willen, weil man wissen muß, daß GOtt auch hiermit ein heiliges Absehen habe. Denn je länger man in der Welt lebt, je länger und besser lernt man derselben Art und Unruhe, die sich darinne äusert, erkennen.
  • Baylens Historisches und critisches Wörter-Buch, IV Th. ...
  • Gottscheds Gründe der Weltweißheit, Theoret. Th. ...
     

HIS-Data 5028-47-369-4: Zedler: Verdruß HIS-Data Home
Stand: 28. März 2013 © Hans-Walter Pries