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Zedler: Klugheit HIS-Data
5028-15-981-1
Titel: Klugheit
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 15 Sp. 981
Jahr: 1737
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 15 S. 506
Vorheriger Artikel: Klugheim
Folgender Artikel: Klughof
Siehe auch:
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Bibel

Stichwort Text   Quellenangaben
  Klugheit.  
  Es sind zwar die Gelehrten jederzeit bemühet gewesen, denjenigen Theil der menschlichen Erkänntniß, welchen wir die Klugheit zu nennen pflegen, in sein gehöriges Licht zu setzen. Man hat sich so wohl bemühet, denen Handlungen, welche alle Menschen mit einander gemein haben, die gehörigen Regeln zu setzen; als man besorget gewesen ist, von verschiedenen Umständen, in welche wir zu geraten pflegen, verschiedene Arten der Klugheit zu erklären.  
  Bey diesen Umständen solte man meynen, daß man es nunmehro würde feste gesetzt haben, was man durch das Wort der Klugheit verstünde; gleichwohl lehret uns die genaue Betrachtung desselbigen, daß die damit verknüpften Begrieffe annoch schwanckend und ungewiß seyn, und daß die unbestimmte Weite desselben den einen dieses den andern etwas anders sich wieder vorzustellen veranlasset. Dem Pöbel, welcher nie gewohnt ist, seine Begrieffe richtig aus einander zu setzen, sondern die unvollkommene Erkänntniß einer Sach ihren deutlichen Begrieffen vorzuzühen pflegt, ist zwar der zweifelhaffte Gebrauch dieses Wortes nicht so sehr zu verdencken gewesen: Daß aber die Gelehrten, welche nie Mahls ein Wort, ohne dabey richtig zu dencken, vorbringen sollen, der Armuth unserer Mutter-Sprache hiebey nicht zu Hülfe kommen, und lieber eine zwiefache Zusammenfassung unsrer Gedancken mit einem eintzigen Worte benennen, als nach dem ihnen in solchen Fällen zustehenden Rechte einen neuen Ton, wodurch sie die Unterschiede ihrer Gedancken bezeichnen, erfinden wollen; solches verdienet vielleicht eine mehrere Ahndung.  
  Man nimmt ein Mahl das Wort Klugheit in einem so weitläuftigen Verstande, daß man alles dasjenige, was zu der Ausführung unserer besondern Endzwecke, welche wir uns vorstellen, in so fern dieselbigen in denen menschlichen Kräfften stehen, damit zu verknüpfen pflegt. Dieser weitläuftige Begrieff veranlast diejenigen, welche hiervon handeln wollen, ihren Vortrag so einzurichten, daß sie zu der wahren Beschaffenheit eines klugen Mannes eine besondere Fähigkeit des Witzes, um viele Mittel erfinden zu können, einen wohl eingerichteten Willen, die rechten Endzwecke zu erwählen, eine Erkänntniß vieler Sachen, um eine richtige Beurtheilung anstellen zu können, und einen unermüdeten Fleiß und Eifer, um in der würcklichen Anwendung derer Mittel nicht saumselig zu seyn, zu erfordern pflegen.  
  In unserer Mutter-Sprache finden wir kein Wort, mit welchen sonst diese Gedancken verbunden werden. Wäre bey den alten und guten Lateinischen Schrifft-Stellern das Wort Practicus mehr im Gebrauche gewesen, und käme das Teutsche Wort Ausüber unseren Ohren nicht also un-  
  {Sp. 982}  
  gewohnt vor; so mögten wir vielleicht so glücklich seyn, diese weite Zusammenfassung derer Gedancken mit einem Worte bezeichnen zu können. Die besondere Bedeutung der Klugheit begreiffet nicht mehr in sich als die Beschaffenheit unsers Verstandes, nach welchen wir unter verschiedenen Mitteln, die sich uns darstellen, das Beste, oder dasjenige, welches nach der Beschaffenheit unsrer Umstände, worinne wir uns befinden, den vorgesetzten Endzweck zu befördern fähig ist, zu beurtheilen vermögend sind.  
  Man siehet wohl, daß dieser enger Begrieff sehr vieles hinweg läst, welches sonst zu der Klugheit gerechnet wird: Wir verlangen aber dadurch so viel, daß wir unsern klugen Mann, in wie ferne er klug ist, von einem erfahrnen und gelehrten, ingleichen von einem gerechten auf das genaueste zu unterscheiden wissen. Wir werden bey unserer Abhandlung unsern Vortrag so einrichten, daß wir erstlich diejenigen Stücke, welche zu dem weitläuftigen Begrieffe gehören, betrachten, und hernach Mahls die besondere Eigenschafft der Klugheit in dem eigentlichen Verstande vorstellen werden.  
  Die menschliche Seele ist sich nicht eher ihres Zustandes immer auf einerley Art und Weise bewust, oder sie wird, wie man sonst zu reden pflegt, nicht eher ruhig, als bis sie sich in den Zustande findet, wo sie nichts als lauter Annehmlichkeit empfindet. Diese Empfindung ist der Trieb aller ihrer Handlungen oder aller ihrer Würckungen, welche aus derselbigen hervorkommen. Weil aber dieser ihr letzter Endzweck in einer Empfindung bestehet, und die Empfindung die Beschaffenheit einer Sache ist, wornach sie von einem andern Dinge berühret wird; so setzt dieselbe alle Mahl ein ander Ding zum voraus. Denn sonst könnte ja diese Berührung nicht bestehen, in dem aus Nichts nichts werden kan.  
  Wenn wir nun diejenigen Dinge betrachten, die uns in eine Annehmlichkeit versetzen, so befinden wir, daß dieselbige ihrem ersten Ursprunge nach ihr Seyn nicht von der Seel empfangen, sondern es bestehen dieselbige vor sich, und unser Geist kan hierbey nichts thun, als daß er sich dieselben gegenwärtig mache, und mit ihnen vereinige. Nun kan zwar die Einrichtung unsers Gemüthes bey vielen Dingen so beschaffen seyn, daß wir nicht dürffen auf die Hervorbringung derselben unsre Kräffte wenden, sondern unsre Seele darff dasselbe, was ihr vorkommt, nur annehmen, so kann sie, weil das annehmliche mit der Natur verknüpft ist, zu frieden und ruhig werden.  
  Wäre auch unsre Seele nicht mit dem Leibe vereiniget, und müsten wir nicht die Güter in die Güter des Leibes und der Seelen eintheilen; so würden wir nie Mahls nöthig haben an die Hervorbringung unterschiedener Dinge zu gedencken, sondern wir würden an und vor sich selbst, wenn wir nur wollten, den letzten Endzweck erreichen. Selbst mit denen allerwidrigsten Zufällen unsers Lebens ist etwas annehmliches verbunden, und da hierdurch unser Gemüthe seine Sehnsucht stillen kan, wie würde solches nicht bey denen Dingen geschehen  
  {Sp. 983|S. 507}  
  können, bey welchen sich nicht ein Mahl diese Widrigkeit findet. Allein wir haben einen Leib, und hiernächst ist unsere Seel noch nicht angewöhnt, unter so vielen Eigenschafften, welche sich bey denen Dingen finden, die besondere Eigenschafft herauszulesen, und sich eigen zu machen, wodurch sie auf eine angenehme Weise könnte berühret werden.  
  Nächst diesen sind die willkührlichen Ursachen, welche gleich Falls Sachen, die uns belustigen können, herfürbringen sollen, so sehr von ihrer Natur abgewichen, daß es nunmehr unsrer Seelen unmöglich ist, alle Mahl die Mittel ihrer Beruhigung gegenwärtig vor sich zu finden. Aus diesen Gründen bestehet nunmehro die Nothwendigkeit, daß unsre Seele auf die Hervorbringung der Gegenwart derer Dinge bedacht seyn muß. Doch wollen wir diese an und vor sich selbst etwas schwerere Lehre durch einige Exempel zu erläutern suchen.  
  Es ist zum Exempel in Ansehung unsers Leibes nicht möglich, unsern Hunger zu stillen, wenn wir nicht vor die Herbeyschaffung und Zubereitung dererjenigen Mittel, welche wir Speise zu nennen pflegen, bedacht seyn. Man mögte vielleicht dencken, es hätte die Eitelkeit in diesem Stücke einen grossen Einfluß in dergleichen Handlungen: So wollen wir zwar nicht in Abrede seyn, daß dieselben zu Hervorbringung vieler Stücke, die hierinne noch nicht sind, veranlast werde. Dennoch aber ist es ein Mahl nicht eine pur lautere Eitelkeit, wenn wir unsern Leib auf eine weit geschicktere und angenehme Art ernähren, als es von solchen Menschen zu geschehen pflegt, welche mehr denen übrigen Thieren als denen Menschen in ihren Sitten zu folgen gewohnt sind. Der unschädliche Gebrauch dieser Stücke ist keines Wegs nicht unrecht, ungeachtet wegen der verderbten Neigung der Menschen, der Mißbrauch dabey sehr nahe ist. Hiernächst so kann zwar vieles aus der Eitelkeit anfänglich seinen Ursprung genommen haben, welches aber hernach Mahls durch das allzu sehr eingerissene Verderben in eine Nothwendigkeit ist verwandelt worden.  
  Der erste Mensch hat freylich nach der Ordnung GOttes gar kein Fleisch, geschweige dann Gesottenes noch Gebratenes gegessen. 1. B. Mos. 1, 29.
  Da aber die Bosheit derer Menschen Kinder mit der Sündfluth ist gestrafft worden, so sind hernach Mahls dem Noah die lebendigen unvernünfftigen Thiere nach göttlicher Ordnung zu seiner Speise übergeben worden. 1. B. Mos. 19, 3.
  Hierbey haben die Menschen vermuthlich gefunden, daß das rohe Fleisch nicht leichte könne verdauet werden, also haben sie durch die Verminderung der rohen Säffte, welche durch das Feuer ausgetrocknet und gesäubert werden, eine Sache hervorgebracht, und gegenwärtig dargestellet, welche vorhin noch nicht gewesen war.  
  Endlich so sind auch selbst diejenigen Dinge, welche ferner keine Vorbereitung brauchen, dennoch nicht dem Leibe so gleich gegenwärtig. Denn wenn wir gleich nichts anders als Wasser träncken, so wäre es doch uns unmöglich beständig mit dem Munde bey den Wasser-Bächen zu lie-  
  {Sp. 984}  
  gen, ja wenn auch dieses wäre, so würde doch unsre Seel mit dem Munde eine Bewegung vornehmen müssen, daß das Wasser in unsern Magen käme. Die Nothwendigkeit des Leibes erfordert also, daß die Seele in Ansehung derer Indiuidorum etwas unternehmen muß, wenn sie zu dem Genusse der Annehmlichkeit, denn unter dieser verstehen wir auch die nothwendigen Güter, gelangen will.  
  Unsre Seele ist ferner verderbt, und da sie sich ein Mahl aus ihrer Ordnung hinausbegeben, so muß sie anietzo durch die lebhaffte und deutliche Vorstellung des zuhoffenden Guten ihre Kräffte gleichsam zwingen, damit sie geschickt werden möge, das angenehme, welches in den Dingen liegt, zu empfinden. Im Stande der Unschuld wären unsre Gedancken ohne die Vernunfft-Lehre ordentlich gewesen, ietzo muß erst ein langer und wohl eingeschärffter Unterricht vorhergehen, ehe wir die Wahrheit zu finden vermögend sind.  
  Unsre Seele muß also auch in Ansehung ihrer Kräffte etwas hervorbringen, und dasselbe gegenwärtig machen, welches sie noch nicht hat. Und die Menschen oder willkührlichen Ursachen, welche wir in der Welt nach der Vernunfft erkennen, können gleich Falls durch ihre Würckung die Annehmlichkeit unsers Gemüthes befördern. Wären dieselben in der ihnen von dem Schöpfer vorgeschriebenen Ordnung verblieben, so würden wir ieder Zeit in dem Umgange, mit andern eine wahre Lust antreffen. Leider! aber ist diese sehr offte nicht mehr zu finden; und wir sehen uns daher genöthiget; andere erst durch viele Umwege dahin zu bringen, damit uns die Gegenwürffe, bey welchen wir eine wahrhaffte Annehmlichkeit finden können gegenwärtig gemacht werden.  
  Die Seele hat also auch hier mit Hervorbringung derer Dinge, welche sie nähren sollen, zu thun. Stellen wir nun über diesen Theil unsrer Beschäfftigungen eine Betrachtung an, so finden wir, daß dieselbe auf zweyerley Art und Weise eingerichtet ist.  
Kunst Erstlich finden wir gewisse Regeln, nach welcher wir unsre Kräfften bey Einrichtung und Hervorbringung derer Dinge abzumessen pflegen. Eine Lehre, die uns solches vorträgt, pflegen wir eine Kunst zu nennen. Doch ist hierbey wiederum eine Verwirrung derer Wörter zu mercken. Wir nennen nehmlich das eigentlich eine Kunst, wenn wir mit leblosen oder nothwendig-würckenden Wesen und ihrer Abrichtung zu thun haben. Wenn wir aber die Kräffte andrer Menschen als Ursachen unsrer Glückseligkeit betrachten, so heist es bald eine Kunst, bald eine Klugheit, und dahero heissen wir die glückliche Erhaltung unsrer Umstände in Ansehung des gemeinen Wesens bald die Staats-Kunst bald die Staats-Klugheit. Hernach aber bemercken wir, wie ein jedweder seine Absichten ins besondere zu erreichen bemüht leben soll, und diese Wissenschafft wird, in so ferne wir gemeine Regeln davon geben, und sie nicht auf ein eigenes Object einschräncken, die Praxis, oder die Klugheit im weitläufftigen Verstande genennet.  
  Soll uns die Klugheit dazu ver-  
  {Sp. nicht gezählt|S. 508}  
  helffen, daß diejenigen Objecta, welche unsre Annehmlichkeit hervorbringen, uns gegenwärtig gemacht werden, so ist wohl zu mercken, daß bey denen uns hier vorkommenden Ursachen sich eine lange Reihe und gleichsam eine Kette derselben befinde. Wir müssen nothwendig, wenn wir zu dem einen gelangen wollen, das andere erwählen, und wer zu seiner wahren Ruhe kommen will, muß nie Mahls in Ansehung seiner aus denen Schrancken derer wahren Pflichten gegen sich selbst ausweichen. Wir müssen wohl erwägen, ob ein Gut auch in seiner Daurung beständig sey, und dahero die Schein-Güter nicht vor die wahren ergreiffen. Hierbey müssen wir dem höchsten Wesen die gehörige Ehrerbietung und dem schuldigen Gehorsam leisten, und mit andern müssen wir so wohl gesellig als in einer wahren Freundschafft leben.  
  Dieses zusammen genommen wird die Gerechtigkeit genennet; und weil wir ohne dieselbe bey sehr viel von uns hervorgebrachten Dingen dennoch nicht unsre Ruhe erreichen werden: So ist es eine gemeine Regel, daß ein kluger Mann zugleich ein gerechter Mann seyn müsse. Man könnte zwar denselben klug in besonderm Verstande nennen; denn da dieselbe in der Wahl der besten Mittel bestehet, so liesse ein solcher dasjenige aus, wodurch er zu seinen Endzwecke am besten zu kommen vermag. Weil er aber durch die Erreichung seiner besondern Absicht nie Mahls zu dem Genuß des letzten Endzwecks kömmt, in dem er ein falsches Zwischen-Mittel ergrieffen, so wird solches keine Klugheit sondern eine Arglist genennet; in dem die Klugheit den würcklichen Gebrauch nach dieser Wort-Beschreibung zum voraus setzt.  
  Sind nun von uns die Endzwecke richtig erwählet worden, so macht doch unser blosses Dencken oder die Vorstellung desselben noch nicht, daß sie uns gegenwärtig seyn, wir müssen sie dahero hervorzubringen suchen, welches denn wiederum seinen Grund nicht von unsrer Willkühr, sondern der Beschaffenheit derer Kräffte der Natur erhält. Mit Feuer werden wir nimmermehr unsern Durst löschen können, und von einer geitzigen Person dürffen wir nicht ohne Vorstellung eines wichtigen Verdienstes einige Liebes-Dienste hoffen.  
  Bey dieser Beschaffenheit ist es nöthig, die Natur mit ihren Kräfften und Würckungen erkennen zu lernen. Eine solche Erkänntniß geschiehet entweder unmittelbar durch die Sinne, oder wir müssen durch die Würckung unsers Verstandes uns von der ersten sinnlichen Erkänntniß entfernen, damit wir die Deutlichkeit der eigentlichen Beschaffenheit vieler Dinge erkennen mögen. Das erste wird die Erfahrung, das andere von einigen in besonderem Verstande die Weisheit genennet. Keines von beyden, da wir überall die Mittel unserer Glückseligkeit antreffen, ist aus den Augen zu setzen, und ein kluger Mann muß daher so wohl ein erfahrner als ein weiser Mann seyn. Die Erfahrung zeiget uns das Wesen derer Dinge in denen verschiedenen Arten ihrer Würcklichkeit, und wir befinden hierbey die besondere Umstände, in welcher sie uns die sonst  
  {Sp. 985}  
  abgezogenen Begriffe vorstellen. Ein jeder Umstand kan die Sache verändern, und wer dahero in der Erfahrung nicht geübet ist, der läst aus Unaufmercksamkeit die besondern Umstände hinweg, welche doch bey der Anwendung einer würcklichen Sache einen so grossen Ausschlag geben kan. Derjenige hingegen bey welchen durch die Erfahrung die höhere Wissenschafft lebendig wird, gewohnt sich zugleich an, nie Mahls etwas zu unternehmen, wo er nicht alle und jede besondre Umstände, die nur hierbey vorkommen können, in Betrachtung gezogen hat. Diese Fertigkeit, auf alle vorkommende Kleinigkeiten seine Aufmercksamkeit zu richten, ist die edle Frucht, welche einen erfahrnen Mann in seinen Unternehmungen glücklich zu machen fähig ist.  
  Es ist aber nicht nur alleine nöthig, daß wir die besondern Umstände eines jeden Dinges bemercken, sondern wir müssen auch wohl wissen, von welchem Umstande denn eigentlich diejenige Würckung abhänge, welche wir suchen. Deswegen ist es nöthig, nach der Weisheit die Dinge nach ihren verschiedenen Eigenschafften wohl zu erkennen, damit wir bey vielfältig vorkommenden Zufällen sehen können, ob die Neben-Umstände uns an dem Gebrauche einer Sache verändern könnten oder nicht; und in wie ferne wir dieselben zu betrachten oder hinwegzulassen haben.  
  Auf die Gleichheit der ähnlichen Fälle zu warten würde theils unmöglich seyn, in dem sich dieselbigen sehr wenig ereignen, und wir uns offt Mahls eine vollkommene Ähnlichkeit einbilden, wo keine zu finden ist; theils würden wir auch hiebey immer ungewiß bleiben, von welcher Eigenschafft des Dinges denn sonderlich der glückliche Erfolg unsrer Unternehmung abhänge. Wir würden also zwar sehr vieles wagen, aber nie Mahls ohne Furcht seyn können, in dem uns die Nothwendigkeit des glücklichen Erfolgs mit der Sache immer unbekannt bleibt.  
  Hieraus erhellet gantz deutlich, daß die Weisheit mit der Erfahrung müsse verknüpfet werden. Die erstere erlernen wir aus denen Wissenschafften, welche uns zum voraus unterrichten, worauf wir bey würcklich vorkommenden Zufällen unsere Aufmercksamkeit zu richten haben.  
  Bey der Efahrung können wir uns der Beyhülffe anderer bedienen: Wir lesen die Geschichte, welche uns von andern sind aufgezeichnet worden, doch weil diese sich haben betrügen können, so nehmen wir nicht ihre Erzehlungen alle sogleich an, sondern pflegen dieselben erstlich nach der historischen Wahrscheinlichkeit zu untersuchen. Wo wir nur können, suchen wir unsre eigne Erfahrung zu vermehren, in dem dieselbe weit gewisser als wie die fremde ist. Dieses ist auch denn der Endzweck warum wir unsern Sitz und Ort zu verändern pflegen, um durch die Besuchung fremder Länder die Vielfältigkeit derer Menschen und ihrer Anstalten erkennen zu lernen. Die Erfahrung hilfft uns nichts, wenn wir nicht aufmercksam seyn, und die Vorstellung so vieler Dinge ist vergebens, wenn wir nicht einen vollkommenen Begriff von denenselben zu erhalten fähig sind: Die Regeln der Weisheit werden  
  {Sp. 986|S. 509}  
  auch ohne Nutzen dem Gemüthe eingepräget, wenn wir nicht bey Unternehmung einer Sache an dieselben gedencken wollen. Beydes aber geschiehet sehr leichte, wenn wir unsere Neigung nicht im Zaum zu halten wissen, und unsre ungebärdigte Hitze alles ohne vorher reiff angestellte Überlegung ergreifft.  
  Es erfordert also die Klugheit gemäsigte Begierden und ein ruhiges Gemüthe, welches sonst von einigen das Sang froid genennet wird. Es ist viel Mahls zu späte, alsdenn erst an die Betrachtung derer Mittel, in so fern sie etwas wircken können, zu gedencken, wenn der Zufall, der uns betrifft, allbereit gegenwärtig ist. Es müssen dieselben unsern Gemüthe schon vorhero bekannt seyn, und gleichsam nur die Zeit erwarten, bis wir sie gebrauchen wollen. Nunmehro ist die Zeit des Gebrauchs vor Hand, es will uns aber nichts einfallen, und also ist die Mühe vergebens, welche wir vorhero angewendet haben, viele Dinge zu erkennen.  
  Die Umstände, wodurch wir glücklich oder unglücklich werden können, verändern sich auch so leichte, daß wir nicht erst Zeit haben, die Register unsrer eingetragenen Wissenschafften aufzuschlagen, oder mit guter Muse die gute Stunde zu erwarten, daß uns etwas, das zu der Sache gehöret, in das Gedächtniß kommen möge. Es ist deswegen nöthig, daß ein kluger Mann einen lebhafften Kopf besitze, welcher ihm vermittelst der Einbildungs-Krafft in gehöriger Geschwindigkeit bey erforderten Umständen unterschiedene Gedancken vorzustellen vermögend ist. Doch da es nicht alleine gnug ist, viele Gedancken zu haben sondern wir auch die Einfälle dazu gebrauchen, daß wir durch die Mittel zu unserm Endzwecke gelangen, und auf diese Weise ein Zusammenhang der Gedancken seyn muß; der erste Zusammenhang aber oder die Ähnlichkeit der Gedancken vermittelst des Witzes gefunden wird: So muß also bey der Einbildungs-Krafft zugleich ein lebendiger Witz vor Handen seyn, oder, wie es andere ausdrücken, ein kluger Mann muß ein munteres und fähiges Ingenium besietzen.  
  Haben wir solches von der Natur erhalten, so sehen wir uns um so viel desto mehr zu der Ausführung vieler Endzwecke verbunden; verspüren wir aber hierinne eine Schwäche, so müssen wir versuchen, ob wir nicht durch eine fleißige Übung die Kräffte, welche gleichsam annoch unausgearbeitet gelegen, in die gehörige Stärcke zu setzen, im Stande sind. Die Lesung lustiger und aufgeweckter Bücher kan uns gleichfalls hierbey behülfflich seyn. Will aber dieses alles nichts helffen, so ist es besser, sich von vielen Unternehmungen zurücke zu ziehen und andern die Ausführung grosser Geschäffte zu überlassen.  
  Haben wir nunmehro vermittelst des Witzes die Mittel erfunden, so ist es nicht genug dieselbe so blindlings anzuwenden, sondern wir müssen so wohl nach der allgemeinen Betrachtung von denen Mitteln und Endzwecken, als wovon uns die Klugheit ins besondre Regeln geben wird, als auch nach der Beschaffenheit einer jeden Sache ins besondre, die wir so wohl aus der Erfahrung als Gelehrsamkeit bekannt haben, die gehörige  
  {Sp. nicht gezählt}  
  Beurtheilung anstellen; in dem nicht von dem ersten Zusammenhange derer möglichen Mittel mit dem Endzwecke, sondern von der genauen und wahren Ubereinstimmung dererselben ein glücklicher Ausgang seinen Grund empfängt.  
  So viel hat nun der Verstand des Menschen dabey zu thun, wenn er in seinen Unternehmen glücklich seyn will. Doch ist es mit einer solchen Uberlegung alleine noch nicht ausgemacht, sondern es muß derselben die darnach eingerichtete That folgen. Wir müssen bey der würcklichen Anwendung derer Mittel nicht träger und saumseliger werden, sondern mit unsern Verstande immer dabey scharffsinnig und vorsichtig, mit unsern Willen ruhig und gedultig, und mit der Anwendung unsrer andern Kräffte fleißig und beständig seyn. Hat man sich in eine solche Gemüths-Beschaffenheit bey seinem Unternehmen gesetzt, daß man alle diese oberzehlte Stücke nach einer langen Übung gantz leichte, und ohne sich lange dabey aufzuhalten zu beobachten pfleget, so wird solches eine Fertigkeit genennet, und man hat nunmehro die Klugheit erlanget, welche in der Fertigkeit, seine besondere Endzwecke glücklich hinauszuführen, bestehet.  
  Die Klugheit insbesondere, welche uns die besten Mittel zu erwehlen anweiset, ist eine Fertigkeit des Verstandes, welche uns aus vielen Mitteln, die bey unserm Endzwecke möglich sind, das Beste zu erwählen, anleitet, Ein Mittel ist nichts anders als eine Ursache, deren Würckung wir uns mit unserm Gemüthe vorstellen, und dadurch etwas zu unternehmen veranlast sind; und eben diese vorgestellte Wirckung wird von uns ein Endzweck genennet.  
  Wir stellen uns die Dinge erstlich eintzeln vor, ohne sie zu betrachten, wie sie von einer andern Sache gewürckt werden. Weil aber wir von unsrer Vorstellung dieselben nicht allein erwerben; so ist es nöthig, diejenigen Gründe, woraus dergleichen Vorstellung ihre Würcklichkeit erlanget, im Betrachtung zu ziehen, und das heissen wir Mittel zu seinem Endzwecke erfinden.  
  Die Gedancken von denen Mitteln müssen sich also nach denen Gedancken richten, und deswegen wollen wir eine doppelte Betrachtung anstellen, erstlich was wir in Ansehung derer Endzwecke zu beobachten haben; zum andern, was bey Betrachtung derer Mittel vorkommen wird.  
  Bey denen Endzwecken setzen wir dieses allbereit zum voraus, daß dieselben so wohl der Gerechtigkeit als der Liebe gegen uns selber gemäß sind. Dieses haben wir auch allbereit oben bey der Klugheit über Haupt erinnert. Hier kömmt nur noch dieses vor, daß wir wohl müssen wissen, wie viel uns an einem solchen Endzwecke gelegen sey, damit wir nicht etwa, wenn die Mittel nicht in unsrer Gewalt sind, mehr Kräffte daran wenden als wir hernach Mahls Vortheil davon haben. Wir müssen deswegen den Endzweck auf das allergenaueste überlegen, und ehe wir hiervon noch keinen vollkommenen Begriff haben, sind wir nicht vermögend, desselben Verhältniß mit dem Endzwecke zu erkennen; im dem diese durch nichts anders als durch den Begriff des letztern kan feste gestellet werden. Haben wir  
  {Sp. nicht gezählt|S. 510}  
  aber nunmehro davon einen richtigen Begriff, so wird es uns sehr leichte fallen, diejenigen Objecta, worinne die Ursachen eine solche Würckung hervorzubringen liegen, zu erfinden.  
  Nur ist zum andern noch dieses bey denen Mitteln zu erwägen daß wir gar wohl beobachten, in wieferne dieselbe in unsrer Gewalt seyn oder nicht, damit wir nicht bey vergeblicher Hoffnung mehr verlieren als gewinnen. Hernach Mahls ist es auch jeder Zeit besser, mehrere Mittel in Bereitschafft zu haben, damit man, wenn ja das eine fehl schlagen sollte, sich nicht aller Hülffe gäntzlich entblöset siehet, wer so verfähret, der wird alle Mahl das beste und wichtigste Mittel treffen, und diejenige Fertigkeit besitzen, welche wir im besondern Verstande die Klugheit zu nennen pflegen.  
     

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Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries