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Quellenangaben |
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Naturell der Seelen, dadurch
verstehen wir die
Beschaffenheiten der natürlichen Fähigkeiten,
womit die
Seele eines
Menschen versehen, daß er
selbige willkührlich
verbessern kan. |
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Die Seele eines Menschen bestehet aus
Verstand und
Willen, und daher kan man solches in
das Naturell des Verstandes und des Willens
eintheilen. Der
Unterscheid solcher Naturellen ist
sattsam aus der
Erfahrung bekannt, den wir aus
den
unterschiedenen Bezeigungen der Menschen in
ihren
Reden, Discursen und
Verrichtungen
wahrnehmen können. |
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Will man sich die Mühe geben, und die
Ursachen dieses Unterscheids entdecken, so wird
man gar bald wahrnehmen, wie man darinnen
keine |
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{Sp. 1240} |
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gründliche und hinlängliche
Erkänntniß haben
könnte. Ist die Rede von der natürlichen
Gemüths-Disposition an sich, so
muß man auch nur einen
natürlichen
Grund suchen, und die
moralischen
Umstände in Ansehung der
Erziehung, des
Umgangs mit andern, des
Geschlechts, des
Standes u.s.w. als Ursachen und
Gelegenheiten
ansehen, dadurch ein Naturell könne verbessert
oder verschlimmert, und auf diese oder jene Art
modificiret werden, massen wir offt aus der
Erfahrung lernen, daß zwey
Kinder einerley
Auferziehung, einerley Umgang haben, von
gleichem Geschlechte und Stande sind, gleichwohl
aber
gantz unterschiedene Temperamenten der
Seelen von sich blicken lassen. |
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Diejenigen, die bisher ihr Nachsinnen auf
diesen Punct gerichtet, haben zum
Theil ungleiche
Meynungen, davon einige zwar
möglich, aber nicht
wahrscheinlich; etliche hingegen wahrscheinlich, zur
Erklärung aber aller bey diesen
Würckungen
vorkommenden Umstände nicht hinreichend
sind. |
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Zu der ersten
Classe gehören wieder zweyerley
Meynungen. Einige sind auf die
Gedancken
kommen, es thäte der Einfluß der Gestirne hiebey
das meiste, und nachdem jemand in dieser oder
jener Constellation
gebohren sey, so werde er auch
entweder ein
gutes
oder schlechtes Naturell bekommen haben. So
schreibt Manilius …
diejenigen, welche in dem
Zeichen der Jungfrauen
gebohren, bekämen ein treflich und zum
Künsten
geschicktes Naturell. |
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Barclajus in Argen. … erzehlet folgende
Historie: Es wäre in
Deutschland ein
gelehrter
Mann
gewesen, welcher aus thörichter
Einbildung, es läge
an der Constellation, daß ein Kind
klüger oder
dümmer wäre, als das andere, seiner
Frau niemahls
ehlich beygewohnet, er habe denn zuvor betrachtet,
was vor ein Planet
regiere; sey aber beym Ausgang
betrogen worden, indem seine Kinder Narren
gewesen. |
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Diese Meynung ist so offenbahr
falsch, daß sie
keiner Widerlegung bedarff, indem ihre Vertheidiger
nicht nur keinen tüchtigen Grund angeben können;
sondern auch die Erfahrung mit so häuffigen
Exempeln entgegen stehet, und noch über dieß
allerhand
ungereimte Folgerungen daher fliessen
müssen. |
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Von gleichem Werth ist die Meynung
derjenigen, die einen genium seculi statuiren,
welcher die Leute nach den unterschiedenen
Zeiten
bald zu diesen, bald zu jenen
Wissenschafften
antriebe, und sie dazu
geschickt mache, |
wie Barclajus in icone animor.
… und der verkappte Peter Firmianus in der
Schrifft: genius seculi, die zu Paris 1663. 12, heraus
kommen, davor gehalten. |
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So schreibt auch der ungenannter
Auctor des
Wercks: Germania milite destituta et litteratis sua
ceu mole laborans, daß der Herr Groschuff seiner
novae librorum rariorum collectioni … gantz
einverleibet, von dem Genio der Zeit: omnia secula
suum habere genium, und erläutert dieses mit
einigen Exempeln. |
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Verstehet man durch den Genium einen
gewissen
Geist, der nach dem Unterscheid der Zeit
die verschiedene Naturelle
würcken, so muß man
vorher dessen
Existentz
beweisen, ehe man ihn als
eine
Ursache anführen
will.
Unter den
Heydnischen
Philosophen |
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{Sp. 1241|S. 638} |
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waren die Pythagoräer und Platonici, welche
allerhand Classen der geistlichen
Substantzen
satzten, mit vergeblichen Gedancken von den
Geniis eingenommen, und wenn die neuern
sagen
solten, was der genius seculi sey, so würden sie
sich schlecht erklären können. |
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Es können wohl die Zeiten Anlaß zu grossen
Veränderungen in denen Wissenschafften und
Sitten derer Menschen geben, daher man auch
sagt, daß sich die Zeiten verändern, nemlich der
Zustand der Menschen, die in der Zeit
leben; es ist
aber dabey zu
erwegen, daß diese Veränderungen
nicht so wohl das Naturell selbst, als vielmehr
dessen
Verbesserung, oder Verderben angehen,
auch allhier die
Umstände nicht als eine
natürliche,
sondern
moralische Ursache müssen angesehen
werden. Denn die Zeit an sich thut nichts dabey,
sondern gewisse
Sachen, die sich sonderlich in
diesem oder jenem Periodo offenbaren, und eine
Connexion mit einer herzustellenden
Würckung
haben. Also geschahe unter andern mit den
Studien
der
alten Römer nach denen unterschiedenen
Zeiten eine grosse Veränderung, welches wir auch
sehen, wenn wir das alte Griechenland gegen das
jetzige, den vorigen Zustand Egyptens gegen den
heutigen, und die
Lebens-Art unserer Vorfahren,
gegen die unsrige halten. |
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Es sind aber nicht die Zeiten an sich selbst
schuld. Denn so lange die Römer in ihrer
Freyheit
lebten, hatten die
gelehrten
Wissenschafften ihr
erwünschtes
Glück, daß sie nach der damahligen
Beschaffenheit fast bis auf den höchsten Gipffel
gestiegen waren; so bald man aber die Freyheit
ihnen zu benehmen anfieng, bekam das gelehrte
Wesen der Römer nach und nach ein ander
Gesicht, woran
vornehmlich die veränderte
Regiments-Form und der Genie der
Regenten, die
sich in der Zeit zutrugen, schuld waren, |
wie
Walch dieses in seinen
Gedancken vom philosophischen Naturell … schon
angemercket. |
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In eben demselbigen … saget er seine
Gedancken mit folgenden
Worten: |
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„Mit bessern Grund kan man als Ursachen der
unterschiedenen Naturellen theils die
Beschaffenheit der Eltern, theils des Orts, wo
jemand gebohren worden, und der darinnen sich
befindenden Lufft anführen. |
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Der eine Umstand ist hier, daß die Kinder in
ihrem Naturell nach den Eltern gerathen, welches
sich sonderlich Huartus zu erweisen bemühet hat,
auch nicht zu leugnen, daß diese Meynung grosse
Wahrscheinlichkeit aus der Sache selbst und
Erfahrung vor sich hat. Denn setzt man zum voraus,
daß die Disposition des Leibes, sonderlich die
Structur des Gehirns und die Beschaffenheit des
Geblütes die genaueste Verknüpffung mit den
Kräfften der Seelen habe, und bey den
Streitigkeiten vom Ursprung der menschlichen
Seele die sicherste Meynung sey, es werde selbige
per traducem, durch eine Uberführung
fortgepflantzet, so lässet sich ziemlicher massen
begreiffen, wie nach unterschiedener
Beschaffenheit des Saamens der Eltern, des
Geblütes der Mutter, der Kräffte ihrer Seelen, die
Kinder bald diese, bald jener Leibes-Constitution,
dieses oder jenes Naturell des Gemüths
bekommen. |
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Es stimmet auch damit grösten |
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{Sp. 1242} |
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theils die Erfahrung überein, daß gescheute
und vernünfftige Eltern, der Vater so wohl als die
Mutter solche Kinder zeugen, welche ein herrlich
Naturell am Verstande haben. |
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Man wird zwar einwenden, es bezeuge auch
die Erfahrung, daß gescheute Eltern dumme Kinder
hätten; welcher Einwurff aber, wenn er genau
angesehen wird, vermittelst dreyer Umstände so zu
beantworten, daß die erstere Meynung dabey sicher
bleiben kan. |
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Einmahl muß man die gegenseitigen Exempel
derjenigen Kinder, die nicht nach der Eltern Art
gerathen seyn sollen, genauer betrachten, da man
finden wird, wie viel mahl die angewöhnte
Liederlichkeit solcher Kinder, die vernünfftige kluge
Eltern haben, mit einem schlechten Naturell
sonderlich in Ansehung des Verstandes vermischet
wird. Mancher vornehmer und berühmter Mann hat
einen liederlichen Sohn, der nichts studiret,
deswegen fehlts ihm an einem herrlichen Ingenio
nicht. |
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Es ist auch die Beschaffenheit der Zeit, da der
Beyschlaf geschiehet, und ob die Eltern nüchtern,
oder truncken gewesen, diesen oder jenen Affect
eben gehabt, ingleichen der Zustand der Mutter
währender Schwangerschaft nicht aus der acht zu
lassen, daß wenn sich hiebey ausserordentliche
Ursachen finden, auch ausserordentliche
Würckungen erfolgen. |
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Die callipaedia des Claude Quillets, eines
Frantzösischen Abts, ist ein bekanntes Werckgen,
welches anfangs unter Calvidii Laeti Nahmen
heraus kommen, auch 1709 zu Leipzig wieder
gedruckt worden. Der Auctor lehret unter andern,
wie die Eheleute müsten beschaffen seyn, wenn
schöne Kinder folgen solten, was vor Regeln bey
dem Beyschlaff in acht zu nehmen, wie man der
schwangern Frauen warten solte, u.s.w. es urtheilet
aber Adrian Bailler jugem. des Scav. … nicht
unbillig, Qvillet habe sich in diesem Stück erfahrner
erwiesen, als es einem Abt anstünde. Und gesetzt,
welches wir nicht in Abrede sind, man finde dumme
und einfältige Kinder geschickter und kluger Eltern,
da sich zur Zeit der Conception und der
Schwangerschaft alles in einem ordentlichen
Zustand befunden habe; so wird doch die andere
Erfahrung, darauf wir uns beruffen, vor der
gegenseitigen einen Vorzug haben, und also bey
der Wahrscheinlichkeit ihre Krafft behalten, weil auf
ihrer Seiten mehr Phänomena, und Proben der
Natur vorhanden. |
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Die Beschaffenheit des Orts, wo jemand
gebohren, auferzogen, oder doch eine lange Zeit
gelebet, und der darinnen sich befindenden Lufft
wird mehrentheils als eine Ursache der
unterschiedenen Naturellen und Genien der
Menschen angegeben.„ |
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Denn die verschiedene
Ingenia und
Gemüths-Arten pflegt man auch nach dem Unterscheid der
Nationen und
Völcker anzumercken, wie der
besondere
Artickel vom
Naturell der Völcker weiset. |
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„Wenn aber gleich, fähret Walch in dem
angezogenen Ort … fort, diese beyde angeführte
Ursachen, wahrhafftige Ursachen sind, so sind sie
doch, wenn man die Application auf besondere
Subjecta machen will, nicht hinlänglich, und bleiben
daher manche Umstände zurück, die wir nicht
auflösen können. Denn |
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{Sp. 1243|S. 639} |
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was wir von den Eltern und dem daher
dependirenden Naturell der Kinder angeführet, läßt
sich unter andern nicht auf den Fall deuten, wenn
Zwillinge gebohren werden, welche gantz
unterschiedene Naturelle haben, und wegen der
Lufft ist auch bekannt, wie die Jüden in alle Länder
zerstreuet, an gantz unterschiedenen Orten
gebohren, auferzogen werden, und ihre Lebens-Zeit
zubringen, gleichwohl aber dieses Volck sonderlich
an seinen Sitten was eigenes an sich hat, dadurch
sichs von andern mercklich unterscheidet,
weswegen wohl hier die Art der Auferziehung, die
aber eine moralische Ursache ist, vieles beyträgt.
Befinden sich welche, die in Deutschland gebohren
und auferzogen worden, eine ziemliche Zeit in
Franckreich, so können sie sich wenigstens an die
frantzösischen Sitten dergestalt gewöhnen, daß ein
unbekannter von ihnen wohl schwöhren solte, sie
wären gebohrne Frantzosen.„ |
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Ubrigens ist die Gleichheit des Naturells in
Regard der Seelen der Grund der Sympathie im
moralischen
Verstand, oder der besondern
natürlichen Zuneigung zweyer
Gemüther gegen
einander. Es ist der Natur so wohl als der
Erfahrung
gemäß, daß zwischen Menschen von gleichem
Naturell eine genauere
Übereinstimmung und
Zuneigung der Gemüther gegen einander sey, als
zwischen Leuten von
verschiedenen Naturell. Denn
diese Gleichheit des Naturells würcket
nothwendig
eine Gleichheit des Geschmacks in Sachen des
Verstandes und Willens, dergestalt, daß Leute von
gleichem Naturell, was den Verstand betrifft, in ihrer
Art zu
urtheile, die sie in Worten und
Thaten
spüren lassen, einander jederzeit
vollkommnen
Gnüge thun; in Ansehung des Willens aber
gleichfalls in ihren
Begierden dermassen
übereinstimmen, daß die Begierden des einen, und
die daraus fliessende
Sitten und Thaten bey dem
andern vollkommen Beyfall finden. |
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Hingegen ist die Ungleichheit des Naturells der
Grund der moralischen Antipathie, oder der
natürlichen Widrigkeit der Gemüther, daß was dem
einen wohlgefället und von ihm hoch geachtet wird,
dem andern mißfalle und verachtet werde; da denn
wegen der daher entstehenden Widrigkeit der Sitten
solche Leute gemeiniglich einander nicht wohl
leiden können. |
Man lese nach
Müllers
Anmerck. über Gracians Oracul, ... |
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