HIS-Data
Home | Suche
Zedler: Sinne [1] HIS-Data
5028-37-1691-4-01
Titel: Sinne [1]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 37 Sp. 1691
Jahr: 1743
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 37 S. 859
Vorheriger Artikel: Sinne [Übersicht]
Folgender Artikel: Sinne [2]
Hinweise:
  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • Für die Auflösung der Quellenangaben siehe: Personen

vorhergehender Text  Artikelübersicht   Teil 2  Fortsetzung

Übersicht
physisch
logisch

Stichworte Text  
  Sinne, Sensus, sind ein Vermögen der Seele, von den Objecten afficiret zu werden, und hierdurch sie zu empfinden.  
  Man kan von denselbigen eine dreyfache Betrachtung anstellen, eine physische, logische und moralische.  
physisch Nach der physischen Erklärung betrachtet man die Sinnen, wie sie an sich beschaffen, sowohl nach ihrer Natur, als nach ihrer Absicht, die GOtt dabey gehabt. Wenn wir ihre Natur genau einsehen wollen, so müssen wir drey Dinge sorgfältig auseinander setzen, die Sinnen, die Empfindungen und die Gliedmassen, oder Werckzeuge der Sinnen.  
  Die Sinnen gehören zu der Seelen, und sind das Vermögen von den Objectis afficiret zu werden, und selbige hierdurch zu empfinden, wie wir schon vorher angeführet haben. Indem die Seele nach solcher Krafft würcket, so heissen die Würckungen die Empfindungen, (SENSATIONES, SENSIONES,) davon der Artickel Empfindung in VIII. Bande p. 1029. handelt.  
  Die Gliedmassen des Leibes aber, vermittelst deren die Objecte zu der Seelen gebracht werden, sind die Werckzeuge der Sinnen, SENSORIA, SENSORIA ORGANA, deren man insgemein fünffe zehlet, als das Auge, die Nase, das Ohr, die Zunge, und die Nerven durch den gantzen Leib.  
  Man theilt aber die Sinnen in äusserliche (Sensus externos) und innerliche, (Sensus internos) nach dem Unterscheid des Objecti, so sie empfinden. Denn die Seele empfindet  
 
  • entweder cörperliche Dinge, die ausser ihr sind, durch die vorher angeführten Werckzeuge, und weil man derselben fünffe zehlet, so entstehen daher auch fünff Arten der Empfindungen, das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen, oder das Gesicht, das Gehör, der Geruch, der Geschmack und das Fühlen; Und das sind die äusserlichen Sinnen;
  • oder sie empfindet ihre eigenen und in ihr selbst geschehenen Bewegungen, als ihre Gedancken und Begierden, welches die innerlichen Sinnen sind,
wie Rüdiger de sensu veri et falsi, Lib. I. Cap. 3. §. 14. erwiesen.
  Einige Peripatetici haben davor gehalten, daß MEMORIA, PHANTASIA und SENSUS COMMUNIS die drey innerlichen Sinnen wären. Denn die gemeine Empfindung nähme den Eindruck der Bewegung, so durch die äus-  
  {Sp. 1692}  
  serlichen Sinne zum Gehirn gelange, an. Die Einbildungs-Krafft unterscheide sie nach ihrer Art, und mache gewisse Bilder daraus, und das Gedächtniß lege die angenommenen Bilder bey, und wiederhohle sie nach Gelegenheit. Wie sie aber den Sensum communem sehr verwirrt beschreiben; also werden auch ohne Ursache die Empfindungs-Krafft und das Gedächtniß unter die Sinnen gezehlet. Es können auch diese viere, Hunger, Durst, Frölichkeit und Traurigkeit vor die innerlichen Sinnen nicht ausgegeben werden, wie Cartesius de homine, Part. 4. §. 52. seqq. behauptet.
  Bey denen Empfindungen verhält sich der Verstand leidend, welche Leidenschafft sich in zwey Stücken äussert. Denn einmahl stehet nicht in unserer Gewalt, ob wir was empfinden wollen, oder nicht; sondern wenn die Sachen vorhanden sind, müssen wir sie empfinden; Soll aber die Empfindung unterbleiben, so ist kein anders Mittel, als daß wir verhindern, daß die Objecta die Gliedmassen der Sinnen nicht berühren.  
  Hernach ist auch eine Nothwendigkeit in der Art der Empfindung. Denn die Empfindungen müssen wir annehmen, wie sie nach Art der Objectorum kommen, daß z.E. von einem sauren Bier niemand einen süßen Geschmack haben kan. Doch muß man mit den Empfindungen die Urtheile, die darauf folgen, nicht vermischen. So können zwey Personen einerley Empfindung haben, wenn sie z.E. einerley Essen zu sich nehmen; urtheilen aber doch ungleich davon, daß einer sagt, es schmecke gut, der andere aber, es schmecke nicht gut. Ob sich wol der Verstand bey der Empfindung auf diese Art leidend verhält; so geht doch dabey auch eine Action für, daß, wenn er von den Objectis afficiret wird, er solche Bewegung annimmt, weswegen einige die Empfindung lieber eine commotionem, als passionem intellectus nennen wollen.  
  Die Sinnen dienen zu des Menschen Glückseligkeit, und geben des Schöpffers Macht, Weisheit und Gütigkeit gantz deutlich zu erkennen. Denn auf Seiten des Leibes gereichen sie zu dessen Erhaltung. Den Leib müssen wir mit Speise und Tranck versorgen, zu welchem Ende nicht nur nöthig, daß wir Speise suchen; sondern müssen sie auch unterscheiden, und eine Begierde dazu haben. Keines kan ohne die Sinnen geschehen. Denn das Auge braucht man die Speise zu sehen, und zu unterscheiden, zu welchem letztern auch der Geruch und der Geschmack dienet; Und durch das Gefühle, wenn man hungert und durstet, wird man angetrieben zu essen und zu trincken. Sollen wir überdies den Leib vor allem Schaden bewahren, so müssen wir sehen und hören, wo was gefährliches vorhanden, und fühlen, wenn uns was beschwerliches und schmertzliches zustösset.  
  Der Seele gehen die Sinnen gleichsam an die Hand, sofern sie den Grund zu ihren Gedancken und willkührlichen Begierden leget. Denn wie wir hernach anmercken wollen, so kommen alle Ideen von der  
  {Sp. 1693|S. 860}  
  Empfindung. Die Ideen machen den materiellen Theil der Gedancken aus, und die Gedancken erwecken wieder Begierde im Willen.  
logisch Die logische Betrachtung der Sinnen zeiget  
 
1) wie die sinnliche Erkänntniß an sich beschaffen.
 
 
  Wir haben überhaupt zweyerley Arten der Erkänntniß: eine gemeine, und eine gelehrte. Jene geschicht unter andern durch die Sinne, und hat bey einzelnen Sachen und Begebenheiten statt, wenn wir selbige unmittelbar empfinden, und in das Gedächtniß fassen, woraus durch die Länge der Zeit die Erfahrung entstehet. Man kan sie gewisser massen in eine natürliche und künstliche eintheilen: Jene ist, wenn sie bloß durch die natürliche Krafft der Gliedmassen der Sinnen zuwege gebracht wird; diese aber wäre, wenn man dabey der natürlichen Schwachheit solcher Gliedmassen durch künstliche Hülffs-Mittel zu statten kommt. Denn hat man z.E. Microscopia erfunden, und dadurch die Krafft des Gesichtes verdoppelt, daß man durch dieselbigen Dinge siehet, die man ordentlich mit den Augen nicht sehen kan.
 
 
  Eine solche sinnliche Erkänntniß ist
 
 
 
a) gewiß, daß, was man unmittelbar empfindet, darauf kan man sich gewiß verlassen, daß es sich in der That also verhalte, als man es empfunden hat, wenn sich nemlich alles in ordentlichem Zustande befindet, und der Gebrauch der Sinnen recht angestellet wird.
 
 
 
  Man giebt davon folgende Regeln:
 
 
 
  Erstlich müsse die Sache, die man empfinden wolte, in gehöriger Distantz seyn. Solche Distantz kan man in keinem gewissen Puncto setzen, sondern überhaupt nur soviel sagen, es müsse die Sache weder zu nah, noch zu weit von mir seyn.
 
 
 
  Dieses kommet von zwey Ursachen her. Denn einmahl haben die Sinnen nicht alle einerley Distantz. Bey dem Gefühle und Geschmack müssen die Sachen, welche man empfinden will, gantz an das Werckzeug der Empfindung angedrucket werden; Bey dem Geruch, Gehör und Gesicht können sie in weiterer Distantz, und unter diesen dreyen Sinnen immer bey einem weiter, als bey dem andern empfunden werden.
 
 
 
  Hernach sind auch die Menschen in Ansehung ihrer Sinnen sehr von einander unterschieden, daß der eine einen subtileren Geruch, Geschmack, schärfer Gehör, Gesicht, u.s.w. als der andere hat, folglich kan bey einem die Distantz weiter, als bey dem andern seyn.
 
 
 
  Die andere Regel heist: Es müsse das Medium sentiendi seine ordentliche Beschaffenheit haben; wodurch man die Lufft verstehet, welche bey dem Gesicht, Gehör und Geruch zwischen den Organo und Objecto ist, und deswegen genugsames Licht haben, und nicht so dicke seyn muß. Denn es ist natürlich, wenn zwischen dem Objecto und Organo etwas ist, dadurch die Zulänglichkeit der Empfindung gehindert wird, daß man sich alsdenn betrügen kan.
 
 
 
  Die dritte Regel heist: Es müsse das Werckzeug eines jeden Sinnes, dessen man sich zur Erkänntniß einer Sache bedienet, in gesundem
 
  {Sp. 1694}  
 
 
  Zustande seyn. Denn wenn zum Exempel ein Mensch einen Schaden am Auge oder Nasen hat, so kan es leicht geschehen, daß er sich die Sache bey der Empfindung anders vorstellet, als sie sich in der That verhält; welches man aber den Sinnen an sich nicht zuschreiben, noch daraus eine Betrüglichkeit schliessen kan.
 
 
 
  Die vierdte Regel ist: Man muß allenfalls, wenn es sich thun läst, mehr Sinnen darzu nehmen; zum Exempel, wenn man die Beschaffenheit des Weins genau erkennen will, so muß man ihn nicht allein kosten; sondern auch den Geruch und das Gesichte zu Hülffe nehmen. Bey solchen Umständen kan man sich gewiß auf seine Sinnen verlassen.
 
 
 
  Wenn also die Cartesianer denen Sinnen ihre Gewißheit absprechen, so irren sie, und legen damit den Grund zu dem Scepticismo. Der Ursprung dieses Irrthums ist, daß man die Urtheile mit der Empfindung verwirret. Denn daß man, zum Exempel, die Sonne dem ersten Anblick nach weit kleiner zu seyn vermeynet, als sie in der That ist; solches ist ein Irrthum nicht der Sinnen, sondern des Judicii, indem die Sinnen weder mehr, noch weniger empfinden, als sich in dieser Entfernung vorstellet.
 
 
 
  Ist ein Grund der Gewißheit bey der sinnlichen Erkänntniß vorhanden, so muß man sich dessen recht bedienen, wenn man bey solcher Erkänntniß gewiß seyn will, wozu eine fleißige Aufmercksamkeit nöthig, daß man die Sachen, die man empfinden soll, genau betrachtet.
Man lese davon
  • Thomasium in Introd. in Philosophiam aulicam, Cap. 5. §. 31. 32. in der Einleitung der Vernunfft-Lehre Cap. 6. §. 50. seqq.
  • Rüdiger de sensu veri et falsi, Lib. I. Cap. 2.
  • Treuer in Meditationib. de mente, sensu non errante.
 
  Solche Erkänntniß ist
 
 
 
b) gemein, daß solche alle Leute, sie mögen gelehrt oder ungelehrt seyn, haben, wenn sie nur ihre Sinnen brauchen können, weswegen keine Geschicklichkeit darzu erfordert wird; und
 
 
 
c) unvollkommen.
 
 
 
  Solche Unvollkommenheit kommt darauf an, daß die Erkänntniß der Dinge, wie wir sie bloß durch die Sinne haben, unzulänglich, indem sich nur einige Eigenschafften durch dieselbige erkennen lassen, und das übrige, was insonderheit das Wesen betrifft, mit der Vernunfft muß erreichet werden; und confus und verwirrt, weil einem die verschiedenen Dinge ohne Ordnung fürkommen; und die Sinnen an sich nicht fähig sind, eine gewisse Ordnung darinne zu machen.
 
  Es zeigt aber die logische Betrachtung der Sinnen auch  
 
2) was sie zur Erkänntniß der Wahrheit beytragen.
 
 
  Dieses ist zweyerley. Denn einmahl legen Sie den Grund zu allen Gedancken, folglich auch zu den wahren Gedancken des Judicii. Durch die Empfindung bekommen wir alle Ideen; die Ideen aber sind die Objecta, womit sich der Verstand beschäfftiget, ohne welchem auch das Judicium nicht würcken kan. Wie nun der Anfang aller unserer Erkänntniß die Empfindung ist; also müssen wir auch bey derselben stehen bleiben,
 
  {Sp. 1695|S. 861}  
 
  und dürffen keinen Beweis über dieselbige suchen, noch verlangen. Darinnen bestehet eben die Endlichkeit des menschlichen Verstandes.
 
 
  Nicht allein aber legt die Empfindung den Grund zu der Erkänntniß überhaupt; sondern auch insonderheit zu dem Nachdencken, welches unser Verstand, als was eignes hat. Das Nachdencken äussert sich hier, wenn man von den Ideen der einzelnen Sachen, wie wir solche durch die Empfindung bekommen, abstrahiret, allgemeine und andere Ideen machet. Hierdurch wird der Weg zu der judiciösen und gelehrten Erkänntniß der Wahrheit gebahnet, und auf diese Art sind unsere Disciplinen, wie wir sie in systematischer Ordnung haben, entstanden. Man hat durch die sinnliche Erkänntniß allerhand Anmerckungen von einzelnen Sachen zusammen gelesen, und nachgehends durch das Nachdencken sich allgemeine Regeln gemacht, und sie nach und nach in einen Zusammenhang gebracht.
 
 
  In dieser Absicht hat man den Gebrauch der Sinnen vorsichtig anzustellen, und deswegen folgende Regeln zu beobachten:
 
 
  Man muß wohl unterscheiden, zu welchen Sinnen ein Object gehöret. Denn gehöret es zu den äusserlichen, so darff man seine Erkänntniß nicht bey den innerlichen suchen; gleichwie man ein Object der blossen innerlichen Sinnen nicht darff zu den äusserlichen bringen. Wider diese Regel hat man gar offt angestossen. Denn manche haben ohne Noth in natürlichen Dingen die Erfahrung hintan gesetzet, und sich durch innerliche Empfindungen blosser durch das Ingenium erdichteter Möglichkeiten eine Erkänntniß erwerben wollen, wie man an den Cartesianern siehet.
 
 
  Man muß weiter bey solchen Empfindungen allen Fleiß anwenden, daß man derselbigen so viel, als möglich ist, zusammen bringet, auch anderer Erfahrung zu Hülffe nimmt, die verschiedenen Eigenschafften, die von einem Object in die Sinne fallen, unterscheidet und beurtheilet, auf welche unter denselben man seine Aufmercksamkeit am meisten zu richten habe. Nicht weniger hat man dahin zu sehen, daß man die Urtheile mit den Empfindungen selbst nicht verwirre. Denn es geschiehet gar vielmals, daß sich mit denen Empfindungen gleich Gedancken und Urtheile verknüpffen, welches zu grosser Verwirrung Anlaß geben kan, wenn man sie nicht wohl von einander zu sondern weiß. Man bildet sich vielmal ein, man empfände das, was man doch nur gedencket, oder geurtheilet.
 
 
  Nun sind die Empfindungen allezeit gewiß und unbetrüglich; die Gedancken aber können sowohl falsch als wahr seyn. Eine nützliche Regel ist auch, daß man bey der sinnlichen Betrachtung der Dinge die Affecten, so viel möglich ist, beyseite setze. Denn diese verursachen, daß man die Eigenschafften der Dinge, die würcklich da sind, nicht siehet, wenn sie den Affecten zuwider, und daß man hingegen andere Eigenschafften, die nicht vorhanden, wahrzunehmen, vermeynet. Zum Exempel:
 
  {Sp. 1696}  
 
  an unsern Feinden verhindert uns der Haß, die Tugenden; die Liebe aber, an unsern Freunden, und an uns selbst, die Fehler zu beobachten.
 
     

vorhergehender Text  Artikelübersicht   Teil 2  Fortsetzung

HIS-Data 5028-37-1691-4-01: Zedler: Sinne [1] HIS-Data Home
Stand: 5. April 2013 © Hans-Walter Pries