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Quellenangaben |
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Die Practische Betrachtung zeiget, wie wir uns
gegen die
Logische Wahrheit zu verhalten haben.
Wir setzen zum Voraus, daß die Wahrheit an sich
selbst ein
Gut; Unwissenheit aber und
Irrthum ein
Übel sind. Es
meynt zwar
Thomasius in caut. circa
praecogn. Jurisprud. … daß Wahrheit an sich
selbst weder gut noch
böse wäre; indem er also
schreibet: |
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„Ich sage im Gegentheil: Die Wahrheiten sind
an sich selber weder gut, noch böse, daraus
fliesset nothwendig, daß weder die Unwissenheit,
noch der Irrthum an sich selber gut, oder böse sind.
Und gleichwohl ist nicht zu leugnen, daß es viel
schädliche und unnützliche Wahrheiten, und viel
nützliche Unwissenheiten und Irrthümer gebe,
dannenhero muß man sich um die Ursache solcher
Benennung bekümmern, und sehen, warum eine
Wahrheit, Unwissenheit und Irrthum nützlich oder
unnützlich gut oder böse genennet worden. Und
dieses giebet uns unsere Vernunfft, und die
Exempel leicht zu erkennen; nehmlich die Wahrheit
und Irrthümer werden in Ansehung dessen,
nachdem sie einer gebrauchet, gut oder böse
genennet. Dieser Gebrauch aber rühret |
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{Sp. 908} |
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von dem menschlichen Willen her.„ |
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Es hat aber
Müller in denen Anmerckungen
über Gracians Oracul Max. … wohl erinnert, daß
wenn Wahrheiten was
Böses; Unwissenheit und
Irrthümer was Gutes würden, solches nur zufälliger
Weise geschehe; an sich selbst aber, und nach der
Absicht
GOttes bliebe die Wahrheit ein Gut, und
die Unwissenheit nebst dem Irrthum ein Übel. Er
schreibet also: |
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„So ist noch zu erwegen, das zwar also eine
Wahrheit allerdings böse, eine Unwissenheit und
ein Irrthum aber gut werden könne, in so ferne sie
accidentaliter nehmlich in Ansehung eines
gewissen specialen Gebrauchs betrachtet werden;
nicht aber, wenn sie in abstracto, in Ansehung des
natürlichen Zwecks, welchen GOtt intendiret, da er
den Menschen zur Erkenntniß der Wahrheit fähig
erschaffen, betrachtet werden. |
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Denn wenn wir erwegen, daß GOtt den
Menschen zur Erkenntniß der Wahrheit eigentlich
deswegen fähig erschaffen, daß er vermittelst
derselben seine wahre Glückseligkeit willkührlich
zu befördern möge fähig seyn, als welche Fähigkeit
er ohne die Erkänntniß der Wahrheit nicht haben
würde: so ist in Ansehung dieser Intention GOttes
allerdings zu sagen, daß die Wahrheit an sich
selbst ein Gut, Unwissenheit und Irrthum aber ein
Übel sey; jene aber zu einem Übel, und diese zu
einem Gute, nur zufälliger Weise, nehmlich in
Ansehung eines specialen Gebrauchs der
Menschen, werden könne.„ |
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Ist nun die Wahrheit ein Gut und zwar eines
der wahren Güter, wodurch die wahre
Glückseligkeit der
Menschen
befördert wird, so hat man sich um dieselbige allerdings zu bekümmern. Alle
unsere Bemühungen, die dabey angestellet werden, kommen auf drey Stücke an: |
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- daß man solche
erkenne:
- selbige andern mittheile,
- und sein würckliches Verfahren darnach einrichte:
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1) |
Muß man die Wahrheit
erkennen, wwelches auf zweyerley Art geschicht,
indem man selbige entweder selbst
erfindet, oder
was andere bereits
gesagt, prüfet und beurtheilet,
davon die Art und Weise, wie solches geschehen
kan, in der Logick gezeiget wird. |
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Es sind zwar alle
Wahrheiten an sich was gutes; indem sie aber
unmöglich alle von einem
Menschen können
erkannt werden, auch immer eine nützlicher und
nöthiger ist, als die andere, so bekümmert man
sich vor allen
Dingen um die nöthigen, von denen
die Beförderung unserer Glückseligkeit und
Vollkommenheit grossen theils dependiret. Bey
solcher Erkenntniß braucht ein Mensch seine
Freyheit zu gedencken, soweit als sich selbige
erstrecket, und vermeidet dahero zwey Abwege.
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Der eine ist die sclavische
Unterdrückung der
Vernunfft, wenn man selber
nicht nachdenckt, und sich in allen als ein Sclav
nach anderer Leute
Urtheil richtet; der andere
hingegen ist die Frechheit zu gedencken, indem
man solche
Dinge auszugrübeln sich unterstehet,
die doch mit unserer Vernunfft nicht könne
erreichet werden, welches die Geheimnisse sind,
die so wohl im Reiche der Natur als der
Gnaden
vorkommen, |
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wovon
Walch mit mehrern in den
Gedancken vom Philosophischen Naturell
gehandelt hat: |
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{Sp. 909|S. 468} |
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2) |
Man muß die erkannten
Wahrheiten andern mittheilen. |
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Denn wie wir überhaupt,
dem Nächsten zu dienen, und seine Glückseligkeit
zu befördern,
verbunden sind; die
Erkänntniß der
Wahrheiten aber, wenn wir die
Sache nur nach
dem natürlichen Rechte ansehen, den
Grund zu
einem glückseligen und
beqvemen
Leben leget, so
ist man auch mit seinen erkannten Wahrheiten den
Unwissenden oder Irrenden an die Hand zu gehen
verpflichtet. |
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Es kan dieses auf
zweyerley Art geschehen, indem man einen
entweder
unterrichtet, oder man
disputiret wider
jemandem, man mag nun solches mündlich, oder
schrifftlich thun. |
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Bey jenem erkläret man
seine erkannte Wahrheiten, und
beweist sie mit
ihren
Gründen, welches nach den
Regeln der
Klugheit muß eingerichtet werden, damit man den
von der Wahrheit dependirenden wahrhafftigen
Nutzen erhalten möge, und weil dieses nicht durch
ihre blosse innerliche
Krafft allezeit geschehen
kan, und vieles dabey auf die Beschaffenheit der
Leute, mit denen man zu thun hat, ankommt, so
richtet man sich auch nach ihnen, und macht nicht
gleich alle Wahrheiten ohne Unterschied gemein.
Denn man muß wohl wissen, daß einige
Wahrheiten nöthig; etliche aber nicht so nöthig
sind, und wenn sie gleich alle an sich selbst was
gutes, so können doch manche zufälliger Weise
schädlich werden. |
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Die nöthigen, von denen
die
menschliche Wohlfahrt dependiret, trägt man
Gewissens halber ohne scheu vor den Menschen
für, und wenn sie
Dinge betreffen solten, die eben
nicht nach dem Geschmacke der
Zeit wären, so
beobachtet man dabey die gehörige
Klugheit. Es
sagt Gracian im Oracul Max. 20. sehr wohl: |
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Leute von recht selten und ungemeinen Gaben
müssen ihre Fata von den Zeiten, darinnen sie leben, erwarten. Nicht
alle haben an ihrem Jahrhunderte eine Zeit gefunden, die sie wohl erlebt
zu haben, verdienet hätten, und viele, die zwar dergleichen gefunden
haben, haben doch nicht so glücklich seyn können, daß sie selbige sich
recht hätten zu Nutze machen sollen. Viele wären eines bessern
Jahrhunderts wohl würdig gewesen, immassen
nicht alle Zeiten so beschaffen, daß das, was gut
ist, darinnen solte durchdringen und empor
kommen können. |
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Alle Dinge in der Welt
haben ihre Zeit-Wechsel; sogar die grösten
Unvollkommenheiten gelten nur so lange sie Mode
sind. Jedoch ein Weiser hat bey dem allen das
Glück, daß er sich verewiget. Ist demnach
gleichviel gegenwärtiges Jahrhundert nicht seyn
rechtes Jahrhundert, so können es doch viele
folgende seyn. Indem die Wahrheit zufälliger
Weise, nehmlich durch den Mißbrauch der
Menschen schädlich; Unwissenheit und Irrthum
aber nützlich werden können, so thut man nicht
wohl, wenn man alle Wahrheiten allen und jeden
entdecken, und alle Irrthümer benehmen wolte.
Denn wegen der Bosheit ihres Willens würde ihnen
die Erkenntniß der Wahrheit zufälliger Weise zur
Ausführung gottloser und eitler Absichten dienen;
gleichwie hingegen auch zufällig durch die
Unwissenheit und Irrthümer die Gelegenheit
beschnitten wird, manchen
Schaden nach ihren
verderbten Willen anzurichten. |
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Es gehet solches in
Theoretischen Materien so wohl, als Practischen
an. Denn in jenen herrschet manche
Unwissenheit |
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{Sp. 910} |
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und mancher Irrthum bey
vielen Leuten, als in Ansehung des Donners, der
Cometen, der Sonnen-Finsternissen, der
Erdbeben, u.s.w. die zufällig offt zu vielem Guten
dienen, da hingegen an der
Erkenntniß solcher
Wahrheiten, zumahl bey gemeinen Leuten eben
nicht viel gelegen, ja es stünde dahin, ob sie nicht
mehr Schaden als
Nutzen stifften würde. |
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In Practischen Dingen
finden sich auch Wahrheiten, die accidentaliter
mehr schaden als nutzen können, dergleichen wir
in der natürlichen Rechts-Gelehrsamkeit antreffen,
bey deren Gemeinmachung nicht weniger
Behutsamkeit nöthig. Denn ein treuer
Lehrer hat
bey seiner
Unterweisung nicht bloß auf die
Gelehrsamkeit, die im
Kopf sitzet, sondern auch
offt das
Leben und Wandel der Lernenden zu
sehen, und eben aus dieser Absicht handelt er
nicht wider sein Gewissen, wenn er ein und die
andere Wahrheit verbirget, und einige
Unwissenheit nebst etlichen Irrthümern mit
unterlaufen lässet. Er thut dieses in Ansehung der
Beschaffenheit der Leute und der
Sache selbst
nach den
Regeln der
Klugheit, und mithin
sagt
man nicht überhaupt, daß man der Unwissenheit und den Irrthümern nicht zu
steuren habe, |
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wie
Walch
solches in den angeführten Gedancken vom
Philosophischen Naturel … bereits
angeführet. |
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Es ist nicht genug, daß
man seine erkannte Wahrheiten andern vortrage;
sondern man muß sie auch wider die Einwürffe der
Gegengesinnten zu vertheidigen wissen, woraus
das
Disputiren entstehet; |
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3) |
Man muß sein würckliches
Thun und Lassen nach den erkannten Wahrheiten
anstellen. |
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solche würckliche
Einrichtung seiner Handlungen setzet eine
lebendigen
Erkenntniß der Wahrheiten voraus, daß
dadurch das
Gemüthe
regieret, und in ihm ein
Vergnügen an der Wahrheit erwecket werde. Denn
die blosse Theorie auch der allerbesten
Wahrheiten nutzt an sich keinen
Menschen etwas,
worinnen Aristoteles einen grossen Fehler beging,
als er ein zweyfaches höchstes Gut satzte, und das
Theoretische dem Practischen vorzog. |
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Indem wir also von der Logischen Wahrheit
eine Theoretische und Practische Betrachtung
angestellt, so haben wir voraus gesetzet, daß
würcklich eine Wahrheit zu finden, welches, indem
es auf der unmittelbaren
Empfindung beruhet,
keines
Beweises bedarff. Wie unvernünfftig sich
solche Sceptici, die alles ungewiß und zweifelhafft
machen wollen, aufführen, haben wir oben in dem
Artickel:
Scepticismus, im XXXIV
Bande,
p. 585.
u.ff. gewiesen. |
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Das göttliche Wesen besitzet die Logicalische
Wahrheit auf das allervollkommenste, indem es in
Ansehung seines
Verstandes, alle
Dinge auf das
eigentlichste und vollkommenste ohne Fehl und
Irrthum, erkennet, in Absicht auf den
Willen aber,
allezeit das Beste erwehlet. |
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