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Zedler: Wohlfahrt HIS-Data
5028-58-95-10
Titel: Wohlfahrt
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 58 Sp. 95
Jahr: 1748
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 58 S. 61-65
Vorheriger Artikel: Wohlerworben Gut
Folgender Artikel: Wohlfahrt oder Wohlfart
Siehe auch:
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  • Allgemeine Bemerkungen zur Textgestaltung siehe Hauptartikel
  • : Absatz in der Vorlage vorhanden

  Text Quellenangaben
  Wohlfahrt, Wohlergehen, Wohlseyn, heisset der ungehinderte Fortgang in Beförderung seines Bestens.  
  Die Erlangung des Wohlseyns eines Menschen beruhet auf die Erkenntnis und Ergreiffung der Mittel seines Wohlseyns. Denn obwohl GOtt den Menschen ihren letzten Zweck, als den Grund ihres wahrhafften Wohlseyns, dem Wesen nach durch die Natur gesetzet; so hat er doch die würckliche Erlangung desselben, in Ansehung der Wahl der Mittel der menschlichen Freyheit anheim gegeben, so, daß es bey dem Menschen stehet, den ihnen bestimmten Zweck, und die zu dessen willkührlicher Erlangung in die Grentzen ihrer Freyheit gesetzten Mittel zu erkennen und zu ergreiffen, oder nicht; mithin ihr Wohlseyn zu erlangen, oder dessen verlustig zu seyn: Da hingegen GOtt andere Vernunfft- und leblose Geschöpfe, in Ansehung der natürlichen Zwecke, zu denen er sie bestimmet, in keinen solchen Stand der Freyheit gesetzet; indem sie nicht ihrer selbst, sondern anderer Dinge wegen, sind, und also als Dinge, die sich nur zu Mitteln sollen gebrauchen lassen, keiner Freyheit benöthiget sind.  
  Der Erfolg nun der Zwecke aus ihren Mitteln ist, ohngeachtet der menschlichen Freyheit, nach der würcklich hergestellten Ordnung der Natur, und also nach dem Willen Gottes, nothwendig: Dieweil alle Mittel nichts anders, als natürliche Grund- Ursachen, und alle Zwecke nichts anders, als vorher bestimmte Würckungen solcher Grund-Ursachen oder Mittel sind; und es nach der Natur unmöglich ist, daß wenn man zulängliche Grund-Ursachen eines Effects setzt, der Effect nicht solte  
  {Sp. 86}  
  erfolgen müssen.  
  Derowegen muß aus denen von Gott in der Natur geordneten Mitteln des Wohlseyns der Menschen, wenn diese nur durch rechten Gebrauch ihre Freyheit sie, erkennen und ergreifen wollen, das Wohlseyn der Menschen nothwendig erfolgen. Und hingegen, weil wenn die Ursache hinwegfället, auch zugleich ihre Würckung hinweg fallen muß; so muß, wenn die Menschen durch den Mißbrauch ihrer Freyheit, die von Gott bestimmten Mittel ihres Wohlseyns nicht erkennen und ergreifen, sondern ihnen entgegen handeln, eben so nothwendig der Verlust ihres Wohlseyns, oder ihre Unglückseligkeit erfolgen.  
  Auf solche Art finden die Menschen, wenn sie den Zweck ihrer wahren Glückseligkeit erlangen wollen, eine ihnen auferlegte Nothwendigkeit, in dem Gebrauch ihrer natürlichen Freyheit nach der von GOtt in der Natur geordneten Subordination der Mittel sich zu richten. Da aber der Mensch eine doppelte Natur hat nemlich eine physicalische und moralische, deren die erste in dem natürlich belebten Leibe zu finden, die andere aber in dem freywillig würckenden Gemüthe anzutreffen ist: So ist er auch, daferne er sein Wohlseyn nicht selbst verhindern will, verbunden, nach beyden Naturen dem göttlichen Willen gemäß zu leben.  
  Es lebet aber der Mensch nach der Ordnung Gottes in Ansehung der physicalischen Natur, wenn er nach den physicalischen Gesetzen der Gesundheit des Leibes lebet; die Kräffte derer ausser ihm befindlichen Dinge erkennet, und sie durch Kunst zu seinem Gebrauche tüchtig machet: Da hingegen, wenn er den natürlichen Kunst-Bau seines Leibes zerstöhret, er nach der von GOtt in der Natur bestimmten Ordnung der Folge der Dinge aus einander, durch eine physicalische Nothwendigkeit, und also durch einen strengen Willen Gottes, siech und elend wird; gleichwie auch, wenn er die Kräfte anderer natürlicher Dinge nicht, oder übel erkennet und anwendet, sie durch eine eben so unvermeidliche physicalische Nothwendigkeit, und also durch einen eben so strengen Willen GOttes, ihm unnütz oder schädlich, und folglich an seiner Wohlfahrt verhinderlich werden müssen.  
  Gleichergestalt lebet der Mensch nach der Ordnung Gottes in Ansehung der moralischen Natur, wenn er die mutuelle Subordination, die Gott zum Zweck des allgemeinen menschlichen Wohlergehens zwischen dem Wohlergehen eines Menschen, und dem Wohlergehen des andern, ferner zwischen dem Wohlergehen dieses andern und dem Wohlergehen wiederum eines andern, und also zwischen dem Wohlergehen des gantzen menschlichen Geschlechts, geordnet, vernünfftig erkennet, und sich nach derselben achtet: dahingegen er solche warhafftig göttliche Subordination, von Seiten seiner gegen andere Menschen, durch den Mißbrauch seiner Freyheit nicht trennen, und, an statt daß er ein Menschen-Freund seyn solte, ein Menschen-Feind werden kan; daß nicht solche Subordination auch von Seiten anderer Menschen gegen ihn, durch eine moralische Nothwendigkeit, und also durch einen nicht weniger strengen Willen Gottes ebenfalls aufhören, und er also die  
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  gegenseitige Feindschafft anderer Menschen, durch bürgerliche Straffen und in andere Wege mit seinem empfindlichen Schaden nicht solle erfahren müssen.  
  Weil die Folge der Würckungen aus ihren Grund-Ursachen, und also auch der Zwecke aus ihren Mitteln, nothwendig ist: so muß ein tugendhafftes Leben, das nach den Gesetzen der Natur, das ist, nach der Vorschrifft der Mittel, denen GOtt das Wohlergehen der Menschen, als einen Effect seinen Grund-Ursachen subordiniret hat, geführet wird, ordentlicher Weise durch eine natürliche Nothwendigkeit ein wahrhafftes Wohlseyn der Menschen würcken; und ein lasterhafftes Leben, das wider die Gesetze der Natur geführet wird, muß ordentlicher Weise durch eine eben so natürliche Nothwendigkeit die Unglückseligkeit der Menschen nach sich ziehen.  
  Nun ist die Natur und deren unverrückter ordentlicher Lauf, krafft dessen die Effecte beständig aus ihren Grund-Ursachen erfolgen müssen, ein Werck GOttes der sie durch seinen Willen oder freye Thätigkeit also geordnet. Dahero muß nothwendig alles menschliche Wohlergehen, das ordentlicher Weise durch natürliche Folge aus einem tugendhafften Leben fliesset, ein von GOtt in der Ordnung der Natur bestimmter angenehmer Effect, d. i. eine wahrhaffte göttlicher Belohnung der Tugend seyn: und alles Elend, das ordentlicher Weise durch natürliche Folge, aus einem lasterhafften Leben entspringet, muß gleichfalls ein von GOtt in der Ordnung der Natur bestimmter unangenehmer und trauriger Effect, das ist, eine wahrhaffte göttliche Bestraffung der Laster seyn.  
  Dannenhero sind aus dem in der Ordnung der Natur hervorleuchtenden besondern Willen GOttes in Ansehung der Menschen, den wir das göttliche natürliche Gesetz nennen, zwo besondere göttliche Eigenschafften, oder Relationen GOttes gegen die Menschen zu schliessen: nehmlich theils die Güte oder Liebe, theils der Ernst oder Zorn GOttes gegen die Menschen; die wir jedoch beyde, weil in GOtt keine Affecten seyn können, nach den Regeln einer gesunden Anthropopathie uns vorzustellen beflissen seyn, und also nichts anders darunter verstehen müssen, als Thätigkeiten, durch welche sich GOtt in der Natur gegen die Menschen äussert, die wir nur aus dem Grunde ihrer Ähnlichkeit, die sie, was den Effect betrifft, mit dergleichen menschlichen Thätigkeiten haben, uns unter dem Bilde dieser menschlichen Affecten vorstellen.  
  Nehmlich die Güte oder Liebe GOttes gegen die Menschen ist eine Thätigkeit GOttes, durch welche er die Menschen nicht allein in Ansehung ihrer Natur zum Zwecke einer wahren Glückseligkeit erschaffen, sondern auch die Ordnung der Natur, d. i. die Reyhen der natürlichen Grund-Ursachen, in ihren Folgen auf das wahre menschliche Wohlergehen abgerichtet, und zu dem Ende einen bescheidenen Theil derselben in die Grentzen ihrer Freyheit dergestalt gesetzet, daß sie sie erkennen, und durch freywillige Richtung derselben den Zweck ihres wahren Wohlergehens erreichen können und sollen, der Ernst hingegen, oder der Zorn GOttes, ist eine Thätigkeit GOttes, durch welche er die Reyhen der natürlichen Grund- Ursachen, in ihren Folgen auf den Zustand der Menschen in  
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  Ansehung ihres Wohlergehens also abgerichtet, daß, wenn die Menschen die ihrer freyen Richtung überlassenen Grund-Ursachen nicht, oder übel erkennen und gebrauchen, daher durch eine natürliche Folge das Elend der Menschen entstehen müsse.  
  Die Nothwendigkeit dieser Folge zeiget von Seiten der Liebe GOttes die Festigkeit und Beständigkeit derselben, von Seiten des Zorns GOttes die Strengheit desselben an; dargegen aber auch daher, daß es nicht durch einen jeden begangenen Fehler sofort mit uns gar aus ist, die göttliche Langmuth deutlich erhellet.  
  Beyde zusammen, nehmlich sowohl die Güte GOttes in Belohnung des Guten, als der Ernst GOttes in Bestraffung des Bösen, heissen mit einem Worte die göttliche Gerechtigkeit.  
  Daß aber ordentlicher Weise aus der Tugend, oder dem Gehorsam, den man dem göttlichen Gesetze leistet, Wohlergehen, aus den Lastern aber oder dem Ungehorsam Elend erfolgen müsse, ist leicht zu erweisen, wenn man erweget, daß alles wahre Wohlergehen der Menschen ein Effect ist, dessen Existens oder würckliche Erlangung, wie die Existens aller anderer Effecte der Natur von der Subordination derer von GOtt hierzu geordneten Grund-Ursachen dependire.  
  Diese Subordination oder Ordnung GOttes, so weit sie dem Menschen zur Richtschnur des Gebrauches seiner Freyheit vorgeschrieben ist, ist das göttlich natürliche Gesetz. Also muß aus Beobachtung des göttlichen Gesetzes so nothwendig wahres Wohlseyn, und aus Übertretung desselben so nothwendig wahres Elend erfolgen, als nothwendig es, Krafft der Ordnung der Natur, in beyden Fällen ist, daß, wenn die würckende Ursache da ist, nothwendig auch die Würckung erfolgen müsse.  
  Das, was den fürnehmsten Zweifel wider diese Nothwendigkeit des Erfolgs des menschlichen Wohlergehens aus der Tugend und des Übelergehens aus den Lastern, erregen kan, ist, daß man doch gleichwohl befinde, daß offt aus den Lastern, durch eben so nothwendige Folge, als aus der Tugend etwas Gutes erfolgen könne. Denn wer wolle ein Laster begehen, wenn er nicht etwas Gutes dadurch zu erhalten suchte, und, wo er anders in der Wahl der Mittel nicht fehlet, auch würcklich erhielte?  
  Aber hierauf dienet zur Antwort, daß ein eintzelnes Gut noch nicht das gantze Wohlergehen des Menschen ausmache, sondern man auf den gantzen Zusammenhang der Begebenheiten seines Lebens, bis an das Ende, zu sehen habe. Denn kein Mensch von gesundem Verstande wird z. E. die diebische Erlangung einer Summe Geldes, die aber zuletzt die Strafe des Stranges nach sich ziehet, oder die betrügerische Erlangung eines oder des andern Gewinnstes, auf welche der Verlust alles guten Credits, und unzehlige andere Übel erfolgen, vor ein wahres und gründliches Wohlergehen halten.  
  Wolle man sagen, daß man nur die kleinen und albern Diebe, die sich fangen lassen, hencke, und nur die kleinen und albernen Betrüger, wegen der Folgerungen ihrer Schelmstücke besorgt zu seyn Ursach haben; nicht aber die grossen oder mächtigen und schlauen: so ist zu erwegen, daß kein Mensch weder so schlau, noch so mächtig sey, daß er den gantzen Zusammenhang seines Schicksals, und alle Folgerungen seiner Tha-  
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  ten bis ans Ende solte übersehen, oder denselben gewachsen seyn können.  
  Über dieses ist zum wenigsten das gewiß bevorstehende schlechterdings letzte Ende allen Lasterhafften schlechterdings zu fürchten, und allen Tugendhafften freudigst zu erwarten; und kommt mit der Schrecklichkeit des ersten die kurtze und doch allzeit gar kümmerliche Lust dieses Lebens, mit der Annehmlichkeit aber des andern die kurtze und meistens noch gar erträgliche Unlust dieses Lebens, als eine Kleinigkeit, in gar keine Vergleichung.  
  Wolte man die kettenweise an einanderhangende Reyhe derer allesamt nothwendigen Folgen, durch welche das Wohl und Wehe der Menschen determiniret wird, in gesundem Verstande ein Fatum oder Schicksal nennen, also nehmlich, daß GOTT in solches Fatum nicht selbst mit verwickelt, sondern als ein freyhester Regierer desselben ihm vorgesetzet, der Mensch aber demselben zwar unterworffen werde, aber nicht in seinen freyen Handlungen, sondern nur in Ansehung derer Folgen derselben als deren Nothwendigkeit auf solche Art nur hypothetisch wäre, und zwar nicht nur in Absicht auf eine andere Welt, sondern auch in dieser: so würde man darwider nicht viel einzuwenden haben; zumahl da bey diesem Fato, die sonst von den Vertheidigern eines Fati ihm beygelegte Eigenschafft der Unvermeidlichkeit gehöriger Massen eingeschräncket würde; massen solchergestalt das Wohl oder Wehe der Menschen zwar durch eine unvermeidliche fatale Nothwendigkeit erfolget, jedoch nur mit Bedingung, nachdem der Mensch die nothwendige und unvermeidliche Folge des einen oder des andern durch sein freyes Verfahren verursachet, so, daß es von dem menschlichen Verfahren dependiret, ob das eine oder das andere durch solche fatale Nothwendigkeit erfolgen solle; da denn die fatale Nothwendigkeit in diesem Verstande eine gar feine Idee wäre, sich vorzustellen, wie gewiß und unveränderlich die göttliche Güte gegen die Fronmmen, und wie unvermeidlich die göttliche Rache denen Bösen sey. Fast gleiche Gedancken hat hiervon der berühmte Englische Theologus, Wilhelm Scherlock, in seinem Traité sur la Providence, chap. 3.
  Da die Güte GOttes in Belohnung des Guten, und, der Zorn GOttes in Bestraffung des Bösen, gewiß, und die Folgen des Wohlergehens aus der Tugend, und des Übelergehens aus den Lastern, nothwendig und unvermeidlich sind, die menschliche Seele aber, als ein unverweßliches und unsterbliches Wesen, auch nach dem Tode des Menschen übrig bleibt, und ihren in diesem Leben angefangenen moralischen Zustand behält; durch den Tod aber die Subordination der menschlichen Seele, und ihres Wohlergehens, mit der vergänglichen cörperlichen Natur völlig aufhöret, und dagegen allein die Subordination, die Seele unstreitig sodann unmittelbar mit GOtt hat, übrig bleibet: so folget, daß, gleichwie die in diesem Leben nur mittelbar angefangene Subordination der Seelen mit GOtt, nach dem Tode unmittelbar, und also weit vollkommener continuiren wird; also auch die göttliche Belohnung der Tugend und Bestraffung der Laster die in diesem zeitlichen Leben ordentlicher Weise nur vermittelst der Sub-  
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  ordination der natürlichen Grund-Ursachen in der erschaffenen Welt geschiehet, auch nach dem Tode durch die sodann unmittelbare Subordination der Seelen mit dem theils gütigen, theils zornigen GOtte selbst, beständig und unveränderlich fortgehen, folglich der Baum so, wie er mit dem Ende dieses Lebens fällt, nach dem Leben auch liegen bleiben werde.  
  Und zwar muß solche unmittelbare Subordination derer durch den Tod über alle Stuffen der Subordination der cörperlichen Reyhen der Dinge erhabenen Seelen mit dem gütigen oder zornigen GOtte, (in welcher unmittelbaren Subordination sonder Zweifel Himmel und Hölle, der Stand der Seligkeit und Unseligkeit oder Verdammniß bestehet.) nothwendig in Absicht auf uns, auf unsere Erkenntniß, und selige oder unselige Empfindung, die allervollkommenste seyn, deren wir nach dem Lichte der Vernunft fähig seyn können.  
  Denn in der mittelbaren Subordination der Menschen mit GOtt, d.i. in diesem Leben stellen uns die unzehligen in einander verwickelten Reyhen derer natürlichen Begebenheiten gleichsam einen Irrgarten vor, aus welchem unser Verstand, als welcher die so ungeheuren, auf so unzehlige Arten in einander verwickelten Reyhen der Dinge nicht vom Anfange bis zum Ende übersehen kan, sich nicht zu finden weiß, in welchem also, da uns das Ende der Dinge verborgen ist, es offt denen Frommen sehr übel, denen Bösen sehr wohl zu ergehen scheinet; daß man fast glauben solte, die Subordination der Frommen mit einer gütigen, und der Bösen mit einer zornigen Gottheit, der Tugenden mit ihren Belohnungen, der Laster mit ihren Bestraffungen, sey gäntzlich unterbrochen, oder wohl nie eine gewesen, und die Folgerungen der menschlichen Thaten nicht einem durch den weisen und gerechten GOtt regierten Schicksal, sondern weiß nicht was vor einem blinden Hazard oder Glücks-Falle unterworffen.  
  Dieses ist dasjenige, was denen Frommen in dieser Welt den Weg zu dem gütigen GOtte, d.i. die so lange Subordination so unzehliger in einander verwickelter Begebenheiten, als die sie nie gäntzlich übersehen können, offt so kümmerlich und Sorgen-voll; die Bösen aber auf dem Wege zu dem zornigen GOtte, wegen gleichmäßiger Ursachen so sicher und sorgenlos machet.  
  Weil nun hingegen in der auch nach diesem Leben verbleibenden Subordination der Seelen mit GOtt, keine so in einander verwickelte Reyhen natürlicher Dinge und Begebenheiten mehr darzwischen seyn werden, die denen Bösen in ihrer Subordination mit dem zornigen GOtte durch ein betrügliches Vergnügen, denen Frommen in ihrer Subordination mit dem gütigen GOtte durch einen betrüglichen Kummer selten teuschen können: so muß unstreitig die sodann unmittelbare Subordination der Seelen mit dem theils gütigen theils zornigen GOtte die allervollkommenste seyn; immassen die daraus erwachsende Seligkeit oder Unseligkeit der Seelen, nehmlich die Erkenntniß und würckliche Empfindung der unendlichen Liebe und des unendlichen Zornes GOttes, die in diesem Leben nur mittelbar war, sodann gantz unmittelbar, folglich die Seligkeit der Frommen ohne alle darzwischen kommende betrügliche Unlust, die Unseligkeit aber der Lasterhaff-  
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  ten, ohne alle darzwischen kommende betrügliche Lust seyn wird: denn die falsche Lust und Unlust kan nur in der mittelbaren Subordination der Seele mit GOtt, in dem dazwischen liegenden Zeitlichen sich einflechten, und also nur in diesem zeitlichen Leben unserm Verstande auf der einen Seite die Güte, auf der andern den Zorn GOttes auf eine Zeitlang verdunckeln.  
  Der Unterschied, den wir in diesem Stücke zwischen dem Lichte der Natur, und dem Lichte der Gnade und göttlichen Offenbahrung befinden, ist sonder Zweiffel dieser, daß wir nach dem Lichte der Natur nur die bevorstehende Existentz der unmittelbaren Vereinigung unserer Seelen mit GOtt auf die angeführte Art zu erkennen und zu erweisen vermögen; die göttliche Offenbahrung aber über dieses die übernatürliche Art und Weise solcher Vereinigung zeiget, daß wir nemlich hierzu einen Mittler, Christum, bedürffen. Dahero, wie in andern, also auch in diesem Stücke, die geoffenbarte Theologie die natürliche nicht aufhebt, sondern vielmehr voraus setzet, herrlich vermehret, und ihre Mängel ersetzet.  
  Nunmehro werden die Einwürffe sich völlig ablehnen lassen, die man von uralten Zeiten her wider die göttliche Gerechtigkeit und wider den in seinem Grunde unumstößlichen Satz, daß aus der Tugend Wohlergehen, aus den Lastern Elend, durch eine von GOtt geordnete natürliche Nothwendigkeit erfolgen müsse, sich gemacht hat: daß nemlich der erwehnte Satz, man möge ihn im abstracto auch so schön erweisen als man wolle, dennoch wider die Erfahrung streite, als welche lehre, daß es denen Tugendhafften offt gar übel, denen Lasterhafften offt gar wohl ergehe.  
  Und ist bekannt, was vor Irrungen in der Lehre von der Weißheit und Gerechtigkeit der göttlichen Fürsehung, ja von der Existentz eines weisen und gerechten GOttes selbst aus dieser übel erwogenen Erfahrung von Alters her erwachsen: so daß auch David im 73 Psalm, da er diesen Einwurff so gründlich abhandelt, als man irgendwo finden wird, V. 2 bekennet, sein Fuß habe in Beurtheilung desselben schier gestrauchelt, und sein Tritt bey nahe geglitten.  
  Man mag seine Gedancken auf das Subject dieses Einwurffs, nemlich auf die Tugendhafften und Lasterhafften, oder auf das Prädicat, daß es jenen so übel, diesem so wohl ergehe, richten: so wird man die Unrichtigkeit desselben, und daß die vorgegebene Erfahrung nicht rein, sondern mit voreiligen Urtheilen untermischet, ja aus dergleichen gäntzlich zusammen gesetzet sey, erkennen.  
  Denn was erstlich die Idee der Tugendhafften und Lasterhafften betrifft, so ist gewiß, daß die wenigsten Menschen einen richtigen Begriff von beyden haben: Indem die Erfahrung, und alle so wohl geistliche als weltliche Geschichte bekräfftigen daß immer die tugendhafftesten und redlichsten Leute vor böse Leute, und dargegen lasterhaffte Heuchler vor heilige Leute mit gemeinen Beyfall gehalten worden, und sich auch wohl selbst darvor gehalten: dahero es etwas gantz gewöhnliches ist, daß auch die bösesten Menschen, wenn sie itzt die unangenehmen Folgerungen ihrer La-  
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  ster, als göttlche natürliche Straffen derselben, empfinden müssen, sich damit zu trösten wissen, und von andern ihres gleichen reichlich damit getröstet werden, daß eine fromme Seele viele Widerwärtigkeit in der Welt ausstehen müsse, zu dem, wo ist wohl unter würcklich tugendliebenden Menschen einer, der sich mit Wahrheit rühmen könne, daß seine Tugend eben gar vollkommen, und nicht mit Lastern, ingleichen mit dem Mangel gehöriger Klugheit und Fürsichtigkeit hin und wieder beschmitzet sey? und wie gewöhnlich ist es nicht, daß tugendliebende Menschen die ihnen noch anklebenden Thorheiten mit zu ihrer Tugend rechnen, oder doch nicht genugsam von derselben unterscheiden; und sodann wenn sie die wahrhafften nothwendigen Würckungen, ihrer Thorheit leiden, sie nicht davor erkennen, sondern sie lieber vor eine verhaste Zulage, die, weiß nicht durch was vor ein hartes Verhängniß immer bey der Tugend anzutreffen sey, halten wollen; Gleichwie man auch gleiche Verwirrung zwischen der Gottlosigkeit und der mit derselben sehr offt verbundenen Klugheit, (welche eine würckliche vor den Gottlosen nur gemißbrauchte Ordnung GOttes ist, die einige als einen Rath GOttes dem Gesetze GOttes entgegen setzen,) zu machen pfleget; da dann, wenn denen Lasterhafften ihre bösen, aber klüglich ausgeführten Absichten gelingen, man mit den bösen Absichten die darbey gebrauchte Klugheit, oder wohl gar den richtigen Zusammenhang der Mittel mit dem Succeß, den sie natürlicher Weise haben, verwirret, und sodann durch die Erfahrung angemerckt zu haben vermeynet, daß es denen Lasterhafften wohlgehe; gleich als ob nemlich guter Succeß, oder die Erlangung eines Zweckes, als eine Würckung, nicht von dem Vermögen der Mittel, als seiner Grund-Ursachen, denen ihn GOtt in der Natur zum freyen Gebrauch aller Menschen ohne Unterschied subordiniret, sondern von seiner (des Zweckes) blosser Güte unmittelbar dependiren, oder die Güte eines Zweckes, weiß nicht was vor eine erdichtete Wunderkrafft haben müste, auch die ungeschicktesten Mittel dennoch practicable zu machen.  
  Ein schönes Exempel eines bösen Menschen, dem es auf die Art, wie es gottlosen Leuten natürlicher Weise wohl gehen kan, gar wohl gienge, stellet dort Christus im Evangelio an dem ungerechten Haußhalter vor, und lehret dabey vollkommen wohl, wie man die Boßheit und Untreue dieses Menschen, mit seiner gescheuten Fürsichtigkeit nicht verwirren, noch die richtig zutreffende Würckungen dieser letzten jener ersten zuschreiben müsse. Denn der Herr lobete den ungerechten Haußhalter, nicht wegen seiner Ungerechtigkeit, sondern daß er klüglich gethan hatte; und empfiehlet den Kindern des Lichts bey ihrer Frömmigkeit, wenn sie auch in dieser Welt bequemlich leben wollen, mehrere Klugheit als sie insgemein zu üben gewöhnet sind.  
  Sehen wir zum andern auf das vermeynte üble Ergehen der Tugendhafften, und Wohlergehen der Lasterhafften, so ist zwar an dem, daß da in dieser Welt die Bösen und Guten theils einerley Kräfften der Natur unterworffen sind, theils auch einer-  
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  ley natürliche Kräffte ihrem freyen Gebrauche unterworffen finden, (oder, wie die Schrifft redet, da GOtt, weil er allen Menschen will geholffen wissen, seine Sonne scheinen lässet über die Bösen und über die Guten:) die Guten oder Tugendhafften ungeachtet ihrer Tugend auch an den Mängeln der Natur, die ihre Endlichkeit mit sich bringet, und die Bösen und Lasterhafften auch an den Vortheilen der Natur, gleichen Theil haben; und daß es also in dieser Welt freylich nicht möglich sey, daß denen Guten allein lauter gutes, und denen Bösen allein lauter böses solte begegnen können.  
  Ja es ist auch gar natürlich, und also nicht zu verwundern, daß die Guten in ihrem willkührlichen Thun mehr Noth, als die Bösen; und hingegen die Bösen mehr Vortheile haben, als die Guten: indem da die Natur beyden einerley Kräffte der Mittel darleyhet, die Bösen aber in dem Gebrauch derselben sich an keine Gesetze der Tugend binden, welches hingegen die Guten nach Vermögen thun; das Verfahren der Guten oder Tugendhafften weit gebundener und eingeschränckter ist, als das Verfahren der Lasterhafften, und also freylich dieses in so weit viel besser von statten gehen muß, als jenes.  
  Allein aus diesen allen folget noch nicht, daß es denen Tugendhafften wahrhafftig übel, und denen Lasterhafften wahrhafftig wohlergehe. Denn das Wohl- oder Übelergehen eines Menschen muß nicht aus einer und der andern eintzelnen Begebenheit, sondern aus dem gantzen Zusammenhange seines Schicksals, und insonderheit aus dem Ende beurtheilet werden.  
  Nun sind wir nicht vermögend den gantzen Zusammenhang unsers, und anderer Menschen Schicksals bis an das Ende zu übersehen. Dahero ist es falsch, daß es eine so gar ungezweiffelte Erfahrung sey, daß es tugendhafften Leuten übel, und lasterhafften wohl ergehe. Also wer zum Exempel die gantze Lebensgeschichte Josephs 1 Buch Mose XXXVII bis XLVII betrachtet, der wird bekennen müssen, daß dieser fromme Mann den höhesten Gipffel zeitlicher Glückseligkeit in seinem gewiß sehr merkwürdigen Leben erstiegen.  
  Nichts destoweniger wird er, nebst seinen frommen Vater, sonder Zweiffel sein vermeintes Unglück jämmerlich beseuffzet haben, als er von seinen neidischen Brüdern als ein Sclave verkaufft auch in der Sclaverey selbst seine Tugend äusserst verfolget, und er in ein hartes Gefängniß geworffen wurde: dieweil er freylich nicht vorher wissen konnte, daß diese Sclaverey, die anfangs zwar den Weg zur allerempfindlichsten Verfolgung seiner Tugend, und von dar noch weiter der Weg in das härteste Gefängniß war, endlich im fernern Fortgange seiner an einander hangenden Begebenheiten der Weg zur höhesten Würde und Macht eines Premier-Ministers, und zur Rettung seines gantzen Hauses von dem gäntzlichen Untergange, den ihm die grausame Hungersnoth androhete, werden würde; welchen wunderbaren Weg er nicht eher, als bis er ihn zurück geleget hatte, erkennete.  
  Wolte man sagen, daß dieser Mangel gnugsamer Vorhersehung auch diesem Ausspruche, daß aus der Tugend Wohlergehen, aus den Lastern Elend erfolge, entgegen  
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  stehe: So kan man darauf füglich mit nein antworten. Denn dieser Ausspruch bleibet wohl gewiß in Ansehung des Endes, vermöge der angeführten Gründe. Daraus aber daß weder die Tugendhafften, noch die Lasterhafften den gantzen Zusammenhang ihrer Lebens-Begebenheiten bis ans Ende übersehen könen, folget nur so viel daß beyde, nemlich so wohl die tugendhafften als Lasterhaften, in Unwissenheit und Ungewißheit sind in Ansehung der Zwischen-Begebenheiten, durch welche ihr Leben von den gegenwärtigen bis an das denen Guten nothwendig bevorstehende gute, und denen Lasterhafften nothwendig bevorstehende böse Ende, in richtiger Subordination fortgehen werde.  
  In Ansehung demnach dieser eintzelnen Zwischen-Begebenheiten kan man willig einräumen, daß die darinnen uns täglich vorkommenden Schwierigkeiten dem menschlichen Verstande unauflößlich sind, in Ansehung nemlich seiner Unwissenheit: Denn alle solche Schwierigkeiten vollkommen bis ans Ende durch alle Mittel-Begebenheiten aus einander zu wickeln, wird ein Verstand, der das gantze Leben eines, ja aller Menschen, ja die gantze Natur, vollkommen übersehe, d. i. ein göttlicher Verstand erfordert.  
  Dahero ist es nicht allein nicht zu verwundern , sondern wir begreifen auch gantz deutlich, daß es so und nicht anders, seyn müsse, daß in den Mittel-Reyhen der menschlichen Begebenheiten bis ans Ende den menschlichen Verstande unauflößliche Zweifels-Knoten vorkommen müssen; deren Auflösung die Frommen mit freudiger Hoffnung, die Bösen mit billiger Furcht, von der höhern göttlichen Weißheit erwarten müssen.  
  Eben also löset diesen alten Zweifel auch David im LXXIII Psalm v. 16 auf: Ich dachte ihm nach, daß ichs begreiffen möchte: aber es ware mit zu schwehr, bis daß ich gieng in das Heiligthum GOttes, und merckte auf ihr Ende.  
  Im übrigen mag wohl zu dem Ärgerniß, daß die Frommen an ihrem vermeinten Übelergehen, und an dem vermeynten Wohlergehen der Bösen in der Welt nehmen, ein grosses beytragen die gewöhnliche Ungenügsamkeit der Menschen, da niemand mit seinem Glück zufrieden zu seyn pfleget, und immer aus Unwissenheit des wahren Zustandes des andern, an der Stelle des andern zu seyn sich wünschet.  
  Ein jeder fühlet nur seine Noth die Noth des andern aber nicht; ja diese erfähret er selten, indem die stoltzen Menschen, die man so gar glücklich in der Welt preiset, mit ihrem Glücke, nicht aber mit dem darmit verbundenen Elende, Parade machen. Müllers Einleitung in die Philosophischen Wissenschafften, II Th. Cap. 12 §. 17.18.19.
  Man sehe übrigens auch den Artickel: Glückseligkeit, im X Bande, p. 1703. u f.  

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Stand: 5. November 2016 © Hans-Walter Pries