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Zedler: Wahrheit [2] HIS-Data
5028-52-896-4-02
Titel: Wahrheit [2]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 52 Sp. 900
Jahr: 1747
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 52 S. 463
Vorheriger Artikel: Wahrheit [1]
Folgender Artikel: Wahrheit [3]
Hinweise:
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  • : Absatz in der Vorlage vorhanden
  • Transkribierter griechischer Text der Vorlage
  • Abkürzungen im Text der Vorlage außerhalb der Quellenangaben sind aufgelöst.

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Übersicht
III. Die Logicalische Wahrheit (Forts.)
  Theoretische Betrachtung
 
  II. Verschiedene Gattungen

  Text   Quellenangaben
  II. Verschiedene Gattungen:  
  Wissen wir, was die Logische Wahrheit sey, so müssen wir in der Theoretischen Abhandlung dieser Materie vors andere auch sehen, wie vielerley selbige sey. Es sind auch hier die Philosophen nicht einig, indem sie unter andern darinn von einander abgehen, ob bey denen Ideen, oder Vorstellungen der Dinge eine Wahrheit oder Falschheit statt habe. Denn einige, als Lockius de intell. hum. … erinnern, daß Wahrheit und Falschheit nur den Urtheilen und Propositionen zukämen, die man von einem blossen Begriffe nicht sagen könnte; andere hingegen, wie  
 
  • Thomasius in introduct. ad philos. aulic.
  • Buddeus in elem. phil. instr.
  • Titius in arte cogit.
 
  behalten die Eintheilung, daß die Begriffe unter andern entweder wahr oder irrige wären.  
  Es hat die Sache selbst nicht viel auf sich, weil es darauf ankommt, wie man das Wort Wahrheit nehmen will, welches man entweder einschräncken kan, daß es bloß auf die Urtheile und Sätze geht, oder ihm einen weitläuftigen Verstand beylegen, damit sich solches zugleich auf die Begriffe beziehet. Indem wir oben die Logische Wahrheit eine Übereinstimmung der Gedancken mit der Beschaffenheit der Sache vermittelst der Empfindung genennet; die Ideen aber, oder die Begriffe, gewisse Arten der Gedancken sind, so können wir nach dieser Erklärung und nach dem weitern Umfang des Wortes Wahrheit selbige überhaupt füglich eintheilen in veritatem Ideae und Judicii.  
  Die VERITAS IDEAE, oder die Wahrheit des Begriffs ist diejenige Beschaffenheit einer Vorstellung, wenn selbige mit der Sache selbst übereinstimmt, daß man sich etwas so concipiret, wie es in der That beschaffen.  
  Die VERITAS JUDICII, oder die Wahrheit des Urtheils aber beruhet in einer Übereinstimmung der Gedancken mit dem würcklichen Verhalten zweyer Ideen gegen einander, z.E. wenn ich urtheile, daß die menschliche Seele unsterblich, so ist dieses eine Veritas Judicii, wobey diese meine Gedancken mit dem Verhältnisse der beyden Ideen, als der Seelen und der Unsterblichkeit, wie solches würcklich beschaffen, übereinkommt. Indem man ein Urtheil, wenn sol-  
  {Sp. 901|S. 464}  
  ches durch die Worte äusserlich an Tag gegeben wird, eine Proposition nennet, so kan man diese Wahrheit auch VERITATEM PROPOSITIONIS, oder eine Wahrheit der Proposition (des Satzes) heissen, welche wieder auf verschiedene Art kan eingetheilet werden. Denn  
 
1) ist selbige in Ansehung der Übereinstimmung selbst entweder einige gewisse und unstreitige, oder nur wahrscheinliche.
 
 
Die gewisse Wahrheit bestehet in einer solchen Übereinstimmung der Gedancken mit der Sache selbst, vermittelst der Empfindung, daß der Verstand völlig überzeuget wird, und kein Zweifel dabey zurück bleibt. Dieses hat nun seinen Grund, daß wir nehmlich zu einer solchen Übereinstimmung unserer Gedancken gelangen können, welches entweder durch die unmittelbare Empfindung, oder durch die Natur einer Sache, so fern sie mit der Vernunfft begriffen wird, oder durch das Ansehen der Heiligen Schrifft geschehen muß.
 
 
Dieses giebt Anlaß, daß wir besondere Gattungen dieser gewissen Wahrheit setzen können. Was nun insbesondere die Wahrheit solcher Sachen betrifft, die mit der Vernunfft begriffen wird, so theilet man sie in eine Veritatem sensualem und philosophicam ein. Jene, die sinnliche Wahrheit, oder die VERITAS SENSUALIS, ist diejenige gewisse Wahrheit, da wir wegen einer unmittelbaren Empfindung eine völlige Übereinstimmung der Gedancken mit der Sache selbst haben, welche wieder ist entweder eine gemeine, die sich bloß auf die sinnliche Empfindung gründet, z.E. daß es heute kalt, daß das Feuer Wärme machet, daß es jetzo regnet; oder eine gelehrte, die man auch die Mathematische nennen kan, welche zwar auch auf eine unmittelbare Empfindung gegründet ist; sie hat aber nicht mit eintzelen Dingen, sondern mit unmittelbaren sinnlichen Principien zu thun, z.E. daß ein Gantzes mehr, als ein Theil austrägt.
 
 
Die philosophische Wahrheit oder VERITAS PHILOSOPHICA hat den Grund ihrer Gewißheit in der Natur der Sache, von welcher etwas erkannt wird, nachdem die Vernunfft selbige durch die Definition und Division entdecket; aus diesen aber gewisse Wahrheiten formiret, welche zweyerley sind.
 
 
Einige werden unmittelbar aus der Definition und Division gemacht, die man VERITATES ENUNCIATIVAS nennen kan, auch sonst principia heissen, sofern man daraus noch andere Wahrheiten als Schlüsse folgert, z.E. wenn man das natürliche Recht beschriebe, es sey dasjenige göttliche Gesetz, welches man aus der Natur durch die Vernunfft erkennte, und daraus lernte, was man nach demselbigen zu thun und zu lassen habe, so könnten aus solcher Erklärung verschiedene Veritates enunciativae gemacht werden, z.E.
 
  • das natürliche Recht ist ein Gesetz:
  • das natürliche Recht ist ein Gesetz GOttes:
  • das natürliche Recht wird aus der Natur erkennet:
  • das natürliche Recht zeigt, was zu thun und zu lassen.
 
 
Alle diese Sätze haben ihren Grund der gewissen Wahrheit in der Natur, oder Beschaffenheit des natürlichen Rechts, welche man durch die Definition erkläret, und daraus solche Wahrheiten ziehet. Was wir oben von den Principiis angeführet, kan hier zur Erläuterung dienen.
Der P. Büffier hat ans Licht gestellet: Traite des premieres verites …, davon man in den Memoires de Trevoux 1724 … einen Auszug findet.
 
Soll
 
  {Sp. 902}  
 
man eine dergleichen Wahrheit beweisen, und ihre Gewißheit darthun, so berufft man sich auf die Definition, oder auf das Wesen der Sache.
 
 
Andere sind Veritates RATIONATIVAE, welches die Schlüsse sind, die mittelbar aus einem Satze gefolgert werden, und daher in ihrer Gewißheit in demjenigen Satze, daraus man sie geschlossen, gegründet sind, z.E. ist es gewiß, daß das natürliche Recht ein Gesetz, so folget daraus gewiß, daß selbiges kein Vergleich, auch nicht als ein väterlicher Rath anzusehen; wobey zu mercken, daß ein Satz in verschiedener Absicht bisweilen sich als ein Principium; bisweilen aber als eine Conclusion verhalten kan, z.E. sagt man, man soll niemanden beleidigen, Ergo darf man niemanden beschimpffen, so ist hier der Satz: man soll niemanden beleidigen, ein Principium; der aber auch ein Schluß werden kan, wenn es heist: man soll ruhig in der Gesellschafft leben, Ergo soll man niemanden beleidigen. Dieses bringet die Kunst Schlüsse zu machen mit sich, daß man immer von einer Wahrheit auf die andere kommt. Soll man solche Wahrheiten, die als Schlüsse anzusehen, beweisen, so führt man nur das Principium an.
 
 
Es sind aber solche veritates ratiocinativae zweyerley, so ferne man sie entweder materialiter, oder formaliter betrachtet. Denn siehet man selbige materialiter an, so haben sie ihren Grund in einem principio, das entweder auf die Natur der Sache; oder auf ein göttlich Zeugniß gegründet, und in so weit kan man sie in Philosophische und Theologische eintheilen, z.E. schliesset man: GOtt ist gerecht, Ergo muß er das Böse straffen, so hat hier der Schluß ein Principium zum Grunde, welches auf das Wesen GOttes beruhet, so mit der Vernunfft kan erkannt werden, und daher als ein Philosophischer Schluß anzusehen ist; wolte man aber so schliessen: Der Heilige Geist ist wahrer GOtt, Ergo muß man ihn göttlich verehren, so hätte dieser Schluß kein natürlich Principium, so zur Vernunfft gehöret; sondern welches aus der Schrifft muß erkannt werden, daher er der Materie nach als ein Theologischer Schluß anzusehen.
 
 
Erwegt man die Schlüsse formaliter, soferne sie als solche wahre Sätze, die aus andern geschlossen werden, zu betrachten, so gehören sie alle zur Vernunfft, auch diejenigen, die der Materie nach Theologisch sind.
 
 
Von dieser gewissen Wahrheit ist die wahrscheinliche, oder VERITAS PROBABILIS unterschieden, wenn wir eine solche Gedancken haben, die nicht völlig mit der Beschaffenheit der Sache übereinstimmt, und indem noch eine gegenseitige Möglichkeit dabey statt hat, der Verstand auch nicht völlig überzeuget wird, z.E. daß GOtt allmächtig sey, ist gantz gewiß, wobey der menschliche Verstand nicht den geringsten Zweiffel hat; daß aber dieser sehr krancke Mensche sterben werde, ist nur wahrscheinlich, eben daher, weil der Verstand dencken kan, es kan doch noch seyn, daß er wieder aufkommt, wovon wir in dem Artickel: Wahrscheinlichkeit, gehandelt haben;
 
 
2) kan man die Wahrheit und zwar die Veritatem Judicii auch eintheilen in Ansehung der Sache, davon sie gedacht oder gesaget wird.
 
 
Alles, was man an einem Dinge betrachten kan, betrifft entweder die Existentz; oder die Beschaffenheit desselbigen, welche Beschaffenheit entweder wesentlich oder ausserwesentlich ist; woraus drey Arten dieser Wahrheit entstehen, als
 
 
 
  • die Wahrheit der
 
  {Sp. 903|S. 465}  
 
  Würcklichkeit, oder VERITAS EXISTENTIAE wenn man eine wahre Gedancke von der Würcklichkeit einer Sache hat, z.E. der Mensch hat eine vernünfftige Seele;
 
 
 
  • die Wahrheit des Wesens, oder VERITAS ESSENTIAE, wenn die Wahrheit das Wesen eines Dings betrifft, z.E. der Mensch kan sich bewegen,
  • und die Wahrheit des Zufälligen, oder VERITAS ACCIDENTIS, die nur auf zufällige Eigenschafften gehet, z.E. einige Menschen sind gelehrt.
 
 
Das Wesen, so eine Sache an sich hat, ist entweder ein gemeines, so sie mit den ihr sonst entgegen stehenden Objecten gemein hat; oder ein besonderes, so ihr gantz allein und keinem der entgegen gestellten Dingen zukommt, davon man jenes das Genus; dieses die Differentz nennet, daher wenn man noch mehrere Abtheilungen machen wolte, so könnte man die Wahrheit des (veritatem essentiae) Wesens theilen in VERITATEM ESSENTIAE COMMUNIS, oder GENERIS und in VERITATEM ESSENTIAE SPECIFICAE, oder PROPRIAE; man hat aber nicht nöthig, auf so gar besondere Abtheilungen zu kommen.
 
  Epicurus theilte die Wahrheit ein in veritatem existentiae, da etwas in der That dasjenige sey, was es ist, und in veritatem judicii oder enunciationis, die er eine Gleichförmigkeit des Judicii mit der Sache selbst, davon ein Urtheil gefället wird, nennet, wovon Gassendus de logicae fine … auch Stanley in histor. philosoph. … zu lesen.
  Diese Eintheilung aber ist nicht mit Stillschweigen zu übergehen, da die Wahrheiten sind entweder nothwendige (NECESSARIAE) oder zufällige, (CONTINGENTES). Jene sind in dem Grunde des Widerspruchs, (principio contradictionis); diese hingegen in dem Satze des zureichenden Grundes, (principio rationis sufficientis,) oder der Convenientz gegründet.  
  Bey den nothwendigen Wahrheiten kan man mit der Zergliederung zu Ende kommen, und bis zu den ersten Grund-Wahrheiten gelangen. Bey den zufälligen Wahrheiten kan man niemahls zu Ende kommen, so lange man in der Reyhe der endlichen und zufälligen Dinge stehen bleibet. Es muß also der zulängliche und letzte Grund der zufälligen Dinge in einer schlechterdings nothwendigen Substantz gesuchet werden.  
  Herr Leibnitz theilet die Wahrheiten der Vernunfft in ewige und gesetzte Wahrheiten (VERITATES AETERNAS ET POSITIVAS) ein. Unter den ewigen verstehet er diejenigen, welche so nothwendig sind, daß das Gegentheil, als schlechterdings ohnmöglich, sich allezeit selbst widerspricht; dergleichen sind diejenigen Wahrheiten, so eine Logicalische, Metaphysische, oder Geometrische Nothwendigkeit haben, und die man, ohne in die grössesten Absurditäten zu verfallen, nicht leugnen kan.  
  Den andern ertheilet er deswegen den Nahmen der gesetzten Wahrheiten, weil sie entweder selbst die Gesetze ausmachen, die GOtt der Natur vorzuschreiben gefallen hat, oder weil sie von solchen Gesetzen dependiren. Wir erkennen sie entweder aus der Erfahrung, das ist, a posteriori, oder aus der Vernunfft und a priori, das ist, aus Betrachtung ihrer Convenientz, welche gemacht hat, daß sie vor andern erwehlet worden sind. Diese Convenientz hat zwar ebenfals ihre Regeln und Ursa-  
  {Sp. 904}  
  chen; indessen ist es keiner geometrische Nothwendigkeit, sondern der freyen Wahl GOttes, zuzuschreiben, daß er das Convenientz vorgezogen, und zu der Existentz gebracht hat.  
  Man kan dahero sagen, daß die Physicalische Nothwendigkeit auf die Moralische, das ist, auf die Wahl des weisen Schöpffers, die seiner Weisheit anständig, gegründet sey, und daß beyde von der geometrischen Nothwendigkeit gar wohl unterschieden werden müssen. Diese physicalische Nothwendigkeit macht die Ordnung der Natur aus, und bestehet in den Regeln der Bewegung, und einigen andern allgemeinen Gesetzen, welche GOTT den Dingen gegeben hat, indem er ihnen das Wesen ertheilet hat. Es ist demnach wahr, daß GOtt die Gesetze nicht ohne Grund gegeben hat: denn er erwehlet nichts aus Eigensinn, und gleichsam nach dem Loose, noch aus einer pur lauteren Gleichgültigkeit. Allein die allgemeinen Gründe der Ordnung und des Guten, die ihn dazu bewogen haben, können in einigen Fällen von noch wichtigern Gründen einer höhern Ordnung überwogen werden.  
  Unter den vorhin gedachten zwey Gründen, des Widerspruchs und des zureichenden Grundes, verstehen wir die zwey ersten aus der Empfindung von den Gelehrten ersonnen Sätze. Der Satz des Widerspruchs ist dieser: Es ist ohnmöglich, das etwas zugleich sey, und auch nicht sey. (Principium contradictionis: Impossibile est, idem simul esse, et non esse.) Woraus man, wenn die Empfindung den Grund geleget hat, die Würcklichkeit eines Dinges gewiß zu erkennen Anlaß bekommt.  
  Der Satz des zureichenden Grundes ist dieser: Alles, was ist, hat seinen zureichenden Grund, warum es vielmehr so ist, als nicht so ist. (Principium rationis sufficientis: Nihil est absque ratione sufficiente, cur ita potius sit, quam non sit.) Ein zureichender Grund ist ein solcher Grund, daraus sich alles verständlich erklären und herleiten läst, was bey einer Sache anzutreffen ist. Hieraus nimmt man Anlaß, auf die Grund-Ursachen, folglich das Wesen eines Dinges, zu gedencken.  
  Ausser diesen, giebt es noch viel mehr solche allgemeine Grund-Sätze, welche ihren Ort in der Grund-Wissenschafft, oder Metaphysick, haben, wo man insonderheit von den ersten allgemeinen Begriffen handelt, welcher Theil die Ontologie genennet wird. Diese beyden gründen sich auf die Empfindung und Erfahrung, wer also diese zu dem Grunde leget, wie es sich gehöret, der kan ohne diese Sätze so weit kommen, als mit denselben. Zumahl, wenn man erweget, das eine jede Art der Erkänntniß und der Wahrheit ihren besondern eigenthümlichen Grund habe, welche doch alle in dem ersten allgemeinen Grunde gegründet sind.  
  Beyde angeführte Sätze sind eben deswegen, weil sie Sätze sind, zusammengesetzte Gründe, und müssen also aus dem ersten einfachen Grunde unserer Erkänntniß, der Empfindung, erwiesen werden. Beyde muß man nicht verwerffen, aber bey dem letztern sich in Acht nehmen, daß man solche nicht auf göttliche Dinge, ohne Unterschied, anwende, und den zureichenden Grund, in sofern er metaphysicalisch, oder physicalisch, oder moralisch, oder mathematisch ist, deutlich bestimme.  
  So viel Arten der Erkänntniß sind, so viel Arten der  
  {Sp. 905|S. 466}  
  Wahrheit haben wir auch, welche theils in Ansehung ihres Gegenstandes, (Objecti) theils in Ansehung ihres Grundes, (Principii) theils der Weise, wie man solche erkennet und abhandelt, (Formae et modi concludendi) von einander unterschieden sind, und also nicht mit einander verwirret werden müssen. Da sie aber alle ihren Grund in der Empfindung haben, so kommen sie darinnen alle überein, und insofern ist nur eine Wahrheit.  
  Es sind sonderlich vier Arten unserer Erkänntniß, und also auch der Wahrheiten, merckwürdig:  
 
1) Die Wahrheiten der Ahndung;
 
 
2) Wahrheiten der gemeinen Erkänntniß;
 
 
3) Wahrheiten der Gelehrsamkeit;
 
 
4) Wahrheiten der Offenbahrung.
 
  (VERITATES INSTINCTUS; IDEAE; JUDICII ET REVELATIONIS). Keine von diesen ist zu verachten, aber eine ist immer vollkommener, als die andere; Was man durch die geringere Erkänntniß von Wahrheiten erkennen kan, dazu braucht man die vollkommenere nicht und also muß man sie in gehöriger Ordnung gebrauchen. Hieraus fliessen viele nützliche Regeln wider die Phantasterey, Enthusiasterey, Naturalisterey, und Narrheit, welche wohl zu mercken sind.  
  Die Wahrheiten der Ahndung oder VERITATES INSTINCTUS gehen auf practische Dinge, welche mehrentheils zu der Erhaltung unsers Cörpers abzielen, dazu wir den Trieb in unserer Seele empfinden. Dieser Trieb ist eine Regung unserer Seelen, da durch dieselbe ohne vorher gegangene Überlegung, zu einer ihrer nützlichen Wahrheit und Unternehmung geführet und gereitzet wird. Seinen Verstand gebrauchet man hierbey recht, wenn man  
 
(a) dieselbe nicht so schlechterdings, mit einer vermeynten übersichtigen Klugheit und eingebildeten Scharffsinnigkeit, verwirfft;
 
 
(b) Nicht, wie die alten Weiber mit ihren Träumen, damit umgehet, und gar zu hefftig darauf bauet;
 
 
(c) Sie sorgfältig von den andern Handlungen und Regungen der Seele unterscheidet, denn sie muß nicht aus einem vorhergegangenen Wissen und Wollen, sondern von ohngefähr, entstehen, aber auch nicht offenbahr mit der Vernunfft, (um so viel weniger aber mit der göttlichen Offenbahrung) streiten. Sie ist sonst bey den Thieren stärcker, als bey den Menschen; Bey den Dummen und Sterbenden an dem stärckesten, welche sie zuweilen (in natürlichen und irrdischen Dingen) zu Propheten macht.
 
  Wie diese Ahndungs-Wahrheiten von ohngefähr kommen, so haben wir dagegen zwey Wege vor uns, die Erkänntniß der Wahrheiten zu suchen. Es folgen dahero die Wahrheiten der gemeinen Erkänntniß, durch welche wir zu gemeinen Wahrheiten gelangen, die unmittelbarer Weise in die Sinne fallen, und dazu man weiter nichts gebrauchet, als Empfindung, Gedächtniß, und auf das Höchste die Dichtungs-Krafft; Denn obwohl die Beurtheilungs-Krafft und das scharffsinnige Nachdencken nicht ausgeschlossen wird, so kommt es doch auf dieselbe hier nicht hauptsächlich an. Z.E. Viele Menschen sehen die Sonne aufgehen, Finsternisse entstehen; wissen aber nicht zu sagen, warum dieses geschiehet.  
  Inzwischen sind die gemeinen Wahrheiten der Grund der  
  {Sp. 906}  
  gelehrten oder der Wahrheiten der Vernunfft- und gelehrten Erkänntniß, die durch scharffsinniges Nachdencken hergeleitet werden. Diese gründen sich auf den Verstand und auf die Beurtheilungs-Krafft. Z.E. Ein Stern-Kündiger kan demonstriren, warum und zu welcher Zeit die Sonne aufgehe, Finsternisse entstehen, weil er den Zusammenhang der Erde mit dem Himmel und die Himmlische Bewegung einsiehet.  
  Hierher gehören  
 
  • philosophische,
  • metaphysicalische,
  • physicalische,
  • moralische,
  • mathematische,
  • juristische,
  • medicinische,
  • theologische
 
  Wahrheiten, u.s.w. Ferner die Wahrheiten  
   
  Unsre Erkänntniß von allen diesen Dingen ist so wohl in Ansehung der eintzelnen Begriffe, als der gantzen Sätze und Schlüsse, zu prüfen, ob sie wahr oder falsch sey. In den Begriffen ist Wahrheit, wenn sie ihren Originalen, oder den Dingen, von welchen wir uns Begriffe machen, ähnlich sind: Denn alle Begriffe sind Vorstellungen, oder Bilder, der Dinge.  
  In den gantzen Sätzen aber bestehet die Wahrheit darinnen, daß die Begriffe, die unter den Worten liegen, eben so zusammen gehören, oder nicht, wie die Worte des Satzes solches andeuten. Z. E. Wenn ich mir die Tugend als eine Fertigkeit, nach dem Gesetze der Natur zu handeln, die Glückseligkeit aber als den Zustand eines beständigen Vergnügens vorstellte, und hernach sagte, daß die Tugend glücklich macht.  
  Gleichwie nun bey dieser Art Wahrheiten, die wir vermittelst der Sinne und der Vernunfft erkennen, jetztbesagte Klarheit der Sachen erfordert wird, so ist hingegen in solchen Wahrheiten, die wir vermittelst eines göttlichen oder menschlichen Zeugnisses erkennen, nur eine Klarheit des Zeugnisses vonnöthen. Und eben diese beyderley Klarheit und Deutlichkeit, und die daraus folgende Befriedigung unsers Verstandes, da uns die helle Wahrheit durch ihre Klarheit und Deutlichkeit, dergestalt in die Augen leuchtet, daß wir innerlich überzeuget werden, wenigstens nichts dawider mit Grunde einwenden können, machen eben die Kennzeichen der Wahrheit (CRITERIA VERITATIS) aus.  
  Eine Gattung wäre noch zu beobachten übrig, nehmlich die Wahrheiten der Offenbahrung; Da wir aber hiervon unter den Artickeln: Wahrheit (geoffenbahrte oder theologische) und Wahrheit (unbegreiffliche) handeln werden, wollen wir hier derselben nicht weiter, als nur in Ansehung ihrer Eintheilung, (als welche zu der Lehre von den Gattungen der Wahrheiten gehöret) gedencken.  
  Henricus Holden, ein Sorbonnischer Theologe, macht (in Analysi Fidei) vier Gattungen der Christlichen Wahrheiten  
 
1) Göttliche und Catholische Wahrheiten, welche unmittelbar in der göttlichen Offenbahrung gegründet sind:
 
 
2) Wahrheiten, so schlechterdings catholisch, und mit gemeiner Bewilligung der Kirche allezeit angenommen worden;
 
 
3) Canonische Wahrheiten, die durch allgemeine Concilien und durch Päbste bestätiget worden;
 
  {Sp. 907|S. 467}  
 
4) Theologische Wahrheiten, d.i. Folgerungen aus den Gründen der ersten und andern Gattung.
 
  Die erste Gattung hält er vor eigentlich so genannte Glaubens-Lehren.  
  Fridericus Nausea, ein Prediger zu Mayntz, setzet in Catholica in Symbolum Apostolicum, Mayntz 1529,… acht Gattungen der Theologischen Wahrheiten, deren eine immer geringer sey, als die andere. Nehmlich:  
 
1) Was in heil. Schrifft ausdrücklich stehe:
 
 
2) Was durch eine nöthige, augenscheinliche Folgerung (kata tēn dianian) darinnen stehe;
 
 
3) Was von den Aposteln, durch die Tradition, bis auf uns gekommen sey;
 
 
4) Was in den allgemeinen Concilien beschlossen ist;
 
 
5) Was der Römische Stuhl decidiret hat;
 
 
6) Was die Patres und andre Lehrer wider die Ketzer erstritten haben;
 
 
7) Was GOtt einer Privat-Person geoffenbahret hat; (worzu er Johannis Offenbahrung ziehet)
 
 
8) Was aus diesen allen, durch eine klare Folgerung, geschlossen wird.
 
  Wir halten aber billig vor Unrecht, daß unsre Gegner unsre Eintheilung der Theologischen Wahrheiten in Grund-Artickel, und in diejenigen, so solche nicht sind, unter mancherley Vorwande, verwerffen; welche doch weit besser und gründlicher ist.
  • Unschuld. Nachr. von 1706. …
  • Gründliche Auszüge aus Disputt B. VII. …
  • Meisners Philos. Lex. …
  • Bruckers Philos. Hist. Th. VII. …
  • Wolffs Gedank. von GOtt, Welt und Seele, Th. II. …
  • Leibnitzens Theodicaea ...
  • Gottscheds Gründe der Weltweißh. Th. …
  • Fabricii Logick …
  • Kemmerichs Acad. der Wissensch. Eröffn. …
  • Baumeisteri Philos. …
  Da wir unsere Gedancken auch durch Worte andern bekannt machen, so sehen wir, daß die Wahrheit der Rede, als welche in der Übereinkunft der Worte mit der Sache selbst bestehet, auch hieher gehöre.  
     

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Stand: 5. April 2013 © Hans-Walter Pries