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Zedler: Wesen [1] HIS-Data
5028-55-742-2-01
Titel: Wesen [1]
Quelle: Zedler Universal-Lexicon
Band: 55 Sp. 742
Jahr: 1748
Originaltext: Digitalisat BSB Bd. 55 S. 386
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Übersicht
Nothwendigkeit des Wesens der Dinge.
Endlichkeit des Wesens der Dinge.
Vorhergehung des Wesens der Dinge von dem Willen GOttes.

  Text   Quellenangaben
  Wesen, Essentz, Lat. Essentia. Hier siehet man entweder auf die gemeine Lehre, sonderlich der Scholasticker, oder auf die Sache selbst.  
  In den Schulen braucht man dieses Wort entweder in einer weitern oder engern Bedeutung, daß es nach der erstern nicht nur das Wesen, sondern auch die Existentz der Dinge anzeiget.
  • Hebenstreits philos. prima, p. 133.
  • Donat in metaphysic. usual. cap. 3. §. 8 p. 17.
  • Buddeus in philos. instrum. Part. IV, cap. 1. §. 6.
  Doch ist die letztere Bedeutung die gewöhnlichste, und braucht man offt als gleichgültige Wörter hier entitas, realitas, quidditas, esse, natura, ratio formalis, wiewohl sie zuweilen auch noch andere Bedeutungen haben, Scheiblers opus metaphysic. II, 25.
  Es nennen aber die Scholasticker die Essentz oder das Wesen primum veritatis conceptum, welche Worte auf eine gedoppelte Art können erkläret werden. Denn  
 
  • einmahl kans soviel heissen, daß das Wesen das erste sey, was sich von einem Dinge gedencken lässet, dahin auch die Beschreibung des Wesens, die Herr Wolff in seinen vernünfftigen Gedancken von GOtt, der Welt und der Seelen des Menschen c. 2. §. 34 p. 15 giebet, und wie wir weiter unten ausführlicher vortragen werden, gehet;
  • hernach aber können diese Worte auch die vornehmste Eigenschafft einer wahrhafften und würcklichen Sache, wodurch sie von allen andern unterschieden wird, anzeigen.
 
  Denn es ist bekannt, wie die Scholasticker den conceptum eintheilen  
 
  • in formalem, welches die Vorstellung selbst von einer Sache im Verstande sey;
  • und in objectivum, so die Sache davon sich der Verstand einen Begriff mache;
 
  und anbey das Wort primum, auch sonst so genommen werde, daß es so viel, als das vornehmste, wie bey den Alten die Metaphysick, prima philosophia, das ist, die edelste Disciplin der Philosophie, weil sie von GOtt handelte, hiesse.  
  In den Metaphysischen Büchern werden von der Essentz allerhand Canones angeführet, als  
 
1) essentiae rerum sunt aeternae, daß die Wesen der Dinge ewig seyn, welches soviel heissen soll, daß das Wesen einer Sache unveränderlich, so auch nicht anders seyn kan, und halten wir dafür, daß die Frage: Ob GOtt der HErr die Essentzen der Dinge verändern könnte? nichts nutze sey. Denn soviel ist ja gewiß, daß das Wesen einer jeden Sache, wie es GOtt bey der Schöpffung geordnet hat, nach seiner unermeßlichen Weisheit ist vorher von ihm erkannt worden, wie es hat werden sollen, welche Vorstellung wahrhafftig und vollkommen gewesen; wolte er nun die Essentzen der Dinge ändern, so bliebe es ja die Sache nicht mehr, die sie erst gewesen, auf welche Weise diese Regel ihren Grund hat.
 
 
  Aristoteles hat sonst die Essentzen der Dinge auch für ewig gehalten; allein in
 
  {Sp. 743|S. 387}  
 
  einem solchen Sinn, der weder mit der Gottesfurcht, noch Wahrheit bestehen kan. Denn bey ihm war das Wesen die Materie und die Form; Die Form hielt er für GOtt, folglich war die Materie gleich ewig mit ihm
 
 
2) essentia non recipit magis et minus, das ist, wenn das Wesen einer Sache bestehen soll, so muß weder was hinzu, noch davon kommen, weil sonst die Würckungen, die aus dem Wesen fliessen, würden verhindert werden, daß man folglich nicht wissen könnte; ob es diese, oder jene Sache sey. In zufälligen Eigenschafften aber hat das Gegentheil statt, da z.E. Sempronius gelehrter aber nicht so schön, als Titius ist, und demnach bleibet einer so gut ein Mensch, als der andere.
 
 
3) Sexus essentiam non mutat, d.i. der Unterscheid im Geschlecht macht keinen Unterscheid im Wesen, und ist also eine Frau eben so gut ein Mensch, wie der Mann,
 
  anderer Regeln zu geschweigen. Clauberg in ontosophia p. 292 opp. phil. und Clericus in ontolog. cap. 4 §. 3. u.ff.
  Diese Materie aber an sich selbst betrachtet, so erweget ein Philosoph die Essentz auf eine gedoppelte Art:  
 
  • einmahl in Abstracto an und vor sich, welche die metaphysische Betrachtung ist;
  • hernach im Concreto in Ansehung gewisser Sachen, deren Wesen man insonderheit untersuchet.
 
  Die metaphysische Essentz ist eine solche Eigenschafft, die von einer Sache mit einer Gewißheit kan gesaget werden, ohne welche sie diejenige nicht bliebe, die sie seyn solte, und also hat man einen Unterscheid unter der Substantz und der Essentz zu machen, welche die Alten, auch viele neuern vermischet, (siehe Substantz, im XL Bande, p. 1583 u.ff.) Denn die Substantz ist die im verborgen liegende Ursache, welche die Eigenschafften einer Sache würcket, die entweder zu ihrem Wesen gehören; oder nur zufällig sind, und solche empfinden wir unmittelbar, die Idee aber derer Substantz begreiffen wir nur vermittelst dieser Eigenschafften.  
  Daß also ein Mensch lebet und vernünfftig ist, empfinden wir unmittelbar aus seinen Verrichtungen; was aber die Ursache, woher solches komme? solches können wir sogleich nicht begreiffen, und wie das erstere zur Essentz gehöret, also geht das letzte die Substantz an. GOtt ist Urheber der Wesen aller Dinge, so daß das Wesen der natürlichen Dinge eigentlich von seinem Verstand, der moralischen aber von seinem Willen dependiret. Denn wie sich GOtt fürsetzte, die Welt zu erschaffen; so hatte er in seinem Verstand die Ideen aller Dinge, wie sie musten beschaffen seyn, welche Ideen wahr und zudem vorgesetzten Zweck hinreichend waren, daß nachdem er in der Zeit seinen Schluß zu Stande bringen, und die Welt erschaffen wolte, er nothwendig nach diesen Ideen, nach vorhergegangenem Schluß des Willens, alles erschaffen muste, auf welche Weise man auf gewisse masse sagen kan, daß GOtt sowohl causa libera, als necessaria der Wesen der Dinge sey, und zwar das erste, daß er die Sachen erschaffen; das andere aber, daß er die Geschöpffe nach den Ideen, die er gehabt, formiren müssen.  
  Man kan auch den bekannten  
  {Sp. 744}  
  Canonem; Essentiae rerum sunt aeternae in dem Verstand behaupten, daß sie in Ansehung des göttlichen Verstands und deren Vorstellungen in demselben ewig gewesen, woraus auch fliesset, daß sie unveränderlich, keinen Zusatz, noch Abgang haben, wovon ausführlich Buddeus in observat. in elementa philosoph. instrument. p. 496 u.ff. handelt.  
  Betrachtet man aber die Wesen der Dinge im Concreto, so theilet man selbige insgemein in natürliche, moralische und künstliche, von deren Wesen insgesammt GOtt eigentlich Urheber. Denn wie solches von den beyden erstern klar, indem das moralische Wesen auf das Gesetz beruhet, so seinen Ursprung von GOtt hat; also sind die Menschen bey allen ihren Erfindungen nur Affen der Natur, und suchen ihre Gedancken nach den Erfindungen GOttes einzurichten. Walchs Philosoph. Lex. p. 841 u.ff.
     
  Nothwendigkeit des Wesens der Dinge.  
  Das Wort: Nothwendigkeit, wird zwar in vielerley Verstande genommen; doch sind fürnemlich zwo Bedeutungen wohl zu unterscheiden.  
  Es ist erstlich eine Nothwendigkeit und Zufälligkeit in unserer Erkänntnis, welche man necessitatem praedicationis und consecutionis nennet, da wir nemlich einige Propositionen und Schlüsse unsers Verstandes vor nothwendige Wahrheiten erkennen müssen, einige vor nicht nothwendige, dahero die Lehre von den Modal-Propositionen und Schlüssen entspringet.  
  Es ist zum andern eine Nothwendigkeit der Dinge selbst, in Ansehung ihrer Existentz ausser dem Verstande.  
  Zu jener Art der Logicalischen Nothwendigkeit gehöret sonder Zweiffel auch die so genannte Nothwendigkeit des Wesens der Dinge, d.i. der allgemeinen Ideen, die unser Verstand von den Dingen abstrahiret: da nemlich die allgemeinen Logicalischen Abstracte, wie man das Wesen eines Dinges in Logicalischem Verstande nennet, allen individuis desselben, die da gewesen sind, jetzo sind, und noch seyn werden, nothwendig oder gewiß zukommen müssen, wenn auch die Welt so, wie sie ist, ewig gewähret hätte, und noch wären solte; In dessen Betrachtung die Scholasticker das Wesen der Dinge ewig und unveränderlich, und die dahin gehörige Wahrheiten ewige Wahrheiten genennet. Müllers Einleitung in die Philosophische Wissenschafften, II Th. p. 172.
     
  Endlichkeit des Wesens der Dinge.  
  Alle zufällige Dinge sind in Ansehung ihres Wesens endliche Dinge. Denn verstehen wir unter dem Wesen der Dinge das reale Wesen der Dinge, d.i. dasjenige, was würcklich in den Dingen existiret, wodurch wir eines von dem andern unterscheiden; so ist alles, was in einem Dinge würcklich existiret, zugleich mit demselben ein Effect, und also nicht von sich selber, folglich ein zufälliges Ding. Es hat also einen Anfang seiner Würcklichkeit, und ist, weil es von den würckenden Kräfften seiner Grund-Ursachen dependiret; seiner Natur nach eines Endes derselben fähig.  
  Aus eben diesem Grunde, weil nemlich das reale Wesen aller zufälligen Dinge nicht von ihnen selbst, son-  
  {Sp. 745|S. 388}  
  dern von ihren Grund-Ursachen dependiret, sind alle zufällige Dinge auch in so weit von umgrentztem Wesen, und also endliche Dinge, daß sie so viele, und nicht mehrere Realität oder Wesen haben können, als sie von ihren Grund-Ursachen überkommen: in dessen Betrachtung ihr Wesen in andern, in mehrern, in wenigern, in stärckern, in schwächern Kräfften oder Eigenschafften bestehen könnte, wenn solches ihre Grund-Ursachen also mit sich brächten; inmassen ein Effect, indem er hervorgebracht wird, durch die Kräffte seiner Grund-Ursachen sich muß determiniren lassen, und dasjenige in seinem Wesen nicht haben kan, was seine Grund-Ursachen in ihm nicht hervorbringen: Also ist auch das reale Wesen der zufälligen Dinge mit Nichtigkeit umgrentzet und folglich endlich.  
  Verstehen wir aber unter dem Wesen der Dinge die allgemeinen Ideen, die der menschliche Verstand von den Ideen der individuorum, oder eintzelnen Dinge abstrahiret, und sich dieselben, ohne ihre Reale Existentz in den individuis, überhaupt als nur möglich vorstellet, so ist zu erwegen, daß solche Abstraction eine Würckung des menschlichen Verstandes sey, welche in der That allezeit endlich ist, und ihre Grentzen hat.  
  Denn obgleich zuweilen unser Verstand in der Möglichkeit zu abstrahiren, und eines zu dem andern hinzu zuthun, keine Grentzen finden kan; dahin z.E. die von den Mathematicis behauptete Möglichkeit der Theilung einer Grösse in infinitum, ingleichen die Möglichkeit der Vermehrung derselben in infinitum gehöret, welches man das infinitum potentiale, daß dem reali entgegen gesetzet ist, nennet; so erhellet doch eben hieraus, daß ein solches Ding, oder vielmehr ein solches Abstractum des Verstandes, von dem allezeit und ohne Ende noch etwas abgetrennet, oder dem allezeit und ohne Ende noch etwas zugesetzet werden kan, in der That allezeit ein endliches Ding bleibe, der menschliche Verstand mag auch hinzu oder davon thun, was und wieviel er nur immer wolle; eben weil, wie wir setzeten, diese Hinzusetzung und Trennung niemahls in der That so weit getrieben werden kan, daß es dem menschlichen Gemüthe, nach seiner Freyheit, nicht noch weiter möglich seyn solte. Müllers Einleitung in die philosophischen Wissenschafften Th. II, p. 210 u.f.
     
  Vorhergehung des Wesens der Dinge von dem Willen GOttes.  
  Daß die Scholasticker davor gehalten, daß das Wesen der Dinge, und das in demselben gegründete natürliche Recht und Unrecht, auch selbst vor dem Willen GOttes als ein ewiges Gesetze vorhergehe; indem GOtt ein freyer Schöpffer aller Dinge nur in Ansehung ihrer Existentz, nicht aber auch ihres Wesens, und also auch nicht ein freyer Urheber des in dem Wesen der Dinge gegründeten Rechts oder Unrechts sey; ist ein altes Vorurtheil, das aus den grundlosen Lehren der Heyden von dem fato, und von einem, Gotte gleichewigen, unerschaffenen principio, durch welches die Formen der Dinge determiniret würden, und über dessen determinirte Möglichkeiten auch GOtt  
  {Sp. 746}  
  selbst nichts vermöge, seinen Ursprung zu haben scheinet; welches zu bemänteln, und den Schandfleck seines Ursprungs zu dißimuliren, die Scholasticker sich zwar sehr, aber vergeblich, bemühet haben.  
  Es ist wohl an dem, daß, was natürlicherweise recht oder unrecht ist, in dem Wesen der Dinge selbst, nemlich in dem Wesen der Vernunfft und ihrer Objecte, gegründet ist, allein es ist auch gewiß, daß, da GOtt ein freyer Urheber und Schöpffer der Vernunfft und aller Dinge; Die Schöpffung aber ein freyer Wille GOttes ist; das Wesen der Dinge, und das aus demselben natürlicher Weise fliessende Recht und Unrecht dem freyen Willen GOttes nicht entgegen gesetzet, sondern als ein freywillig hervorgebrachter Effect subordiniret werden müsse; und man also nicht sagen könne, daß das Wesen der Dinge, nebst dem darinnen gegründeten Recht oder Unrecht, vor dem Schöpffer der Dinge, d.i. der Effect vor seiner causa, sich antecedenter oder als vorhergehend verhalte.  
  Es würden auch solches die Scholasticker nicht gesaget haben, wenn sie nicht den heydnischen principiis ihres Aristotelis allzustrenge angehangen, welcher die Materie vor ein Gotte gleichewiges und von ihm gäntzlich independentes Ding hielt, ex cujus potentia formae tanquam essentiae rerum educantur: Deme zu Folge sie freylich sagen musten, daß das Wesen der Dinge schon von Ewigkeit, und antecedenter ad voluntatem Dei in der potentia der Materie der Möglichkeit nach, determiniret sey, und es also nicht schlechterdings bey der göttl. Freyheit gestanden, was vor Wesen die aus der Materie hervorzubringenden Dinge haben solten.  
  Die neuern Vertheydiger der Vorhergehung des Wesens der Dinge vor dem Willen GOttes, leiten zwar dieselbe nicht mehr aus diesen heydnischen Vorurtheilen her, durch welche die Alten verleitet worden, sie zu behaupten; sondern sie sagen, daß das Wesen oder die Möglichkeit der Dinge von den göttlichen Verstande, und nur die Existentz oder die Würcklichkeit derselben von den göttlichen Willen dependire; und daß also, weil der göttliche Verstand vor dem göttlichen Willen sich als vorhergehend verhalte, folglich auch das Wesen oder die Möglichkeit der Dinge sich als vor dem göttlichen Willen vorhergehend verhalte; Dahero sey das Wesen der Dinge ewig, weil es in dem göttlichen Verstande von Ewigkeit vorhanden, und würcklich zugegen gewesen, und nur die Existentz derselben, als die von dem göttlichen Willen dependire, zeitlich. Wolff, vernünfft. Gedanck. von GOtt, §. 975. 988. u.f. 994.
  Allein, an dieser Gedancke finden sich zweyerley auszusetzen;  
 
  • erstlich die Trennung des Wesens der Dinge von ihrer Existentz, als ob nemlich beyde zwey unterschiedene Dinge auch ausser dem menschlichen Verstande, der sie von einander abstrahiret, wären; immassen daß eine einen andern Ursprung haben soll, als das andere:
  • Zum andern der unrichtige Begriff des Verstandes und Willens GOttes, als ob nemlich auch diese zwey unterschiedene Dinge in dem göttlichen Wesen selbst wären, und der göttliche Verstand etwas, (nemlich das Wesen der Din-

    {Sp. 747|S. 389}

    ge) würcke, wozu der göttliche Wille nichts vermöge, als welcher auf den göttlichen Verstand dergestalt erst folge und von demselben dependire, daß, ehe der Wille GOttes einen Rathschluß, etwas zur Existentz zu bringen, fassen könne, der Verstand GOttes erst erkennen müsse, ob und wie es möglich sey; welches doch gar sehr nach dem anthropomorphismo schmecket. Denn der menschliche Wille, wenn er sich, etwas zu Wercke zu richten, determiniren soll, erfordert zwar ein Object, dessen Möglichkeit schon ausser ihm in der Natur der Dinge präexistire, welche Möglichkeit von den schon existirenden Dingen zu abstrahiren und vorher zu erkennen, ihm eben ein Verstand zugesellet und vorgesetzet ist.
 
  Und in den menschlichen Wercken, also ist es wahr, daß eine ausser dem Willen in der Natur vorher gegründete Möglichkeit schon da seyn müsse, ehe sie der menschliche Wille zur Würcklichkeit bringen könne: dieweil freylich der Mensch ein Object seiner Wercke haben muß, und sie nicht aus nichts erschaffen kan. Allein GOtt, als der Schöpffer der Dinge, findet nicht etwa schon das mögliche, sondern er machet möglich und zu einem Dinge, was vorher noch gar nichts oder ein Unding, und also auch noch keine Möglichkeit war: Denn er erschaffet die Welt aus nichts. Also da vor der Schöpffung ausser GOtt gar nichts war: und also auch nicht die Möglichkeiten oder species in abstracto der Dinge, die nun sind; Denn diese hat nachhero erst der menschliche Verstand von den würcklich existirenden Dingen oder individuis in Gedancken abstrahiret; (und wer wolte sagen, daß auch GOtt selbst, indem er habe erschaffen wollen, sich erst ich weiß nicht von was vor concretis die species oder generalen Möglichkeiten der Dinge abstrahiret habe:) so muß GOtt alles, was möglich ist, allererst möglich gemachet haben.  
  Und weil, etwas machen, eine That oder Würckung; GOtt aber in allen seinen Thaten oder Würckungen frey, (gleichwie hingegen der Mensch in den seinigen zum Theil umschräncket, und an die Möglichkeiten der Natur gebunden ist;) und das freye Thun oder Würcken GOttes wir uns als einen Willen GOttes vorstellen; so muß der Wille GOttes der Brunnquell nicht allein der Würcklichkeit, sondern auch der Möglichkeiten, oder specierum in abstracto, die wir Menschen uns nachhero von den würcklichen Dingen abstrahiren, seyn. Und also, da nach der Red-Art der Scholasticker die von der Würcklichkeit der Dinge abstrahirte Möglichkeit derselben das Wesen der Dinge heisset: so ist der Wille GOttes auch der Grund des Wesens der Dinge.  
  Gesetzt demnach, daß ein Heyde, den die Schöpffung aller Dinge aus nichts unbekannt war, und der also die Ewigkeit der Welt behaupten muste, nach diesem seinen Vorurtheile nur die Existentz derer individuorum vor zeitlich, das Wesen aber in abstracto der Dinge vor ewig halten muste: so siehet man doch nicht, wie einer, der obgedachte heydnische principia verwirfft, die conclusiones derselben beybehalten, und also die Schöpffung aller Dinge aus nichts, und doch zugleich die ewige Präexistentz  
  {Sp. 748}  
  des Wesens der Dinge vor der Schöpffung, und folglich vor dem Willen GOttes, ohne Wiederspruch behaupten könne.  
  Wenn die innerliche Nothwendigkeit des natürlichen Rechts oder Unrechts nur hypothetice oder Bedingungsweise behauptet würde, also nemlich, daß gesetzt, daß GOtt das menschliche vernünfftige Wesen, und das Wesen der andern Dinge, so, wie es ist, würcklich hergestellet, gewisse menschliche Thaten durch eine innerliche, in dem Wesen menschlicher Thaten selbst gegründete Nothwendigkeit recht oder unrecht seyn müssen; so hätte wohl niemand Ursache das geringste darwider einzuwenden: immassen man eine innerliche natürliche Nothwendigkeit, die nicht ein vor GOttes Willen vorhergehendes, sondern ein von GOtt erschaffenes, und also von GOttes Willen dependirendes Wesen der Dinge zum Grunde hat, selbst behauptet.  
  Denn da GOtt diese Natur der Dinge, und in derselben die menschliche, nach seinem Willen nun einmahl hergestellet: so ist freylich nicht möglich, daß er zugleich etwas derselben widersprechendes wollen könne. Und so weit kan man allerdings mit Grotio L. I, c. 1. §. 10. sagen: Quod actus jure naturali praecepti aut prohibiti sint debiti aut illiciti per se, atque ideo a Deo necessario praecepti aut vetiti intelligantur: quodque jus naturale adeo immutabile sit, ut ne a Deo quidem mutari queat.  
  Denn daß Grotius allhier nicht eine absolute Nothwendigkeit verstanden, sondern eine hypothetische; die die Bedingung, daß GOtt Vernunfft und Natur so, wie sie ist, erschaffen, voraussetzet, ist aus seiner unmittelbar vor dem angeführten Satze vorhergehenden Definition des natürlichen Rechts, aus welcher er solchen Satz schliesset, gar deutlich zu erkennen; Jus naturale est dictamen rectae rationis, indicans, actui alicui, ex ejus convenientia aut disconvenientia cum ipsa natura rationali, inesse moralem turpitudinem aut necessitatem moralem, ac consequenter ab autore naturae Deo talem actum aut vetati praecipi.  
  Wenn demnach gefraget wird, warum eine menschliche That vor an sich selbst recht oder unrecht zu halten sey? so ist nach dieser Definition des Grotii zu antworten; weil sie mit dem Wesen des Menschen, als einer vernünfftigen Creatur, übereinkommet, oder ihm zuwider ist. Wenn man ferner nach dem Ursprunge dieser vernünfftigen Natur des Menschen zu fragen fortfähret: so antwortet Grotius, sie sey, und mit ihr alles aus ihr folgende Recht und Unrecht, ab autore naturae Deo.  
  Will man noch weiter ausgrübeln, warum doch Gott diese Creatur, die wir nun, da sie da ist, einen Menschen nennen, vernünfftig oder zu einem Menschen erschaffen; so antwortet der Scholasticker wie er es aus den Heydnischen principiis seines Aristotelis gelernet; weil das Wesen der Dinge, und also auch, das vernünfftige Wesen des Menschen, ewig ist, und also Gott das Wesen des Menschen nicht anders, als wie es schon vorher von Ewigkeit antecedenter ad voluntatem Dei gewesen, zur Existentz in den individuis der Welt hat bringen  
  {Sp. 749|S. 390}  
  können: und daraus schließt er, daß also, was in den menschlichen Thaten recht oder unrecht ist, nicht durch GOttes Willen, sondern antecedenter ad voluntatem Dei recht oder unrecht sey.  
  Wir aber sagen, daß, weil der Wille, d.i. die freye That GOttes, durch welche er alle Dinge, und unter denselben die menschliche Vernunfft selbst, erschaffen, das schlechterdings erste Principium aller Dinge ist, also unsere Vernunfft über GOtt, als den Schöpffer aller Dinge, nicht weiter hinaus könne; und daß also Leute, denen GOttes Wille oder die Schöpffung, noch nicht ein gnugsam erster Grund aller Dinge zu seyn bedüncket, in einer Stunde mehr fragen können, als von ihnen selbst und von andern jemahls mit Grunde kan beantwortet werden. Müllers Einleitung in die Philosophischen Wissenschafften, Th. II, p. 346. u.ff.
     

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Stand: 7. April 2013 © Hans-Walter Pries